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True Story Award 2019
Honorable Mention

5 Brüder

Sie waren unzertrennlich. Dann zwangen Verbrecherbanden in Honduras sie zur Flucht, und die USA machten sie zu Illegalen. Eine Familiengeschichte über die verzweifelte Suche nach einer Zukunft in unerbittlichen Zeiten.

Man nannte sie die Díaz 5. Sie kamen im Abstand von je etwa einem Jahr zur Welt und bildeten früh eine verschworene Gemeinschaft. Sie sahen aus wie ihr stämmiger Vater. Sie hatten die gleiche Statur. Sie trugen sogar den gleichen Haarschnitt. Sie waren wie Fünflinge.

Aber die fünf Brüder ähnelten sich nicht nur äußerlich. Sie lebten auch ähnliche Leben. Sie spielten zusammen Fußball im Verein Juventus ihres Heimatortes Potrerillos. Sie heirateten ihre Jugendlieben und wurden jung Väter. Sie bauten Häuser am Ortsrand und stiegen – einer nach dem anderen – in das Geschäft ihres Vaters ein, das Busunternehmen Susany, benannt nach ihrer jüngeren Schwester.

Sie lebten, auf kuriose Weise, im Gleichschritt. Und in Harmonie – soweit das in einem Land wie Honduras möglich ist.

Dann, vor fünf Jahren, brachen zwei Dinge in ihr geregeltes Leben und sprengten es Stück für Stück auseinander: die Straßengang MS-13 und die Migrationspolitik der USA.

Heute ist einer der fünf Brüder tot. Einer ein Invalide. Einer auf der Flucht. Einer deportiert. Und einer im Revier der Drogenmafia.

Das Schicksal der Familie Díaz ist in Honduras kein unübliches. Ein jeder hier hat Angehörige an die mordenden Gangs MS-13 und Barrio 18 verloren. Und ein jeder hier hat Verwandte auf die gefährliche, 3000 Kilometer lange Flucht in die USA geschickt.

Ungewöhnlich jedoch ist die Härte, mit der das Schicksal sie traf. Und die Aufopferung der Brüder füreinander. Sie werden Opfer staatlicher Abwesenheit in einem Land – und Opfer staatlicher Hetze in einem anderen. Sie stehen im Mittelpunkt der zentralen Frage dieser Jahre: Wo dürfen vom Tod bedrohte Menschen noch hin? Wer lässt sie noch rein?

Wir haben die Geschichte der Brüder Díaz über 18 Monate an fünf verschiedenen Orten verfolgt: von ihrem Heimatort Potrerillos bis über die Grenze nach Texas. Von einem Latinoviertel in New Jersey über ein Gefängnis in Alabama bis in die entlegenen Herrschaftsgebiete der Drogenkartelle von Honduras.


Honduras

Der kometenhafte Einschlag in ihr Leben lässt sich auf die Stunde genau terminieren. Er ereignet sich vor fünf Jahren, am 2. November 2013 um 15 Uhr, als Alex Díaz, 50, Patriarch der Familie, die Aufforderung erhält, seinen jüngsten Sohn Oscar im Hauptquartier der Straßengang Mara Salvatrucha (MS-13) aufzusuchen. Die Bandenführer haben Oscar entführt, sie werfen ihm vor, einen ihrer Drogenkuriere respektlos behandelt zu haben.

Die MS-13 ist weniger eine Bande als vielmehr eine mächtige Mafia, eine transnational operierende kriminelle Organisation mit Dutzenden Ortsgruppen und Verbindungen bis in die höchsten Ämter von Politik und Justiz. An Orten wie Potrerillos nahe der Karibik bilden sie eine Art Staat im Staat – mit dem Wissen der Regierung, geduldet von der Polizei. Sie folgen dem archaischen, heute wieder populären Prinzip: Der Stärkste, der Mächtigste, der Grausamste regiert.

Vater Díaz erhofft sich eine Aussprache mit den Gangführern, immerhin ist er ein Mann mit Einfluss im Ort. Ein erfolgreicher Unternehmer, die Familie ansässig seit Generationen, er besitzt sechs Kleinbusse, die er und seine fünf Söhne auf der Strecke Potrerillos – San Pedro Sula fahren. Die Schutzgelder an die MS-13 hat er bislang immer pünktlich gezahlt, 3000 Dollar pro Monat, die höchsten im 30 000-Einwohner-Ort.

Er findet seinen verängstigten Sohn Oscar, 24, im Kommandozentrum der Gang im hügeligen Viertel Clavasquín. Dort, auf dem Sportplatz, einem für alle Bewohner einsehbaren Gelände, fällt der Anführer Giancarlo nach einer kurzen Anhörung das Urteil: Tod durch Erschlagen. Er benennt neun Mareros (Gangmitglieder), um den jüngsten Díaz zu „beenden“, wie sie es nennen.

Oscar ist der stillste der fünf Brüder, Mamas Liebling, ein Schrank von Mann, aber mit weichem Herzen, ausgestattet mit dem bulligen Körper des Vaters und der zarten Seele der Mutter.

„Sie hielten mir eine Waffe an den Kopf“ , beschreibt Vater Díaz die Tat aus seiner Sicht. „Ich musste bei allem zusehen. Ich war mir sicher: Ich verliere ihn. Für Eltern gibt es nichts Schlimmeres.“

Auf Kommando foltern die Mareros Oscar mit Schlägen und Tritten, mit dem Griff der Machete und den Kolben der Gewehre. Sie rotieren, jeweils drei Peiniger für drei Minuten. Oscar, die Hände hinter dem Rücken, darf sich nicht wehren, so die Anordnung, sich nicht mal krümmen. Irgendwann bleibt ihm die Luft weg, das Bewusstsein setzt aus. Minuten, über die sein Vater später sagt: „Ich habe den Tod gesehen. Sie taten es, um mich zu treffen.“

Es ist Oscars Rettung, dass ein älteres Gangmitglied, ein Nachbar der Familie Díaz, irgendwann sagt, sie sollten jetzt Schluss machen und sich wieder dem Geschäft widmen. So lassen sie ihn halb tot im aufgewirbelten Dreck zurück, nicht ohne die Drohung zu hinterlassen: „Wir töten jeden Einzelnen von euch.“

Die Fotos der Verletzungen, die Vater Díaz macht, zeigen keinen geschundenen Menschen, sondern einen Berg geschwollenen Fleisches: Schnitte am ganzen Körper, die Brust blau und schwarz, die Knochen gebrochen, der Kopf aufgedunsen, sodass die Augen nicht mehr zu sehen sind. Zwei Tage spuckt Oscar Blut, dokumentiert im Polizeiprotokoll mit der Nummer 0511538-2013, das im Leben der Díaz 5 noch eine große Rolle spielen wird.

Das eigentliche Motiv für den Mordversuch deutet die Gang nur an. Es hängt mit der um 20 Prozent erhöhten „Renta“ zusammen, den Erpressungsgeldern, deren Zahlung Vater Díaz diesmal nicht sofort nachkam. Seit fast zehn Jahren zahlt der Patriarch die sogenannten Schutzgelder an die Gang, 5000 Lempira pro Bus und Woche, das Zehnfache der staatlichen Steuern.

Er muss die Renta abdrücken wie alle anderen Unternehmen im Ort, wie Bäcker, Banken, Friseure. Wenn einer dem nicht folgt, ermordet die Bande ihn umgehend, eine in Honduras weitverbreitete Strafe, um alle anderen Bewohner zu disziplinieren. Es ist, in ihrer Essenz, eine Mordvermeidungsgebühr.

Es ist zugleich die Erklärung für die damals höchste Mordrate der Welt, 79 Getötete pro 100 000 Einwohner. Deutschland im Vergleich: 0,8.

Am Morgen nach der Tat versammelt Alex Díaz seine sieben Kinder um sich und verkündet eine Entscheidung, die alle erwartet haben: Ihr fünf Jungen flieht in die USA. Ohne Frauen. Ohne Kinder. Ich bezahle Schleuser, Transport, Verpflegung.

So nehmen die fünf Brüder am 3. Dezember 2013, sobald Oscar halbwegs genesen ist, Abschied von ihren Frauen und Kindern, ohne zu wissen, ob sie diese je wiedersehen werden. Sie begeben sich auf die 3000 Kilometer lange Flucht über Guatemala und Mexiko Richtung Dallas, wo Verwandte leben.

Es machen sich auf den Weg: Oscar, 24, der Jüngste, Díaz Nr. 5, drei Kinder, noch schwer verletzt nach dem Mordversuch.

Angel, 25, Díaz Nr. 4, der Zweitjüngste, etwas schmaler als seine Brüder, schon vier Kinder.

Alex Junior, 26, Díaz Nr. 3, drei Kinder, der Pfiffigste, mit gutem Gespür für Geschäfte.

Miguel, 28, vier Kinder, Díaz Nr. 2, Busfahrer wie alle und nebenbei Student für Grafikdesign.

Und Luis, 29, drei Kinder, Díaz Nr. 1. Er ist eigentlich Alex seniors jüngster Bruder, wuchs aber wie ein Sohn bei ihm auf.

Ihre beiden jüngeren Schwestern Susany und Kimberly bleiben zurück. „Die verteidige ich selber“, gibt Vater Díaz als Devise aus. „Ich muss abwägen: Hier werden sie von den Maras bedroht. Auf der Flucht aber lauern Schleuser, die wollen sie vergewaltigen.“


Flucht

Von Potrerillos nehmen die fünf Brüder einen Bus an die Grenze Guatemalas, wo sie schon an Tag drei auf erste Hindernisse stoßen. Die Grenzbeamten lassen sie nicht passieren, bis sie Bestechungsgelder zahlen, 1000 Dollar. Eine inzwischen übliche Form der Korruption auf der Flucht, die zu einem Milliardengeschäft geworden ist – nicht nur für Schleuser, sondern auch für Polizisten, Grenzer, Herbergen.

Die Warnungen ihres Vaters werden gleich zu Anfang wahr. Alex, der mittlere Díaz, wird in einem Hinterzimmer an der Grenze Zeuge der Vergewaltigung einer Migrantin durch „Coyotes“ – Schleuser oder eher: Menschenschmuggler. Es ist nur eine der vielen Gefahren für weibliche Flüchtlinge, an deren Ende oft die Zwangsprostitution steht. Alex sagt im Rückblick den schwer erträglichen Satz: „Ich entschied mich, nicht einzugreifen. Ich durfte unser eigenes Ziel nicht gefährden. Auf der Flucht ist jeder auf sich allein gestellt.“

Von Guatemala folgen die Brüder dem Treck nach Norden, über Veracruz und Tampico, der Transportroute für Drogen, Gold, Flüchtlinge, die Seidenstraße der Neuzeit. Sie brauchen zehn Tage, bis sie in Reynosa, nahe dem Golf von Mexiko, auf die US-Grenze stoßen.

Es handelt sich um den wichtigsten Fluchtkorridor zur 3200 Kilometer langen Grenze. 2017 wurden hier 138 000 Migranten aufgegriffen. Mexikanische Drogenkartelle, in diesem Fall die Zetas, knüpfen den Flüchtlingen zusätzlich eine Durchgangsgebühr ab, den „derecho de paso“, weitere 1000 Dollar pro Kopf.

„Wir harrten eine Woche mit 30 Leuten in einer alten Bar aus“, erzählt Miguel, einem „stash house“, das auch für die Lagerung von Drogen und Waffen genutzt wird. „Der Schleuser wartete auf den perfekten Moment, um den Rio Grande zu überqueren. Spitzel auf der US-Seite versorgten ihn mit Infos.“

Miguel erinnert sich an die ungewohnte Kälte, Alex an den Hunger und Luis an die Sekunden der Anspannung, als es losging. Migranten mit Erkältung bleiben zurück, ihr Husten könnte Grenztruppen alarmieren. Mitten in der siebten Nacht, neblig, ohne jeden Mondschein, überqueren sie in Schlauchbooten den hier mit Wärmebildkameras überwachten Rio Grande und erreichen problemlos das andere Ufer. Sie tragen Tarnkleidung und umwickeln ihre Schuhe mit Stoff, um keine Fußspuren zu hinterlassen. Die Schleuser benutzen Nachtsichtgeräte und Datenverschlüsselungstechnologie für die Kommunikation.

Dann jedoch beginnt der härteste Teil. Um die Kontrollen der Grenztruppen an den Zufahrtsstraßen zu umgehen, müssen sie drei Tage zu Fuß durch die Wüste ziehen, ausgestattet mit nur fünf Litern Wasser pro Person. Es sind die kältesten Tage des Jahres.

Die fünf schlagen sich gut, selbst der verletzte Oscar, sie sind Sportler, Stammspieler bei Juventus Potrerillos. Nur Angel, der Dünnste, hat zunehmend Probleme. „Zieht ohne mich weiter“ , röchelt er in der dritten Nacht, aber seine Brüder opfern ihre Wegzehrung, Dosenmais und Kekse, und tragen ihn einen Teil des Weges.

Andere Flüchtlinge, die keine Helfer haben, fallen ab, vor allem zwei schwangere Frauen aus El Salvador, die die Brüder danach nicht wiedersehen. Vermutlich sterben sie in der Wüste, Teil der jährlich 400 Toten in der Grenzregion. Verifizieren lässt sich dies nicht, da sich weder das US-Heimatschutzministerium noch die vom stern kontaktierten Schleuser zu diesem Fall äußern wollen.

„Wieder habe ich nicht eingegriffen“ , sagt Alex junior im Rückblick. „Auf der Flucht wird man vom Menschen zum Tier, nur der Stärkste überlebt.“

Am Rand des Ortes Falfurrias angekommen, werden die fünf Brüder von Minivans aufgegriffen und in Verstecken unter der Rückbank zu einer Lagerhalle nach Houston gefahren. Nach Bezahlung der zweiten Rate jedoch konfrontieren die Schleuser sie mit einer neuen Forderung: „Wegen gestiegener Kosten“ müssten sie eine Nachzahlung von 1000 Dollar pro Person leisten. So lange würden sie festgehalten, ohne Kleidung und Handys, damit sie nicht fliehen.

„Das ist Kidnapping“, sagt Miguel.

„Nenn es, wie du willst“, entgegnen die Menschenschmuggler.

Die Brüder kontaktieren ihren Vater, der sich das Geld zusammenleiht und via Western Union überweist, einen der großen Profiteure des Flüchtlingshandels. Die Díaz 5 werden daraufhin in einem Industrieviertel Houstons freigelassen.

So trifft, vier Wochen nach Beginn der Odyssee, die erlösende Nachricht bei ihrer Familie in Honduras ein: „Wir haben’s geschafft. Und sind noch zusammen.“


Amerika

Die ersten Wochen in Texas ohne Frauen und Kinder sind die schlimmsten. Sie, die jeder ein Haus besaßen, kommen bei Alex juniors Schwiegereltern in Dallas unter, neun Personen in einer Zweizimmerwohnung, die fünf Brüder teilen sich ein Zimmer. Sie verstehen kein Englisch, aber in der Welt, in der sie sich fortan bewegen, sprechen alle Spanisch. Sie leben in der Gewissheit: Wir haben viel verloren, aber nicht das Leben.

Aus Honduras sind es die Brüder gewohnt, hart zu schuften, 14 Stunden am Tag, und so finden sie schnell Jobs, die den sogenannten „Illegals“ zufallen und ohne die keine Gesellschaft mehr auskommt: Rasenmähen, Autowaschen, Hotelzimmerputzen. Es ist das, was man in Amerika eine Win-win-Situation nennt: Die Erstflüchtlinge verdienen einen für Mittelamerikaner ordentlichen Stundenlohn von 6,50 Dollar. Die Firmen bekommen im Gegenzug willige Tagelöhner und bezahlen keinerlei Sozialabgaben.

Sie sind – ökonomisch gesprochen – keine Flüchtlinge, sondern bilden das Reservoir an Billigarbeitern, aus dem sich Unternehmen begierig bedienen.

Rechtlich gesehen fallen sie in die Kategorie der „illegal immigrants“, ein zynischer Begriff für Menschen, die vor dem Tod fliehen. Sie haben – womöglich ein Fehler – bei der Einreise nicht um Asyl gebeten, weil sie Angst hatten, schon an der Grenze abgewiesen zu werden.

Politisch gesehen sind sie die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Sie sind jene Menschen, deretwegen sich Fronten bilden, Nationalisten formieren, Regierungen zerbrechen, der Heimatbegriff neu fest gezurrt wird. 68,5 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht.

Die Politik der USA gegenüber „illegals“ ist eindeutig: Bei Aufgriff werden sie festgenommen und abgeschoben. Das galt auch unter Obama, bevor er das Gesetz für minderjährige Flüchtlinge aus dem berüchtigten Northern Triangle – Honduras, Guatemala, El Salvador – änderte und ihnen temporären Schutz gewährte.

Nach vier Wochen im neuen Land treffen die Díaz 5 eine weitreichende Entscheidung: Sie trennen sich – aus Angst vor Razzien, aus Angst, als Gruppe leichter geschnappt zu werden: Miguel geht zum Onkel ins kalte New Jersey. Alex junior jobbt als Friseur in Dallas und Oscar als Maisverkäufer in den Vororten. Luis zieht als Wanderarbeiter nach Florida und Angel nach Houston. Zum ersten Mal im Leben trennen sich die fünf – und werden sich so nicht wiedersehen.


Angel – Díaz Nr. 4

Houston kommt Angel unwirklich vor, die viertgrößte Stadt Amerikas, Straßen wie auf dem Reißbrett gezogen, Autos so monströs wie Lieferwagen, aber er findet sich schnell ein. Er arbeitet Doppelschichten in einer Waschanlage und auf dem Bau, und schon nach sechs Monaten hat er das Geld zusammen, um seine Frau Suria und drei der Kinder nachzuholen: 8000 Dollar Schleusergebühren plus 2000 Dollar Reserve für Kidnapping, Schmiergeld, Erpressung.

Angel ist der Fahrigste unter den fünf Brüdern, drahtig, ständig unter Strom, mit dem Energieverbrauch eines Teenagers. Seinen Bart trimmt er zu feinen Linien, aus seinem Körper formt er eine Landschaft martialischer Tattoos.

Die harte Arbeit in Houston hat einen hohen Preis. Angel ist ständig unterwegs, von einem Job zum anderen. Bei einer Straßenkontrolle der Polizei wird er erwischt, ein „Illegaler“ ohne Papiere. In den meisten anderen Bundesstaaten würde ihm nur eine Geldstrafe drohen, der Polizei ist es verboten, die Migrationsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) zu informieren. Aber in Texas, diesem konservativsten aller Staaten, alarmieren die Polizisten ICE-Ermittler und stecken ihn in Untersuchungshaft.

Zwei Monate sitzt Angel im Gefängnis in Houston. Seine Brüder schalten einen Anwalt ein und bezahlen das Honorar – 4000 Dollar. Angel beantragt politisches Asyl, sein Leben sei in Gefahr, belegt durch das Dokument 0511-538-2013, aber er hätte dies schon bei der Einreise melden müssen. Im Juni 2015, noch unter Obama, der mit mehr als zwei Millionen so viele Menschen abschieben ließ wie kein Präsident vor ihm, wird Angel ohne Verhandlung nach Honduras deportiert.

Er ist der erste Díaz, der gehen muss – und nicht der letzte.

Die Lage in Potrerillos hat sich in den knapp zwei Jahren weiter zugespitzt. Nicht nur die MS-13 knüpft der Familie Díaz Schutzgelder ab, sondern nun auch die Gang Barrio 18 an der Endhaltestelle in der Industriestadt San Pedro Sula. Wer nicht zahlt, bekommt mit Glück noch eine Warnung, beim nächsten Mal schon die Kugel. Zwölf Busfahrer wurden bereits ermordet.

Wer zudem in den USA war wie Angel, gilt als reich und muss zusätzlich eine Migrantenprämie abdrücken, noch mal 300 Dollar pro Monat.

Trotzdem entscheidet sich auch Oscar, der Jüngste, zurückzugehen, um bei seinem Bruder Angel zu sein. „Mich beschlich eine dunkle Ahnung“ , sagt er rückblickend. „Meinetwegen begann diese ganze Flucht. Und nun war Angel allein, eine Zielscheibe für die Banden.“ Zudem will Oscar seine Frau und die drei Kinder nachholen. Er will ihnen die gefährliche Flucht in die USA nicht allein zumuten.

Angel steigt wieder als Fahrer im Familienunternehmen ein. Er arbeitet ununterbrochen, um seine Rückkehr zu Frau und Kindern in die USA zu finanzieren, sieben Tage die Woche, 14 Stunden am Tag, bis sein Vater ihm am 13. Juli, einem Montag, rät: „Nimm dir heute frei. Du brauchst das.“

„Heute nicht“, erwidert Angel. „Montags im Berufsverkehr ist viel zu verdienen.“

Am selben Abend um 19.30 Uhr, gegen Ende der Schicht, ist Angel im Stadtteil Las Brisas in der Dämmerung kurz vor dem Ende der Route. Der letzte Passagier ist ausgestiegen. Da nähern sich drei Männer dem Kleinbus und werfen einen flüchtigen Blick hinein. Dann schießen sie durchs Seitenfenster. Drei Schüsse treffen Angel in Bauch, Schulter, Hals.

Sein Vater, der an der Endhaltestelle auf ihn wartet, ist nur drei Minuten später am Tatort. Er startet Wiederbelebungsversuche, legt ihn auf den Beifahrersitz, fährt zum Roten Kreuz. Auch Oscar kommt hinzu: „Das sollte ich sein. Die haben uns verwechselt. Wir Díaz sehen alle gleich aus.“

Angel stirbt vier Wochen nach seiner Abschiebung um 19.45 Uhr in den Armen seines Vaters. Der erste der Díaz 5. Da sind sie nur noch vier.

Später sagt Oscar: „Ich muss ewig damit leben, dass mein Bruder für mich starb. Wie lebt man damit?“


Vater Díaz

Die Grabplatte ist aus geschliffenem Felsstein. Die Plastikblumen stecken in einer Colaflasche. In dünn gemeißelten Buchstaben steht auf einem Kreuz: Angel Alexander Díaz Morales, 13. 7. 2015.

Es ist ein heißer Tag Anfang 2018. Vater Alex beugt sich über das Grab und rückt die Blumen zurecht. Er flüstert: „Ich vermisse dich, mein Sohn.“

Sein Blick ist trüb. In der Stirn sitzen tiefe Kerben. Alex Díaz ist ein kräftiger Kerl, mit gleichem Anteil Muskeln und Fett. Er ist kein Mann großer Worte, sein Leben bestand aus Arbeit und seinen Kindern, er ist erst 50, wirkt dem Ende aber schon nah. Neben Angels Grab liegen weitere Gräber von Teenagern und jungen Männern, Mordopfer der Gangs oder der Bandenkriege, die Todesursache Nummer eins in Honduras. Es ist ein Männerfriedhof, Frauen sind kaum unter den Opfern. „Frauen suchen die Nähe der Mareros“, sagt Vater Díaz angewidert. „Die sind die große Attraktion, so wie Rockstars.“

Es ist eine Anspielung auf Angels Ehefrau, die Witwe Suria López. Sie bandelte nach der Ermordung ihres Mannes mit einem Marero an. „Das hat sie nun davon“, sagt Alex senior angewidert. „Der Marero wurde ermordet. Jetzt ist sie mit dem nächsten zusammen.“

Ein Treffen mit Suria findet unter konspirativen Umständen statt. Eine schlanke Frau mit langen dunklen Locken, der die Angst ins Gesicht geschrieben steht. Sie redet sich zunächst heraus, gibt dann aber zu: „Ich tue es für meine Kinder. Es ist das Sicherste, sich mit den Machthabern einzulassen.“

Sie folgt einer verstörenden Logik: Die Mörder ihres Mannes sind die Garanten ihres Lebens.

Es handelt sich um eine gesetzlose Gegend, 30 Kilometer südlich von San Pedro Sula, der Stadt mit einer der höchsten Mordraten der Welt. Zersiedelt liegt Potrerillos an der Ausfallstraße, umgeben von einigen Zuckerrohrfeldern und Billigfabriken, Maquilas genannt. Vor jedem Geschäft stehen bewaffnete Wachen. Jedes Haus, auch das einfachste, ist von hohen Zäunen umgeben. Eine jede Straße hat Tatorte. Banken sind Festungen. Die Nachrichten, die aus Honduras kommen, drehen sich um manipulierte Wahlen und Morde an Umweltschützern. Es ist ein Leben nah an der Apokalypse, in einem Staat, den man als gescheitert bezeichnen kann.

Vater Díaz fährt an den Tatort, ein unbesiedeltes Stück Straße zwischen Maisfeldern und einer verwaisten Fabrik. Er tut dies jeden Tag. Er rekonstruiert die Tat, die drei Schüsse, als wollte er noch immer verstehen, was passierte. Er holt die Fotos seines ermordeten Jungen hervor, das einbalsamierte Gesicht der Leiche, er ist wie versunken in der Gewalt, die seinen Söhnen angetan wurde.

Hatten Sie nie den Gedanken an Rache?

„Ständig. Ich habe überlegt, einen Auftragskiller anzuheuern, doch dann töten die Mareros alle meine Kinder.“

Warum töten die Banden nicht Sie?

„Sie wissen: Sie treffen mich viel mehr, wenn sie meine Kinder töten.“

Hat die Polizei ermittelt?

„Die stecken unter einer Decke. Die Polizisten geben Informationen an die Gangs weiter. Deswegen habe ich keine Anzeige erstattet. Ich habe extra gesagt: Ich will nur ein Protokoll der Tat. Keine Anzeige.“

Er hat keine andere Wahl als zu schweigen. Es ist das inoffizielle Landesmotto: „Mire y callese.“ Schauen und Klappe halten.

Und seine Söhne immer wieder nach Norden zu schicken.


Oscar – Díaz Nr. 5

Schon am Tag nach dem Mord an Angel flieht Oscar mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern aus Potrerillos in eine Hütte auf dem Land, 200 Kilometer entfernt. Hier planen sie die Weiterflucht in die USA. Er ist noch immer gezeichnet vom Mordversuch knapp zwei Jahre zuvor, der Rücken schmerzt konstant, die Seele ist traumatisiert. Oscar soll, so die Entscheidung der Familie, auch Steven, den neunjährigen Sohn seines Bruders Alex, mitnehmen, der sonst als Teenager zum Rekrutierungsziel der MS-13 werden könnte.

Für die Flucht von sechs Personen brauchen sie weitere 24 000 Dollar. Sein Vater hat nichts mehr, aber die drei Brüder in den USA schicken nun ihr letztes Geld, Oscar verkauft sein Haus. Insgesamt übersteigen die Fluchtkosten der Familie Díaz in diesen Jahren 80 000 Dollar.

Sie gehören zu den privilegierten Flüchtlingen. Viele andere Familien landen mittellos an der Grenze und stranden in mexikanischen Lagern.

Im August 2015 brechen Oscar und seine Frau Julia in der Nacht mit den vier Kindern Richtung Norden auf. Diesmal wählen sie eine Route über Mexiko-City und Monterrey nach Reynosa. Doch sie haben nicht das Glück der ersten Flucht. Die US-Grenze ist besser gesichert – mit 20 000 Grenzschützern und Helikoptern, mit Aufklärungsdrohnen und berittenen Fahndern. Schon kurz nach der Überquerung des Rio Grande werden sie aufgegriffen von der „migra“, wie die Grenzpolizei genannt wird. Sie bitten um Asyl und dokumentieren sowohl den Mord an Angel als auch den Mordversuch an Oscar selber.

Doch die ICE-Ermittler machen nun von einer neuen Praxis Gebrauch: Sie trennen die Familie. Eine Methode, die sie zunächst sporadisch, unter Trump dann systematisch anwenden und die als Abschreckung dienen soll, wie es Justizminister Jeff Sessions formuliert. Sessions bezeichnet Eltern, die mit ihren Kindern fliehen, als Schmuggler: „Wenn du ein Kind schmuggelst, werden wir dich verfolgen, und dieses Kind wird dir weggenommen.“

Zum ersten Mal in der 400 Jahre alten Einwanderungsgeschichte der USA nimmt die Regierung eine Haltung ein, die sich explizit gegen das Wohl von Kindern richtet.

Aus der Familie Díaz machen die Beamten einen Präzedenzfall. Oscars Frau Julia und die drei Kinder werden registriert und dürfen bis zur Prüfung ihres Asylantragsverfahrens bleiben. Der neunjährige Steven wird als „unbegleiteter Minderjähriger“ von den anderen getrennt und weinend dem Office of Refugee Resettlement übergeben – wie mehr als 2300 andere Kinder auch. Nach drei Tagen transferiert man ihn in ein Auffanglager ins 3000 Kilometer entfernte New York, ein Akt, den Bürgerrechtler als staatliches Kidnapping anprangern. Die Familie erfährt nichts über seinen Verbleib.

Oscar wird als Illegaler A208376104 registriert und in ein Gefängnis nach Miami transportiert; erst gegen Zahlung von 15 000 Dollar dürfte er auf Kaution raus. Die Familie hat nun aber kein Geld mehr.

Auch für Stevens Vater, Alex junior, den Mittleren der Díaz 5, hat die Festnahme gravierende Folgen. Er fährt von Dallas nach New York ins Auffanglager für Flüchtlingskinder, eines von mehr als 100 im Land, und belegt anhand von Dokumenten, dass er Stevens Vater ist. Doch die Behörden verlangen mehr Unterlagen, Einkommensnachweise, Mietvertrag, Führungszeugnis. Sie tauschen die Daten mit dem Heimatschutzministerium aus, sodass Alex junior nun in der Datenbank als „illegal alien“ unter seiner Adresse in Dallas registriert ist. Täglich können die ICE-Ermittler damit an seine Tür klopfen.

Er war vor dem Tod in Honduras geflohen. Nun steht er im Zufluchtsland vor einer neuen Notlage: Wie befreie ich meinen Sohn aus den Fängen des US-Staates?

Derweil wird sein Bruder Oscar bis zur Anhörung vor einem Migrationsgericht gegen Kaution aus der Haft entlassen, muss aber eine elektronische Fußfessel tragen. Er wird damit, wie 12 500 andere Flüchtlinge, auf Schritt und Tritt erfasst, unter der Nummer: KROS-16-00015. Die Kaution in Höhe von 15 000 Dollar muss er – zu einem Zinssatz von 15 Prozent – über zwei Jahre abzahlen plus eine Benutzungsgebühr von monatlich 420 Dollar für die Fußfessel. Insgesamt übersteigt der Betrag 28 000 Dollar, ironischerweise ähnlich viel, wie er in Honduras in Form von Erpressungsgeldern an die Gangs abdrücken müsste.

Profiteur ist das Unternehmen Libre by Nexus (200 Angestellte, 30 Millionen Dollar Umsatz), das Tausende von Kautionszahlungen für Migranten arrangiert. Es gehört zu einer Reihe privater Unternehmen, die von der drakonischen Migrationspolitik der USA profitieren, darunter viele, die als Unterstützer Präsident Trumps fungieren, wie Wahlunterlagen belegen. Auch Southwest Key gehört dazu, das Arrestlager für die von Eltern getrennten Kinder betreibt und Regierungsaufträge im Wert von 955 Millionen Dollar einstreicht. Sowie das Rüstungsunternehmen General Dynamics und die Sicherheitsfirma MVM, die einst amerikanische Truppen im Irak ausrüstete.

Die Not der Flüchtlinge, so stellt sich zunehmend heraus, ist ein Milliardengeschäft. Auf mexikanischer Seite existiert eine Industrie der Flüchtlingsschmuggler und -erpresser. Auf amerikanischer Seite eine der Flüchtlingsjäger und -verwalter.

Oscar und seine Familie wohnen in einer Leichtbausiedlung am Rand von Dallas. Seelenlos ist sie in die Prärie gebaut, umgeben von Ausfallstraßen und Fast-Food-Restaurants, eine Kulisse finsterer Trostlosigkeit. Es ist Winter, zehn Grad, März 2018, Oscar macht sich auf den Weg zu einem Casino, wo er als Bodyguard arbeitet.

Das ist Amerika 2018 in all seiner Bigotterie: Er ist ein Illegaler, trägt aber als Sicherheitsmann Waffe und Schlagstock.

Seine Frau Julia kommt von einem Putzjob im Hotel Holiday Inn nach Hause. Aus Angst vor Razzien nimmt sie nicht mehr den Sammelbus für Mitarbeiter. Auch Oscar wählt für seinen Arbeitsweg nicht mehr die Hauptstraßen, aus Angst vor Kontrollen. Seine Fußfessel verbirgt er unter langen Jeans und hohen Strümpfen. Die beiden reichen sich die Kinder in die Hand, sie arbeiten rund um die Uhr, um sich die Anwaltskosten (9000 Dollar) und die hochverzinste Kaution leisten zu können. Die Asylbehörde hat ihnen beschieden, dass sie eine „glaubwürdige Furcht vor Folter oder Verfolgung darlegten“ , dennoch wird ihr Ausweisungsverfahren für 2019 anberaumt. Wenn sie irgendwann deportiert sind, haben die USA mehr als 50 000 Dollar an ihrer Flucht verdient.

Es ist der Inbegriff amerikanischen Innovationsgeistes: Selbst aus der Not der verwundbarsten Menschen machen sie noch eine Industrie.

Oscars drei Kinder blicken durch die vergilbten Gardinen hinaus auf den Parkplatz. Es ist, darauf sind sie getrimmt, die Zeit von Trump. Deportationen finden laufend statt. Nachbarsjungen wurden schon abgeholt. Die ICE-Truppen, gekleidet in Beige oder Blau, ziehen von Haus zu Haus. Sie checken Arbeitgeber, Hotels, Geflügelfabriken, sie führen Razzien an Tankstellen durch.

Dazu kommen Bürger, die, ermutigt durch Trumps Hetze, Ausländer denunzieren oder selbst mit Waffen und Ferngläsern nach den „tonks“ suchen, wie der damalige ICE-Direktor Tom Homan die Flüchtlinge abwertend nennt. Es ist eine Anspielung auf das Geräusch, das entsteht, wenn seine Fahnder Migranten mit der Taschenlampe über den Schädel schlagen („tonk“).

Der ausländerfeindliche Eifer ist umso erstaunlicher, weil gemäß einer Auswertung der US-Zollbehörde die Zahl illegaler Grenzübertritte auf einem historischen Tiefstand ist. Festnahmen verringerten sich von 1,6 Millionen im Jahr 2000 auf 300 000 im Jahr 2017. Aber Fakten dringen nicht mehr durch in diesen hoch emotionalen Zeiten, in denen Bürger Wut zu ihrem Lebensmotto machen.

Oscars Kinder haben klare Regeln: nicht rausgehen. Nicht die Türen öffnen. Vor Kurzem haben Polizisten an der Tür geklopft. „Wir haben nicht aufgemacht“, erklärt der kleine Oscar junior, 11, fachmännisch. „Sie dürfen die Wohnung nicht stürmen. Hier im Viertel öffnet keiner die Tür.“

Oscar junior greift sich ein Schulbuch und übt Englisch mit seiner Schwester Ashley, 8. Sie sind beide Klassenbeste. Sie sprechen Englisch ohne Akzent. Sie sind – in der Migrationsterminologie – Dreamer, Kinder von Migranten, die auf ein Bleiberecht hoffen. Trump will auch das beenden – für 800 000 Migranten, die als Kinder in die USA gebracht wurden. Bisher hat er dafür aber keine Mehrheit im Kongress.

Im September wird ihr Geschwisterchen zur Welt kommen. Es wird dann Amerikaner sein – in der Migrationsterminologie ein „anchor baby“, gezeugt aus Migrationszwecken. In dieser kleinen Wohnung in Nord-Dallas leben dann sechs Menschen derselben Familie aus vier unterschiedlichen Kategorien: Oscar ist „Illegaler“. Seine Frau Julia Asylsuchende. Die Kinder fallen unter das von Obama geschaffene Dreamer-Programm. Das Baby wird gebürtiger Amerikaner, darf ohne Eltern aber nicht bleiben.

„Ich denke über eine neue Flucht nach“, sagt Oscar erschöpft. Die Jahre haben ihm zugesetzt, er wirkt leer, niedergerungen von Bedrohungen und Bürokratie. „Hier in Texas spitzt sich die Lage zu.“ In Bundesstaaten, die Trump gewählt haben, greifen die ICE-Truppen in aller Härte durch, angestachelt von seinen Hetzparolen gegen „Vergewaltiger“, „Invasoren“, „Mörder“.

Aber wohin?

Vielleicht nach Trenton, New Jersey, überlegt er, zu seinem Bruder Miguel. In eine „sanctuary city“, die sich nicht aktiv an den Abschiebungen beteiligt. Dort sind die Chancen größer, eine Deportation zu vermeiden.

Es wäre eine Flucht im Fluchtland.


Miguel – Díaz Nr. 2

Das Viertel „The Bottom“ in South Trenton ist ein kleines Stück Lateinamerika an den Randzonen der Bürgerlichkeit. Aus den Holzhäusern dringt der rhythmische Sound von Salsa und Reggaeton, aus den Küchen steigt der Duft von Tamales und Tacos. Aber es hat sich etwas geändert: Das Leben spielt drinnen. Draußen warten Gefahren. Es ist das Jahr 2018. Eine neue Zeit.

Für Miguel, den zweitältesten Díaz, ist Trenton das Gegenteil des American Dream. Er lebt in einem undichten Haus aus Holz und bezahlt viel Miete, 1200 Dollar. Er musste sein Studium in Honduras aufgeben und verdient sein Geld jetzt als Tagelöhner mit Schneeschippen und Gartenarbeit. Es ist der Abstieg, der mit der Flucht einhergeht. Aber immerhin will ihn hier keiner töten.

Es ist morgens um sechs an einem grauen Tag, der nie richtig erwachen wird. Ein Blizzard von den Great Lakes soll Schnee bringen. Miguel ist in seinem Geländewagen auf dem Weg zum Job. Tagelöhner stehen wie Huren an der Ecke und warten darauf, dass sie jemand abholt. Im Akkord ziehen hispanische Arbeitskolonnen das ganze Jahr durch gutbürgerliche Viertel und jäten Unkraut, schneiden Hecken, spritzen Herbizide. Im Sommer pflegen sie die Gärten, im Winter schippen sie den Schnee. Dazwischen gibt es nicht viel außer dem Aufräumen nach einem Sturm.

„Ich hoffe auf viel Schnee im Winter und große Dürre im Sommer. Auf Wetter, das verrücktspielt“, sagt Miguel. Der Klimawandel ist der Freund aller Migranten.

Miguel ist der Intelligenteste der Díaz 5. Der Einzige mit Studium, ein Exot in der Arbeiterfamilie. Er sieht aus wie sein Vater, kein Jahr jünger, 100 Kilo Körpermasse, das Gesicht verbraucht, „Spuren von Arbeit und Sorgen“, sagt er lakonisch.

Es hat sich viel geändert seit Trump. Miguels Autofahren ist eher ein Spießrutenlauf. „Siehst du den Wagen da vorn?“, sagt er. „Das ist State Police, die überprüft gern die Papiere von Hispanics. Die Bundespolizei nimmt dich sofort hoch. Die ICETruppen fahren in Zivilautos und haben Spione in unserer Gemeinschaft; meinen Freund aus Guatemala haben sie gerade gefasst. Nur die örtliche Polizei fragt nie nach unserem Aufenthaltsstatus.“

200 Städte in den USA, fast alle regiert von Demokraten, haben sich zu „sanctuary cities“ erklärt. Sie weigern sich, bei Abschiebungen mitzuhelfen, ein Akt des Widerstands gegen ihren republikanischen Präsidenten. Auf ihre Art leben die Díaz zwischen den Fronten der beiden großen Parteien. Aber auch zwischen den Polen der Gesellschaft. Zwischen progressiven Küsten und konservativem „Heartland“. Und – auf einer größeren, weltweiten Skala – zwischen Globalisten und Nativisten. Zwischen liberaler Willkommenskultur und neu-nationalistischer Abschottung.

Vor einem Jahr hat Miguel seine Familie nachholen lassen, seine Frau Jessica und zwei Kinder. Sie standen vor einer furchtbaren Entscheidung: Jessica konnte nur zwei ihrer vier Kinder mit auf die Flucht nehmen, sonst würde sie zu teuer und gefährlich.

„Wir entschieden uns für die Jüngste und die Älteste“, sagt er.

Warum?

„Die Jüngste, weil sie uns am meisten braucht. Die Älteste, weil ihr in dem Alter Vergewaltigungen durch die Gangs drohen. Sie ist 13.“

Und die beiden anderen?

„Blieben zurück bei Verwandten. Wir haben sie bis heute nicht wiedergesehen.“

Die Entscheidung nagt an ihm und seiner Frau. Man spürt es an ihrer Stille. Später am Tag sitzen sie stumm im Wohnzimmer, das Essen auf dem Schoß, an der Wand Familienfotos, kalter Wind pfeift durch die Ritzen.

„Trump hat sein Ziel erreicht“, sagt Miguel ansatzlos. „Heute haben alle Angst, selbst Migranten, die seit 40 Jahren hier leben. Angst in ihren Häusern. Bei der Arbeit. Beim Einkaufen. Angst überall.“

Im Mai hat Trump den Schutzstatus für Honduraner gestrichen – trotz Protesten von 600 religiösen Würdenträgern. Eine Entscheidung, die von humanitären Organisationen als „Todesurteil“ interpretiert wird. Etwa 90 000 Honduraner besaßen die Erlaubnis, in den USA zu bleiben, wegen der Gefahren in der Heimat.

Miguel sieht es so: Er ist seit fünf Jahren auf der Dauerflucht. Ob nun in Honduras oder Amerika.

Und wenn man sie aufspüren sollte?

„Dann tauchen wir unter und gehen in einen anderen Bundesstaat.“

Und wenn man sie deportiert?

„Kommen wir zurück.“

Und wenn Trump die Mauer baut?

„Wenn El Chapo meterlange Tunnel graben kann, können wir das schon lange. In Honduras wartet der Tod auf uns.“

Nach einer Pause sagt Miguel: „Größere Sorgen mache ich mir um Luis. Er steht vor der Deportation.“


Luis – Díaz Nr. 1

Zu dem Zeitpunkt, Anfang 2018, sitzt sein ältester Bruder Luis 1500 Kilometer entfernt im Gefängnis in Alabama. Wie 220 000 Migranten pro Jahr steht er vor der Abschiebung. Er teilt den Trakt mit anderen Flüchtlingen und Kriminellen, gar mit Gangmitgliedern der MS-13.

Es ist eine bizarre Konstellation: In Honduras sind die Mareos seine Todfeinde – hier sind sie Zellennachbarn. Er floh 3000 Kilometer, um ihnen so nah zu sein wie nie zuvor.

Luis hat in Miami und South Carolina gearbeitet, als Türsteher und Bauarbeiter, als Wachmann und Dachdecker. Er und seine Brüder bauten Amerika nach der Weltfinanzkrise wieder mit auf. Sie machten America great again.

Auf dem Weg von Florida nach Texas geriet er in Alabama in eine Routinekontrolle der Polizei. Die Beamten fanden Betäubungsmittel im Auto, die einem Kollegen gehörten, aber sie glaubten Luis nicht und verbuchten ihn als Drogendealer. Er fällt damit in die Kategorie, die Präsident Trump „Ungeziefer“ nennt. Trump setzt Immigranten oft mit Verbrechern gleich, obwohl die Statistik belegt, dass die Verbrechensrate unter Migranten geringer ist als unter US-Bürgern.

20 Monate saß Luis in U-Haft. Seine Brüder übernahmen die Anwaltskosten, doch als „Illegaler“ in Alabama, einem der konservativsten Bundesstaaten, hatte er keine Chance. Während in New Yorker Gerichten 60 Prozent der Asylfälle anerkannt werden, sind es in Staaten wie Alabama nur fünf Prozent. Er dokumentierte die Morddrohungen gegen seine Familie, doch die Gegenfrage lautete: Werden Sie verfolgt aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung – gemäß der Kriterien der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1951? Kategorien, die im Jahr 2018 auf Millionen Flüchtlinge weltweit nicht mehr zutreffen. Seine Antwort lautete: „Nein. Mir droht der Tod, weil die Gang das so will. Es ist ein Terrorregime.“

Nach weiteren Wochen Abschiebehaft wird Luis schließlich deportiert. Sie stecken ihn und 200 weitere Honduraner in ein Flugzeug nach San Pedro Sula. Dreimal pro Woche landen die voll besetzten Maschinen der US-Luftwaffe in der zweitgrößten Stadt von Honduras. Sie bringen die Gescheiterten, aber eher noch: die Gefährdeten.

Vater Díaz empfängt Luis gemeinsam mit dessen Sohn am Flughafen. Es ist ein drückend heißer Tag im Januar 2018, in der Luft hängt die bleierne Schwüle vor einem Tropensturm. Die drei vergießen ein paar Tränen – der Wiedersehensfreude, aber auch der Enttäuschung und Sorge. Luis sieht erledigt aus, ein gedrungener Mann, dessen Haut lange keine Sonne gesehen hat.

Dann muss es schnell gehen. Noch in der Ankunftshalle geleitet Vater Díaz ihn über einen Seitenausgang zum Auto, damit er nicht gesehen wird. Die Gangs positionieren Späher am Flughafen, um Feinde zu identifizieren und Rückkehrer aus den USA erpressen zu können.

Vater Díaz besorgt seinem ältesten Sohn einen Job als Busfahrer – für 500 Lempira am Tag, etwa 20 Dollar. Er knüpft es an eine Bedingung: Luis müsse im Untergrund bleiben, dürfe das Haus in seiner Freizeit nur im Dunkeln verlassen, in keine Bar, an keinen öffentlichen Ort gehen. „Wir müssen genug sparen, damit du schnell zurück kannst. In einen sichereren Teil, vielleicht Kalifornien.“

Inzwischen bieten Straßenhändler in Honduras die Flucht für 8500 Dollar an. Luis könnte die Grenze auf eigene Faust überqueren, aber es gibt Berichte, dass Schleuser solche Flüchtlinge ermorden, um Nachahmer abzuschrecken.

Eine legale Rückkehr in die USA ist mittlerweile für die ganze Familie ausgeschlossen. Als Teil der im Mai ausgerufenen „Zero Tolerance Policy“ hat Justizminister Sessions in der Anordnung 3929 angewiesen, dass eine Bedrohung durch Gangs und Vergewaltigungen keinen Asylgrund mehr darstellt. Trump hat zudem Tausende Nationalgardisten entlang der Grenze stationiert und ICE-Agenten schon in Mexiko postiert, um Asylsuchende zu warnen: „Es gibt keinen Platz, um euch aufzunehmen.“ Eine Aktion, die amerikanisches und internationales Recht bricht.

Im August 2018 besuchen wir Luis erneut. Er lebt nun bei einer Frau in einem Mietshaus am Ortsrand. Er ist der impulsivste der fünf Brüder, ein gedrungener Mann, dessen Arbeit ihm ein breites Kreuz verschafft hat, wie allen Brüdern. Auch der Habitus ist ähnlich, die Sprachlosigkeit, die sich erst langsam löst, das angeeignete Misstrauen gegenüber jedem Fremden.

Sie bewegen sich jetzt frei im Ort?

„Ich ertrage die Enge nicht länger“ , sagt er. „Ich bin ein freier Mann. Dies ist meine Stadt. Ich beuge mich dem organisierten Verbrechen nicht mehr.“

Sein Vater sitzt neben ihm. Sie trinken Limonade und essen Koteletts, die die Frauen servieren.

„Du bist verrückt. Das ist lebensgefährlich“, sagt Vater Díaz.

„Alle sagen immer nur dasselbe.“

„Ein falsches Wort, und du bist tot.“

Luis blickt sich um. Er sitzt in einem dunklen Haus, das für ihn ein Gefängnis geworden ist. „Ich kann so nicht leben“, sagt er. „Ich bin Mitte 30. Man kann nicht sein ganzes Leben in Angst verbringen.“

Am nächsten Tag ist Luis wieder als Busfahrer unterwegs. Es ist Freitag, Zahltag. Er überreicht Schutzgelder an zwei jugendliche Mitglieder der Gang Barrio 18 an der Endhaltestelle in San Pedro Sula. Er überreicht Schutzgelder an die MS-13 an der Endhaltestelle in Potrerillos. Längst ist ihnen klar: Ein Díaz ist zurück. Es ist, als liefere sich Luis ihnen frei Haus.

„Ich kann ihn nicht zwingen. Er ist erwachsen“, sagt sein Vater verzweifelt.

„Ich will ein normales Leben“ , sagt Luis. „Wenn ich sterben muss, dann aufrecht.“

Dann geht er raus. Er will noch mal trinken. Die ganze Nacht.


Alex Junior – Díaz Nr. 3

Wenn einer der Díaz 5 einen Ausweg gefunden hat, dann vielleicht Alex junior. Der Mittlere. Der Ausgeglichene. Auch der Pfiffigste.

Die Fahrt zu ihm führt aus Potrerillos über sich windende Straßen in die Berge, bis der Asphalt in eine wellige Sandstraße übergeht, geformt von Platzregen und Lastwagen. An den Hängen wachsen Kaffeesträucher und Bananenstauden, endlose Plantagen, bis nach drei Stunden San Luis auftaucht, eine kleine Bergstadt mit nur drei Zufahrten. Es ist die Gegend der Cafeteros, der Kaffeebauern.

Alex junior und seine Familie leben in einem Haus, das den Südstaaten nachempfunden ist, ein Flachbau, amerikanische Küche, amerikanischer Kühlschrank, TV-Sessel.

Sie sind drei Monate zuvor zurückgekehrt nach Honduras, weil das Versteckspiel in den USA sie an den Rand des Wahnsinns führte, dieses Leben in der Illegalität. „Ich habe meinen Sohn Steven aus dem Heim in New York zurückbekommen“ , sagt Alex, „aber da war er schon depressiv. Und wir hatten ständig Angst, dass die Truppen an die Tür klopfen. Dass sie mich holen und die Kinder allein bleiben.“

Es ist wohl so: Sie sind gleichzeitig die Opfer von Trump und seine Trophäen.

Alex trägt einen korrekt gestutzten Bart und eine Baseballkappe wie alle Díaz. Sein Blick ist wach, sein Aussehen etwas urbaner, obwohl er so weit entfernt ist vom urbanen Leben wie keiner der Brüder. Er hat in San Luis einen Friseursalon aufgemacht, er nimmt 50 Lempira pro Haarschnitt, zwei Dollar, und kann alles behalten. Er ist der Einzige in der Familie, der keine „Renta“ an die Gangs zahlt.

Auf seinem Schoß sitzt Justin, sein in den USA geborener Sohn, gerade mal drei. „Er hat eine große Zukunft“, sagt Alex. „Alle Frauen werden mit ihm zusammen sein wollen, er hat die amerikanische Staatsbürgerschaft. Es gibt kein besseres Startkapital.“

Daneben sitzt sein älterer Sohn Steven, 12. Ein schmaler, schüchterner Junge, der von einem Trauma (Flucht) in das nächste geriet (Familientrennung) und später in ein weiteres (Deportation). Ein Gespräch mit Steven über die Vorkommnisse ist nicht leicht. Er hat die erzwungene Trennung durch US-Beamte als Entführung erlebt, als Entreißen aus dem Schutz der Familie und brutale Überführung in ein Internierungslager 3000 Kilometer entfernt. „Die Betreuer in New York waren nett, aber ich habe mich gefühlt wie ein Verbrecher.“

Jetzt aber, so sagt er, sei die Lage am allergefährlichsten. Er ist in dem Alter, wo die Gangs ihn mit Gewalt rekrutieren und zum Töten abrichten könnten – Hauptgrund für die Flucht vieler Teenager. Ihm bliebe dann nur die Wahl: mitmachen und morden. Oder fliehen. „Ich möchte nur leben“, sagt er.

Hier in San Luis sind sie einigermaßen in Sicherheit. Sie leben im „Narcoland“. Die Drogenkartelle haben sich in Zentral-Honduras eine heile Welt geschaffen. Sie waschen hier ihr Geld und investieren es in Landepisten, Kaffeeplantagen, Ländereien. Sie sind nicht so sehr schräge Typen, sondern Anzugträger, Anwälte, Söhne von Präsidenten, Minister. Sie haben ihre eigene Privatarmee. Sie sind besser bewaffnet als Staat und Gangs zusammen.

Die Maras haben versucht, ins Territorium einzudringen, wurden aber abgefangen und ermordet. Es ist nicht anders als zwischen Staaten: eine Frage der besseren Rüstung.

Alex sagt: „Die Narcos töten die Leute wie uns wenigstens nicht. Sie knöpfen ihnen auch keine Schutzgelder ab. Sie wollen nur in Ruhe ihr Business durchziehen.“ Für ihn sind sie das geringere Übel. Sie machen ihr Geld mit Drogen und den Süchten der Yankees. Die Maras dagegen machen es mit Terror an der Bevölkerung. „Man kann das Business der Narcos kritisieren, aber Moral ist ein Luxus, den man sich in Honduras nicht leisten kann“, sagt Alex.

Könnte das die Lösung für Honduras sein? Gar ein Modell? Die Drogenmafia vertreibt die mordenden Gangs unter den Augen des Staates? Es klingt wie der Stoff eines dystopischen Films.

Vater Díaz kommt zu Besuch. Es ist August 2018. Die USA haben die Tore für Honduraner inzwischen endgültig geschlossen. Sein Sohn Oscar hat bereits eine vorgezogene Vorladung vor das Abschiebungsgericht erhalten. Díaz senior ist besorgter noch als bei unserem ersten Treffen 18 Monate zuvor. Er sucht einen sicheren Ort für die ganze Familie und fragt sich: Könnte er Luis hierher zu Alex schicken? Sogar Miguel und Oscar aus Amerika? Alle vier ihm gebliebenen Söhne?

Es könnte, so glaubt er, die vorübergehende Rettung der Familie Díaz sein, der zarte Hoffnungsschimmer inmitten der Tragödie:

Exil im Narcoland.