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True Story Award 2021

202499

Der israelische Künstler Gal Wertman ließ sich vor 17 Jahren die letzte Nummer auf den Arm tätowieren, die je einem Menschen im Konzentrationslager Auschwitz gestochen worden war – im Gedenken an alle Opfer des Holocaust.
Aber Wertman ahnte nicht, wessen Nummer er trägt

Als ich aufhöre zu sprechen, vergräbt Gal Wertman sein Gesicht in den Händen. So sitzt er da, minutenlang. Als hätte der Schreck ihn versteinert. 
»Hätte ich es dir nicht sagen sollen?«, frage ich. Wertman sieht auf. Sein Blick ist leer. Es wirkt, als hätte der 52-jährige Mann vergessen, wer er ist.
Ich kenne Gal Wertman seit sieben Jahren. Das heißt, eigentlich kenne ich ihn nicht wirklich. Bevor wir uns im Juni 2019 zum ersten Mal treffen, habe ich nur ein einziges Mal mit Wertman telefoniert. Ende 2012 rief ich ihn an, weil ich ihn interviewen wollte. Wertman sagte Nein, und damit hätte unsere Geschichte zu Ende sein können. 
Ich lebte damals in Jerusalem und schrieb einen Artikel über die Enkel von Holocaust-Überlebenden. Zu jener Zeit gab es in Israel einen Trend: Junge Juden ließen sich die Nummern auf den Arm tätowieren, die ihren Großeltern im Konzentrationslager gestochen worden waren. So wollten sie sich daran erinnern, was die Nazis ihren Familien angetan hatten. 
Ich fand das befremdlich. Doch je mehr Interviews ich führte, desto besser verstand ich die Beweggründe der jungen Israelis. Die Enkel wollten, dass das Leid ihrer Großeltern niemals vergessen wird. Die KZ-Nummern sind ein Symbol dafür, dass die Erinnerung an den Holocaust nicht sterben darf. Ich traf einige der Enkel und einmal auch einen Großvater, der die gleiche Nummer trug. Und ich stieß auf Gal Wertman. 
Wertman war damals Kreativdirektor bei Haaretz, einer der größten Tageszeitungen in Israel. Und er war Künstler, so wie er es heute noch ist. In einem Artikel über Wertman las ich, er sei der Sohn von Holocaust-Überlebenden und habe sich zum Gedenken an seine Familie eine Ziffernfolge tätowieren lassen. Aber Wertman wählte nicht die Registrierungsnummer seiner Eltern oder Großeltern, sondern eine symbolische Zahl: Vor etwa 17 Jahren ließ er sich die letzte Nummer stechen, die im Konzentrationslager Auschwitz tätowiert wurde. Die Zahl auf Wertmans Arm lautet 202499. Sie wurde am 18. Januar 1945 gestochen, neun Tage bevor die Rote Armee das Lager befreite.
Als ich Wertman 2012 anrief, erzählte er, er habe mit der Nummer an alle ermordeten Juden erinnern wollen. Die Tätowierung sollte ein Symbol sein für den Schmerz, den sein Volk erleiden musste. Unser Volk. Ich bin Jüdin, genau wie Gal Wertman. Doch Wertman wollte nicht öffentlich über seine Nummer sprechen. Ein paar Tage nach unserem Telefonat sagte er mir ab. Die Tätowierung sei eine private Entscheidung gewesen und gehöre nicht in einen Artikel. Doch ich konnte Gal Wertman und die Zahl auf seinem Arm nicht vergessen.
Wertman hatte sich die letzte Auschwitz-Nummer stechen lassen, ohne zu wissen, wem sie gehörte. An Wertmans Stelle hätte ich alles getan, um herauszufinden, wessen Nummer ich durch mein Leben trage. Aber Wertman hatte sich bewusst nie danach erkundigt. Die Ziffern auf seiner Haut sollten ein Mahnmal für alle Holocaust-Opfer sein, nicht für einen konkreten Menschen. Der Holocaust ist ein Völkermord ohne historischen Vergleich. Die Juden sollten ausgerottet werden: Das Ziel der Nazis war, dass Gal Wertman und ich nie geboren werden. Es gelang ihnen nicht, aber rund sechs Millionen Juden wurden zwischen 1933 und 1945 ermordet. Das entsprach damals einem Drittel der jüdischen Weltbevölkerung. 
Wie gedenkt man eines solchen Ereignisses? Wie kann man verhindern, dass es sich wiederholt? Darüber herrscht Uneinigkeit, auch unter Juden. Einige plädieren dafür, sich möglichst viel mit den Opfern zu beschäftigen. Andere stellen die Gründe und Bedingungen, die zu Hitlers Aufstieg führten, in den Vordergrund. Wieder andere finden, dass es genug sei mit den Leidensgeschichten und dass wir endlich nach vorn blicken sollten. Mein Artikel über die Tätowierungen der Holocaust-Enkel erschien 2013. Gal Wertman tauchte nicht darin auf. Ich verließ Israel und zog nach Berlin. Ich hatte kaum jüdische Freunde, die Vergangenheit spielte für mich keine große Rolle. Sollten andere die Erinnerung wachhalten, dachte ich. 
Aber das Telefonat mit Gal Wertman ließ mich nicht los. Immer wieder kam mir die Nummer in den Sinn, die er auf seinem Arm trägt. »Man muss die Vergangenheit suchen, um sie nie mehr zu vergessen«, schrieb ich als Jugendliche in den Abschlussbericht meiner Studienfahrt. Wir hatten die Gedenkstätte des ehemaligen KZs Auschwitz besucht. Ich beschloss, die Vergangenheit zu suchen.

Im Juni 2017, fünf Jahre nach unserem ersten und bis dahin einzigen Gespräch, setze ich eine E-Mail an Wertman auf. Ich schreibe, dass mich die Erinnerung an die Tätowierung verfolgt. Dass ich mich frage, wem sie damals, am 18. Januar 1945, in Auschwitz gestochen wurde. 
Was wurde aus diesem Menschen? Ist er tot? Oder gibt es zwei Personen, auf deren Armen die Zahl 202499 prangt – einen Holocaust-Überlebenden und Wertman? 
Ich schreibe Wertman: »Bitte lass mich wissen, falls du jemals den Wunsch verspürst herauszufinden, wem die Nummer gehörte.« Ich lese die Mail erneut. Dann drücke ich auf Senden. Heute wünschte ich manchmal, ich hätte es nicht getan. 
Gal Wertman ist ein Mensch, der stille Trauer ausstrahlt. Seine Stimme ist ruhig und tief, er lacht selten. Wertman spricht so langsam, als müsse er über jedes Wort nachdenken, und trotzdem sagt er wenig. 
Bis er ein Jugendlicher war, wusste Wertman nicht, dass seine Familie den größten Massenmord der Menschheitsgeschichte überlebt hatte. Er war etwa 14 Jahre alt, als er davon erfuhr. Seine Lehrerin in der Schule sprach über den Holocaust, doch Wertman stellte noch keinen Bezug zu seinen Vorfahren her. Kurz darauf fragte ihn seine Großmutter Fania, was er gerade im Unterricht durchnahm. Als Wertman antwortete, liefen seiner Oma Tränen über das Gesicht. Es war das erste und einzige Mal, dass er sie weinen sah. 
Wertmans Großeltern, sein Vater und sein Onkel haben den Einmarsch der Nazis in Polen überlebt. Seine Oma, so erzählte sie es Wertman an jenem Tag, konnte sich nur retten, weil sie kurz vor der Deportation in einen nahe gelegenen Wald floh. Sie und ihre beiden kleinen Kinder – Wertmans Vater und sein Onkel – hielten sich jahrelang in einem Erdloch versteckt, bis ihr Heimatland befreit wurde. Der Rest der Familie wurde ermordet. Eine Aufzeichnung darüber gibt es nicht. Die Erinnerung der Überlebenden ist der einzige Beweis, dass sie jemals existierten. 
Wertman sagt, er habe immer geahnt, dass mit seiner Familie etwas nicht stimmt. Wenn er seine Großeltern besuchte, fiel ihm auf, dass sie einander niemals berührten. Sein Vater, ein Künstler wie Wertman selbst, malte Bilder, auf denen ihn dunkle Geister im Schlaf heimsuchten. Wenn er sich die Gemälde anschaute, wurden die Augen seines Vaters manchmal leer, als trete er heraus aus der Welt und hinein in etwas, das Wertman nicht sah. »Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert sein muss«, sagt Wertman. »Aber ich wusste nicht, was.« 
Als Wertmans Großmutter ihm an jenem Nachmittag gegenübersaß und weinte, bekam die Katastrophe einen Namen. Und in Wertman, so sagt er es, breitete sich eine Trauer aus. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, von dem er gar nicht wusste, dass er es besaß. »So blieb es, jahrelang«, sagt Wertman. »Bis ich mir die Nummer tätowieren ließ.« 
All das weiß ich nicht, als ich Wertman anbiete, den Ursprung der Zahl zu recherchieren. Wertman weiß auch nichts über mich. Er wird später sagen, er habe meine Nachricht als Zeichen gedeutet. Als Wink der Welt, die ihm etwas mitteilen wollte. 
»Vielleicht«, schreibt er mir, »ist jetzt der Zeitpunkt, auf die Reise zu gehen und nach der Person zu suchen, deren Nummer ich trage.« Ich habe nicht geglaubt, dass Wertman zustimmt. Aber ich denke mir: Das ist schnell gemacht. Ich stelle mir vor, dass ich herausfinde, wessen Nummer sich Wertman hat tätowieren lassen, und dass die Person noch am Leben ist. Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild, wie Wertman und der Träger der Nummer sich treffen und in die Arme fallen. Ich glaube, eine gute Tat zu vollbringen. Ich bin hoffnungsvoll und naiv.

Ich stelle eine Anfrage an den International Tracing Service, ein Dokumentationszentrum, das Originaldokumente aus dem Holocaust verwaltet: Wer trug die Nummer 202499? Und ich lese alles, was ich über das Thema finden kann. Ich erfahre, dass die Nummern zunächst auf die Brust der Häftlinge gestanzt, später auf ihre Unterarme gestochen wurden. Dass nur ein kleiner Teil aller KZ-Insassen eine Nummer erhielt. Die meisten gingen ins Gas, ohne vorher irgendwo registriert zu werden. 
Dieser Umstand führt dazu, dass Wertmans Nummer, die an den Holocaust erinnern soll, von manchen Menschen benutzt wird, um den Massenmord der Nazis zu verharmlosen: Wenn die letzte gestochene Nummer 202499 war – wie können in Auschwitz dann mehr als eine Million Menschen umgebracht worden sein? Das ist einer der Gründe, warum ich mich später entscheide, meine Recherche niederzuschreiben. Wertmans Nummer soll nicht dazu dienen, die Toten zu diffamieren. 
Der International Tracing Service schickt mir eine E-Mail. »Vielen Dank für Ihre Anfrage. Eine Recherche hat ergeben, dass die Häftlingsnummer 202499 Engelbert M. im KZ Auschwitz eintätowiert wurde.«
M., erfahre ich, verbrachte mehr als vier Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Er war kein Jude, sondern ein sogenannter Berufsverbrecher. So wurden Menschen genannt, die wiederholt gegen Gesetze verstießen und daher von den Nazis in »Vorbeugungshaft« genommen wurden. 
Wie wird Wertman reagieren, wenn er erfährt, dass der Mann, dessen Nummer er trägt, gar kein Jude war? Ich schicke ihm alle Dokumente, die mir der ITS zur Verfügung gestellt hat. Wertman schreibt, er wisse noch nicht, ob er sie öffnen will. Er werde sich melden, wenn er es getan habe. 
Wochen vergehen. Wertman meldet sich nicht. Und ich frage mich: Hat jener Mann überlebt? Wofür war er im KZ? Und was würde er sagen, wenn er wüsste, dass Wertman seine Nummer auf dem Arm trägt? 
Ich bitte Wertman um Erlaubnis, weiter zu recherchieren. Er stimmt zu. Über die Jahre habe er oft über den Träger der letzten Nummer und dessen Familie nachgedacht, schreibt Wertman. »Bitte such weiter. Ich schreibe dir, wenn ich die Dokumente geöffnet habe.« Danach höre ich viele Wochen nichts von Wertman. Vielleicht hat er Angst vor dem Ergebnis. Davor, dass das namenlose Symbol auf seinem Arm plötzlich für einen realen Menschen steht. 
Auch ich habe Angst. Ich beginne mich vor der Antwort auf meine eigene Frage zu fürchten: Wer war Engelbert M.? Die Papiere des ITS besagen, dass M. am 15. Januar 1945 in einem Einzeltransport nach Auschwitz gebracht wurde. Drei Tage lang war er dorthin unterwegs. Als er am 18. Januar ankam und tätowiert wurde, löste sich das Lager bereits auf. Die Rote Armee rückte immer näher, die Todesmärsche hatten schon begonnen. Warum bringt man einen Häftling zu diesem Zeitpunkt nach Auschwitz? Die Nazis wussten, dass sie das KZ bald würden aufgeben müssen. Wenn sie M. umbringen wollten, warum unbedingt dort? Wofür wurde M. so kurz vor Kriegsende in Auschwitz gebraucht?

Wenn der Holocaust ein Erdbeben war, dann war Auschwitz sein Epizentrum. Auf vierzig Quadratkilometern, der Fläche einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt, wurden binnen weniger Jahre mehr als eine Million Menschen umgebracht. Es gab in Auschwitz Experimente an Menschen, Folter, Vergewaltigung, Kannibalismus. Jakow Wintschenko, ein Soldat der Roten Armee, der das Lager befreite, sprach beim Anblick von Auschwitz vom »Ende der Menschlichkeit«. 
Wertmans Familie starb wohl nicht in Auschwitz, sondern wahrscheinlich im Konzentrationslager Belzec. Seine Großeltern stammten aus der polnischen Stadt Łaszczów, einem Ort mit rund 2500 Einwohnern, die meisten waren Juden. Fast alle wurden deportiert und kamen um. 
Wertmans Großmutter entkam dem Transport ins KZ. Im Wald, in den sie mit ihren Söhnen geflohen war, aßen sie Gras und tranken Tau, der sich auf den Blättern der Bäume gesammelt hatte. Sie überlebten, weil Partisanen und Anwohner sie ab und zu mit Lebensmitteln versorgten. 
Das Bild verfolgte Wertman. Als Student stand er manchmal im Supermarkt und musste plötzlich an seine Großmutter denken. Er sah Fania vor sich, wie sie in einem Erdloch vegetierte, und eine ziellose Wut stieg in Wertman auf. Das Gefühl verschwand nicht, als Wertman heiratete, und auch nicht, als seine Tochter geboren wurde. Wertman empfand einen Phantomschmerz, den er nicht zu lindern wusste. 
Wertman begann, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. Er las jedes Buch, das er dazu fand, sah sich nächtelang Dokumentationen an. An den Wochenenden fuhr er nach Jerusalem in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und streifte stundenlang durch die Flure. Wertman sah Bilder von Verfolgung und Deportation, von Gemeinden, die ausgelöscht wurden. Trotz des Grauens spürte Wertman, wie er zur Ruhe kam. »Es war ein Ort, an dem ich trauern konnte«, sagt er. Trauern um Menschen, die er nie gekannt hat und die er trotzdem schmerzlich vermisste.
Wertmans Großeltern haben nie um ihre toten Verwandten getrauert. Als sie in den Fünfzigerjahren nach Israel emigrierten, war das Land gerade gegründet worden. Israel war ergriffen von einer Aufbruchsstimmung. Damals wollte kaum jemand die Geschichten der Überlebenden hören. Also schwiegen sie. 
Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich Israels Umgang mit dem Holocaust gewandelt. Aus Verdrängung wurde Allgegenwart. »Seit Beginn der Achtzigerjahre ist kaum ein Tag vergangen, an dem der Holocaust nicht in einer der Tageszeitungen erwähnt wurde«, schreibt der israelische Historiker Tom Segev. »Er ist das beherrschende Thema in Literatur und Dichtung, Theater, Kino und Fernsehen.« Es gibt Klassenfahrten nach Auschwitz, Tausende Wehrdienstleistende besuchen jedes Jahr die Gedenkstätte. Ich kenne Israelis, die nicht in deutsche Züge steigen. Sie sagen, es sei zu schmerzhaft. 
Mir, die in Deutschland aufwuchs, ist das oft zu viel. Ich bin allergisch gegen Pathos. Aber ich habe niemanden im Holocaust verloren und deshalb nicht das Recht zu urteilen. Ich will niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu gedenken hat. 
Gal Wertmans leise Art ist mir sympathisch. Monatelang grabe ich nach der Lebensgeschichte von Engelbert M., dem Mann, der die Nummer 202499 bekam. Ich hoffe immer noch, dass ich eine versöhnliche Geschichte finde. 
Ich frage Historiker, Archive und Gedenkstätten an. Ich finde heraus, dass M. ein schwer erziehbarer Jugendlicher war, der wegen Diebstählen auffiel. Als Wiederholungstäter kam M. im Oktober 1940 ins KZ Dachau, dann nach Buchenwald, Lublin und Mauthausen. Zuletzt brachte man M. nach Auschwitz. Eines Abends stoße ich bei meiner Suche auf das Gemeindeblatt eines Dorfes. Dazu ein Geburtstagsgruß: Für Engelbert M., zum 90. Geburtstag. Der Mann, dessen KZ-Nummer Gal Wertman trägt, hatte Auschwitz überlebt.

Etwa 15 Jahre zuvor hatte Gal Wertman in Haifa seine Großmutter begraben. Als sie Mitte der Neunzigerjahre starb, wurde Wertmans Schmerz noch größer. Seine Familie schwand, schon wieder. 
Wertman wollte etwas dagegen tun, aber er wusste nicht, was. Er fühlte sich hilflos, weil er die Zeit nicht aufhalten konnte. Weil die Vergangenheit sich nicht konservieren lässt. Weil Erinnerung vergeht. 
Irgendwann um die Jahrtausendwende wachte Wertman eines Morgens mit einem Gedanken auf: Ich will die letzte KZ-Nummer finden. Und ich will sie für immer bei mir tragen, auf meinem Arm. Wertman fragte in Yad Vashem nach der letzten Zahl, die gestochen wurde. Die Archivare schickten ihm daraufhin die Nummer 202499 . Es ist die Zahl, von der ich heute weiß, dass Engelbert M. sie bei seiner Registrierung bekam. 
Ich wende mich an die Verwaltung des Dorfs, das das Gemeindeblatt herausgibt. Dort sagt man mir, M. sei vor wenigen Jahren gestorben. Er hat nie erfahren, dass ein Mann in Israel die gleiche Nummer trägt wie er.
Ich mache M.s Familie ausfindig. Ich schreibe ihnen mehrere Briefe, auf die nie eine Antwort kommt. Ich finde die Telefonnummer des Sohnes von M. heraus, doch er nimmt nie ab. Seine Enkelin antwortet mir schließlich auf Facebook, dass die Familie meine Recherche nicht unterstützen will. Bis heute möchten sie nicht mit mir oder Wertman sprechen. 
Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich ahnen können, dass meine Suche kein schönes Ende nehmen wird. Dass die Nummer auf Wertmans Arm an etwas erinnert, das aus gutem Grund vergessen wurde. 
Warum kam M. so spät ins KZ? Wie hat er überlebt? Ich frage Fachleute, prüfe Datenbanken, in denen Kriegsgefangene verzeichnet sind. Ich finde – nichts. Kein Hinweis auf den letzten Häftling und sein Schicksal. 
Dann stoße ich auf das Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, ein Buch der polnischen Historikerin Danuta Czech. Es umfasst mehr als tausend Seiten und beschreibt detailliert, was in Auschwitz an jedem Tag seiner Existenz geschah. Auf Seite 969 ist M.s Ankunft erwähnt. »Er erhält die Nummer 202499. Es ist die letzte Nummer, die im KL Auschwitz an einen Häftling ausgegeben wird.« Zu diesem Satz gibt es eine Fußnote. Fast übersehe ich die kleinen Buchstaben am Ende der Seite. »Dieser Häftling wird in das KL Auschwitz überstellt, um ihn in die SS Sondereinheit Dirlewanger einzugliedern.« 
Ich frage mich: Wer oder was ist Dirlewanger?

202499. Gal Wertman hatte lange über die Zahl nachgedacht, bevor er sie sich tätowieren ließ. Er wollte nicht wie ein Verrückter erscheinen, der nicht mit der Vergangenheit abschließen kann. »Aber die Vergangenheit ist Teil dessen, wer ich bin«, sagt er. Mehrere Wochen lang suchte er nach einem passenden Tattoo-Studio. Jeden Tag nach der Arbeit klapperte Wertman Läden in Jerusalem und Tel Aviv ab. Manche Tätowierer weigerten sich. Dass ein Jude einem anderen Juden eine KZ-Nummer stechen soll, schien ihnen makaber. 
Doch in einem Shop im Zentrum von Tel Aviv wurde Wertman fündig. Hinter dem Tresen stand ein junger Israeli, dunkelhaarig, gebräunt. Es werde anstrengend, sagte der Mann. Aber er wolle es versuchen. 
Wertman erinnert sich, dass die Hand des Tätowierers zitterte, als er mit der Arbeit begann. Nach der zweiten oder dritten Ziffer setzte der Mann die Nadel ab und fing an zu weinen. 
»Es war, als wären wir in eine Zeitmaschine gestiegen«, sagt Wertman. »Wir konnten beide fühlen, was unsere Vorfahren gefühlt hatten. Aber dieses Mal hatten wir die Kontrolle. Wir hatten es selbst so entschieden.« Als die Nummer fertig war, betrachtete Wertman sie und fühlte sich seiner Familie näher als je zuvor.
Wertman hatte die Tätowierung nur für sich stechen lassen, aber im Supermarkt oder an der Bushaltestelle erzählten Fremde ihm nun von ihren toten Familien. Manche fielen ihm um den Hals. Eine alte Frau sah sich die Tätowierung lange an und sagte: »Ich kenne Sie gar nicht aus Auschwitz.« Die wenigsten fragten Wertman nach dem Ursprung der Nummer: Sie gingen davon aus, dass sie Wertmans Eltern oder Großeltern gehört hatte.
»Dieser Häftling wird in das KL Auschwitz überstellt, um ihn in die SS Sondereinheit Dirlewanger einzugliedern.« Als ich den Hinweis auf Dirlewanger entdecke, ist es Ende 2018. Ich habe den Namen noch nie gehört. 
Oskar Dirlewanger war ein Steuerberater, der zu einer Nazi-Größe aufstieg. Dirlewanger, ein verurteilter Kinderschänder, formierte ab 1940 eine Truppe, die schlimmste Kriegsverbrechen beging. Die »SS-Sondereinheit Dirlewanger« plünderte unter anderem das Ghetto von Lublin, erschoss Juden und Partisanen. Die Brigade war maßgeblich an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt, bei dem 1944 200 000 Zivilisten starben. Dirlewanger selbst soll mit Freunden Jüdinnen ausgepeitscht haben, bis diese blutend zusammenbrachen. Die Einheit war so brutal, dass sich selbst andere SS-Stellen über sie beschwerten.
Anders als die regulären SS-Einheiten bestand die Dirlewanger-Truppe nicht aus »elitären Nationalsozialisten«, sondern aus Kriminellen. Der SS-Chef Heinrich Himmler ließ zunächst verurteilte Wilderer für die Einheit rekrutieren. Ab Juli 1942 kam eine neue Kategorie hinzu: Aus den Konzentrationslagern wurden Männer ausgesucht, um in der Einheit zu kämpfen. Darunter waren politische Häftlinge, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«. So wie Engelbert M. 
M., lese ich in den Originaldokumenten, die ich aus Auschwitz angefordert habe, kam in das KZ, um von dort an die Dirlewanger-Einheit überstellt zu werden. Das sagte der Mann aus, der für die Registrierung der Häftlinge zuständig war. Ob M. sich für die Dirlewanger-Einheit freiwillig meldete oder gezwungen wurde, ist unklar. Einige Häftlinge, die später für Dirlewanger kämpften, sagten aus, bei ihrer Überstellung nicht gewusst zu haben, dass sie Teil der SS werden sollten. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, warum M. dieser Einheit zugeteilt wurde. Nur dass er im Januar 1945 zu ihr stoßen sollte. 
Die Nummer 202499, die Gal Wertman auf seinem Arm trägt, um seiner toten Familie zu gedenken – sie gehörte einem Mann, der wohl Teil einer berüchtigten Einheit der SS war.

Eine jüdische Weisheit besagt: »Vergessen verlängert das Exil. In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.« 
Gal Wertman wurde erlöst, als er sich die Tätowierung stechen ließ. Er fand einen Weg, den Verlust seiner Familie zu verarbeiten. Und nun soll ich ihm sagen, dass die Tätowierung einem mutmaßlichen Angehörigen der SS gehörte? Einem Mann, der wahrscheinlich Teil einer Einheit wurde, die Tausende Unschuldige – darunter Juden – ermordet hatte? 
»Erzähl es ihm nicht«, sagt ein Freund. »Lass ihm seine Illusion.« – »Es ist deine Pflicht, es zu sagen«, meint ein anderer. »Wertman hat ein Recht darauf.« 
Ich versuche, mehr über die letzten Monate der SS-Einheit Dirlewanger zu erfahren. Vielleicht stellt sich ja heraus, dass M. gar nicht an Verbrechen beteiligt war.
Die Informationen sind dürftig. In den letzten Kriegsmonaten herrschte Chaos in Deutschland. Es gibt kaum Aufzeichnungen, Papiere sind vernichtet oder wurden gar nicht erst erstellt. Bekannt ist, dass die Truppe sich Anfang 1945 an der Zerschlagung eines Aufstands in der Slowakei beteiligte. Von dort schickte man sie zurück nach Deutschland. Im April 1945 wurde der Rest der Einheit in Brandenburg eingekesselt und von russischen Soldaten gefangen genommen. 
Das wurde M. nicht. Stattdessen taucht sein Name in den Akten französischer Kriegsgefangener auf: Im Mai 1945 wurde in Süddeutschland ein Mann namens Engelbert M. registriert. Das Geburtsdatum stimmt nicht mit dem von M. überein. Doch andere Informationen wie der Name seiner Mutter, der in den Papieren angegeben ist, deuten darauf hin, dass es sich tatsächlich um M. handelt. In derselben Gegend war kurz zuvor ein anderer Mann aufgegriffen worden: Oskar Dirlewanger. 
Und noch etwas ist auffällig. Laut den französischen Dokumenten gab M. bei der Gefangennahme an, Teil einer Wehrmachtseinheit zu sein. Ein Historiker, den ich um Rat frage, vermutet, dass ein Teil der Dirlewanger-Truppe sich vor Kriegsende absetzte, nach Süden durchschlug und unterwegs in französische Gefangenschaft geriet. Möglicherweise hätten die Männer vorgetäuscht, Wehrmachtssoldaten zu sein, um ihre Zugehörigkeit zur SS zu verschleiern. 
Nach dem Kriegsende wollte niemand mehr mit der SS-Einheit Dirlewanger in Verbindung gebracht werden – so bekannt und verhasst war sie. Auch Dirlewanger selbst versuchte, die Vergangenheit zu verheimlichen. Es gelang ihm nicht. Im Juni 1945 erkannten ihn wohl einige seiner Mitgefangenen. Dirlewanger wurde kurz darauf erschlagen, von wem, ist ungewiss. 
M. wurde nach mehreren Monaten in Kriegsgefangenschaft entlassen. Er kehrte in seine Heimat zurück und führte bis zu seinem Tod ein unbescholtenes Leben. Er heiratete zweimal, bekam zwei Kinder, arbeitete in einer Stahlfirma. In M.s Dorf weiß wohl niemand von seiner KZ-Vergangenheit: Offenbar hat er Auschwitz oder Dirlewanger nie erwähnt. Aus Scham? Schuld? Ich weiß es nicht. Seine Verwandten wollen nicht mit mir sprechen. Man solle die Toten ruhen lassen, schreibt M.s Enkelin mir nur.
Am liebsten würde ich genau das tun. In jenen Monaten wünsche ich mir, ich hätte die Recherche nie begonnen. Ich wünschte, ich müsste nicht entscheiden, ob ich Wertman die Wahrheit sagen oder für immer schweigen soll.
Papiere lassen sich verbrennen. Beweise lassen sich vernichten. Aber was man einmal gehört hat, kann man nicht absichtlich vergessen. Wenn ich Wertman erzähle, woher seine Tätowierung stammt, muss er mit diesem Wissen leben. Ich schlafe schlecht in jenen Wochen. 
Irgendwann beschließe ich: Wertman wollte, dass ich herausfinde, wem die Zahl gehörte. Und was nutzt ihm die Tätowierung, wenn sie nicht seiner Familie gilt, sondern einem Mann, der gar kein Jude war? Und ein verurteilter Dieb, der in den letzten Monaten wohl zu einer Truppe von Kriegsverbrechern gehörte?
Im Mai 2019, fast sieben Jahre nach unserer ersten E-Mail und zwei Jahre nach dem Beginn meiner Recherche, schreibe ich Wertman, dass ich etwas gefunden habe, das ich ihm nur persönlich mitteilen könne. Ich bitte ihn um ein Treffen. 
Wertman ist inzwischen in die USA gezogen. Er lebt mit seiner Familie in einer Kleinstadt eine Stunde außerhalb von New York. Dort arbeitet er als freischaffender Künstler und kümmert sich um seine drei Söhne. Wertman antwortet, er freue sich, mich kennenzulernen. Er sei gespannt, was ich ihm zu sagen habe.
Im Juni 2019 buche ich einen Flug in die USA. Ich nehme die Dokumente mit, die ich gesammelt habe: KZ-Akten, Gerichtspapiere, E-Mails von Historikern und Gedenkstätten. Am Ende stecke ich ein Bild des SS-Kommandeurs Oskar Dirlewanger in die Mappe. Mein Rucksack, in dem ich die Papiere transportiere, fühlt sich bleischwer an. 
Es kommt mir vor, als hätte ich ein unersetzliches Familienerbstück zerstört und müsste es Wertman nun beichten. Ich will nicht, dass er es erfährt – und kann es gleichzeitig nicht erwarten. Bald ist es vorbei, denke ich, während der Atlantik unter meinem Fenster vorbeizieht, bald sind wir beide erlöst, Gal Wertman und ich.

New Jersey sieht aus wie ein amerikanisches Schwaben. Die Straßen sind gekehrt, die Bäume so grün, als wären sie gefärbt. In den Einfahrten hängen Basketballkörbe. Tagelang war das Wetter herrlich, nun liegen dunkle Wolken über der Stadt. An Wertmans Türpfosten ist eine Mesusa angebracht, eine Schriftkapsel, die ein jüdisches Gebet enthält. Sie soll die Bewohner des Hauses vor Unheil bewahren. Ich berühre sie kurz. Es dauert lange, bis ich mich entschließe zu klingeln. 
Wertman öffnet die Tür. »Schön, dass du da bist«, sagt er. Als wären wir alte Bekannte, die sich nach Jahren wiederfinden. Dabei treffen wir uns zum ersten Mal. 
Er sieht älter aus als auf den Fotos, die ich im Internet von ihm gefunden habe. Sein Bart ist ergraut, sein Gang vorsichtig. Eine Schwere liegt auf ihm, man spürt sie sofort. Als Wertman mich ins Haus führt, sehe ich sie, die Nummer: klein und unscheinbar, wie ein merkwürdiger Makel. 202499. 
Wenn er mutlos ist, sagt Wertman, sieht er sich die Ziffern an und denkt dabei an seine Großmutter. Als Wertman klein war, nahm Fania ihn oft an der Hand. Ihr Griff war so fest und bestimmt, dass Wertman glaubte, er fliege hinter ihr her. Diese Kraft half seiner Großmutter, in Polens Wäldern zu überleben. Die Erinnerung an sie hilft Wertman heute, sein Leben zu meistern.
Doch die Vergangenheit gibt ihm nicht nur Halt, sie belastet ihn auch. Wertman sagt, es falle ihm schwer, Menschen zu vertrauen. Selbst im friedlichen New Jersey überkomme ihn manchmal ein Gefühl von Angst – davor, dass ihm oder seiner Familie etwas zustoßen könnte. Der Holocaust könne sich jederzeit wiederholen, glaubt Wertman. Die Furcht seiner Vorfahren ist auf ihn übergegangen. Ich kenne dieses Gefühl.
Als ich ein Kind war, standen in den Regalen meiner Eltern mehrere Bücher über den Holocaust. Manchmal zeigte meine Mutter mir die Bilder aus den Lagern. Sie sagte, diese Menschen seien wie ich gewesen und hätten deshalb sterben müssen. In den Nächten darauf träumte ich, dass die Gestapo mich abholt. Von jüdischen Freunden habe ich Ähnliches gehört. Eine israelische Mutter erzählte mir einmal, ihre Kinder hätten in der Schule ein Nazi-Verhör nachspielen sollen, um zu spüren, was ihren Vorfahren widerfahren war.
Wertman sagt, dass es zu viel Erinnerung nicht geben kann. Ich bin mir nach dieser Recherche nicht mehr sicher.
Während Wertman Kaffee kocht, folge ich mit den Augen den Ziffern auf seinem Arm. Warum hast du keine KZ-Nummer aus deiner Familie gewählt?, denke ich. Warum musste es ausgerechnet die letzte Zahl sein?
An den Wänden hängen Kunstwerke von Wertmans Vater, der den Holocaust als Kind überlebte. Nicht nur Wertmans Arm ist ein Mahnmal: Sein ganzes Haus, sein ganzes Leben ist es.
»Fangen wir an?«, fragt Wertman.
Wir setzen uns in sein Atelier. Er hat einen kleinen Tisch aufgestellt: Butterkekse, Kaffee. Vor dem Fenster tobt der Sturm. Ich hole meine Mappe aus dem Rucksack. Ich stocke, ein letztes Mal.
Dann beginne ich zu erzählen. Wie M. gelebt hat, dass er in einem Dorf geboren wurde. Dass seine Eltern sich scheiden ließen, er ins Heim kam, klaute und schließlich im KZ landete. Nach und nach decke ich Papiere auf. Eine Kopie von M.s Geburtenbuch. Zeitungsausschnitte, in denen seine Diebstähle erwähnt sind. Archivschreiben, in denen steht, dass M. verurteilt wurde und in Haft kam. Dokumente, die M.s KZ-Aufenthalte belegen.
Dann ziehe ich das Bild des Kommandeurs Oskar Dirlewanger hervor. Auf dem Foto trägt er eine Uniform, er ist eindeutig als Nazi-Funktionär erkennbar. »Hast du diesen Mann schon mal gesehen?«, frage ich. Wertman lehnt sich vor, schaut sich das Bild an. Sein Blick wird starr. »Dieser Mann ist der Grund, warum ich hier bin«, sage ich. 
Ich zeige Wertman das Auschwitz-Papier, aus dem hervorgeht, dass M. zur SS-Einheit Dirlewanger wechseln sollte. Er erfährt, dass Dirlewangers Mannschaft schlimmste Verbrechen beging und dass M. ab Januar 1945 wahrscheinlich ein Teil dieser Gruppe war. »Die Nummer auf deinem Arm gehörte jemandem, der wohl bei der SS war«, sage ich. »Es tut mir leid.« 
Wertman senkt den Kopf, ich höre ihn nach Luft ringen. Minuten vergehen, ohne dass er sich rührt. 
»Wie lange war er in dieser Einheit?«, fragt Wertman schließlich. 
»Einige Monate«, sage ich. 
»Was hat er dort getan?« 
Ich schlucke. »Ich weiß es nicht.« 
Wertman schließt die Augen. Senkt wieder den Blick. So sitzt er da, die Hand auf die Stirn gestützt, und sagt kein Wort. 
Irgendwann stehe ich auf und lasse Wertman allein. Als ich auf das Taxi warte, stellt er sich neben mich ans Fenster und schaut in den Regen. »Jetzt weiß ich wieder, warum ich nie wissen wollte, wem die Zahl gehörte«, sagt Wertman. Er sieht müde aus, seine Stimme klingt schwach. Seine Umarmung zum Abschied fühlt sich an, als wolle er mich wegschieben. 
Im Hotel werfe ich alle Dokumente in den Müll. Zerknülle das Bild des SS-Manns Dirlewanger, das ich für Wertman ausgedruckt hatte. Was hast du angerichtet?, frage ich mich.
Ich träume, wie Wertman sich die Tätowierung abkratzt. Als ich aus dem Schlaf aufschrecke, schreibe ich Wertman eine Nachricht: »Ich fühle mich schuldig.« Er antwortet nicht. 
Am nächsten Morgen lese ich eine Nachricht von ihm. »Deine Recherche zeigt, dass die Welt damals für jeden ein dunkler Ort war«, schreibt Wertman. »Ich bin froh, dass du es gemacht hast.« Ich möchte weinen vor Erleichterung. 
Ich fahre noch einmal zu Wertmans Haus. Diesmal lächelt er. Seine Stimme ist kräftiger als gestern, sein Blick klarer. 
Nachdem ich fort war, sagt Wertman, lag er mehrere Stunden auf dem Sofa seines Arbeitszimmers. Starrte an die Decke und dachte über die Nummer nach. Und über Engelbert M., dem Mann, dem sie einmal gehörte. 
»Er war auch ein Opfer«, sagt Wertman. »Er kam unschuldig ins KZ. Vielleicht ging er nur zur SS, um Auschwitz zu entkommen.« 
Wertman erzählt, er wolle die Nummer behalten. Die Nazis haben ihm seine Familie genommen, nun sollen sie ihm nicht noch die Tätowierung nehmen. »Dann steht sie eben nicht nur für die ermordeten Juden, sondern für alle Opfer dieses Krieges«, sagt er. »Was du herausgefunden hast, ändert für mich nichts.« 
Aber für mich ändert es etwas. 

Erinnerung ist wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Aber wir Juden erinnern nicht nur – wir geben ein Trauma weiter. Ein Trauma, das in den vergangenen Jahrzehnten immer größer wurde. Das sich loslöste von den Menschen, die es tatsächlich erlebten, und das nun über uns allen schwebt. 
Ich will keinen Schmerz, der mir nicht gehört. Und ich will mich nicht vor etwas fürchten, das weit in der Vergangenheit liegt. Ich will mich an die Menschen erinnern, die der Holocaust wirklich traf. 
Bei meinem Besuch am Tag zuvor hat Wertman mir ein Bild gezeigt. Darauf ist eine junge Frau zu sehen: Sie trägt einen hellen Mantel und lehnt an einem Brückengeländer. Ihre dunklen Haare sind gewellt, sie lächelt in die Kamera. Die Frau ist eine Schwester von Wertmans Großmutter Fania. Es ist das einzige Foto, das von ihr existiert. Die einzige Spur, die sie hinterließ, bevor die Nazis sie umbrachten. 
Wertman wollte mit seiner Tätowierung eigentlich an die Frau auf dem Bild erinnern. An sie und an ihre Familie, die sterben mussten, weil sie Juden waren. 
Ich kenne die Nummern nicht, die sie von den Nazis vielleicht bekamen. Aber ich kenne ihre Namen. Sie hießen Elka. Liwsia. Gicia. Rachel. Zołda. Berek.