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True Story Award 2019
Awarded the 1st Prize

Monitor 1

Der sechzigjährige Ojub Titijew ist im Januar 2018 verhaftet worden. In seinem Auto wurden angeblich Drogen gefunden. Menschenrechtsaktivisten bezeichnen die Vorwürfe als konstruiert. Ojub Titijew, ein ehemaliger Lehrer und Boxtrainer, leitete neun Jahre lang die tschetschenische Abteilung von Memorial, nachdem die frühere Vorsitzende Natalja Estemirowa entführt und ermordet worden war. Bis zu seiner Verhaftung hatte fast niemand von Titijew gehört, und nur wenige wussten, dass Memorial in Tschetschenien immer noch aktiv war. Erstaunlich ist das nicht, denn Titijew arbeitete im Geheimen. Faktisch waren er und seine Kollegen eine kleine Partisanentruppe, aber eine, die die Menschen rettet und sie nicht umbringt. Der Moskauer Journalist Schura Burtin kennt Titijew schon lange. Als er verhaftet wurde, fuhr Burtin nach Tschetschenien – um durch Ojub Titijews Biografie die Nachkriegsgeschichte dieser Republik zu erzählen.

«Ich erinnere mich, wie Mama ihm einmal hinten einen Flicken auf die Hose genäht hat», erzählt Ojubs ältere Schwester. «Er war in der zweiten oder dritten Klasse. Mama sagte: ‹Trag diese Hose für die Schule, die andere ist noch feucht.› Er hat sich unwillig angezogen, hat seine Sachen gepackt und ist mit seiner Schultasche los, ohne ein Wort. Mama sagte zu mir: ‹Ich weiss, dass er sich jetzt irgendwo versteckt. Lauf ihm unauffällig nach.› Ich bin los, ihm nach. Er stand um die Ecke bei den Nachbarn, war nicht weitergegangen. Ich wartete und wartete, aber er kam nicht raus. Da ging ich zu ihm und sagte: ‹Mama wird schimpfen …› Unsere Mutter war noch ziemlich streng. ‹Guck mal, ist doch überhaupt nicht zu sehen. Geh heute so, Ojub. Setz dich einfach hin, und niemand wird etwas merken.› Da ist er widerwillig losgegangen. An diese Geschichte erinnere ich mich aus irgendeinem Grund ständig, warum weiss ich nicht.»

Ich hatte nicht vor, diese Episode einfliessen zu lassen, sie schien mir zu wenig aussagekräftig. Aber dann merkte ich, dass auch ich mich ständig an sie erinnerte. Vermutlich deswegen, weil sich in ihr tatsächlich Ojubs eigentliche, scheue und eigensinnige Natur zeigt.

Ojub Titijew habe ich vor zehn Jahren kennengelernt, er war ein Freund und Kollege meiner Schwester. Zusammen bauten sie in den tschetschenischen Bergregionen zerstörte Schulen wieder auf und transportierten Kranke und Verletzte zur Behandlung nach Moskau. Er war ein schweigsamer Mann mittleren Alters, auf den ersten Blick ohne besondere Auffälligkeiten.

Ich sollte damals einen Text über das tschetschenische Gewohnheitsrecht schreiben, die Adaten, und Ojub fuhr mit mir für ein paar Tage durch die Berge, machte mich mit einigen der Ältesten bekannt. Aus irgendeinem Grund kannte er dort alle. Er erwies sich als angenehmer Mensch, und man spürte sofort, dass er sehr zuverlässig war. Zugleich war sein Verhalten auf dörfliche Weise einfach und direkt, sodass wir sofort zum «Du» übergingen, obwohl er um einiges älter war als ich. Damals habe ich gemerkt, dass sich hinter dieser gemächlichen Art noch etwas anderes verbirgt. Wenn er von den Dörfern erzählte, erwähnte er manchmal Kriegshandlungen, die sich dort ereignet hatten – inklusive der Nummern von Einheiten, Namen von Kommandeuren, den genauen Zahlen der Opfer und den konkreten, schrecklichen Umständen ihres Todes. Und wer, wann, bei wem und für wie viel den Körper dieses oder jenes Getöteten freigekauft hatte. Ich spürte, dass er das alles ganz genau wusste und dass seine Informationen nicht aus dem Internet stammten.

Später verstand ich, dass Ojub weitaus besser informiert war als alle mir bekannten Memorial-Mitarbeiter, anderen Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Es schien, als wüsste er bis ins letzte Detail über alles Bescheid, was in Tschetschenien passiert ist und bis heute passiert. Auf jede Frage hatte er für gewöhnlich eine kurze, konkrete Antwort. Manchmal sagte er zum Beispiel «Nein, so war es nicht» – und es war klar, dass keine weiteren Ausführungen folgen würden, sondern dass dies genau so viel an Information war, wie es für das Verständnis der Situation notwendig war. Sein Wissen hat Ojub nie kommentiert und war auch offensichtlich nicht stolz darauf. Er sah aus wie ein bescheidener Dorflehrer, der aus unerklärlichen Gründen die Last ungeheuren Wissens über das menschliche Leid auf seinen Schultern trägt.

Obwohl wir öfter freundschaftliche Gespräche führten, hat Ojub nie etwas Persönliches erzählt. Daher wusste ich lange nicht, was ich sonst noch über ihn schreiben könnte.

«In Tschetschenien wird kaum jemand überhaupt mit dir reden», sagte mir eine Bekannte von Ojub. «Ich jedenfalls würde es nicht tun, wenn ich dort wäre ...»

Sie hat sich geirrt: Mir fehlte die Zeit, mich mit allen zu treffen, so viele wollten etwas über Ojub erzählen. Allerdings kann ich keinen einzigen der Tschetschenen hier beim Namen nennen. Ich konnte bei niemandem zu Gast sein, musste immer in Hotels übernachten. Jeder Einheimische, der in diese Geschichte verwickelt ist, geht ein grosses Risiko ein.

Vergebung

Es gibt ein Ereignis in Ojubs Kindheit, das vermutlich einen starken Einfluss auf sein Schicksal hatte: Sein Vater, ein Dorfpolizist, tötete einen Menschen. Es war ein unglücklicher Zufall, und die Unschuld des Vaters war allen klar. Die Titijews baten um Vergebung, und die Sippe des Getöteten verzieh ihnen. In Tschetschenien gilt das Gesetz der Blutrache: Ein Mord kann nicht ungesühnt bleiben. Die Familie des Getöteten muss sich entweder rächen oder der Familie des Mörders vergeben. Lange Verhandlungen werden geführt, Kompensationen vorgeschlagen, religiöse Autoritäten und die Ältesten anderer Sippen hinzugezogen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Blutrache nicht das Recht der Familie ist, sondern ihre Pflicht. Ihr Umfeld erwartet von ihr, dass sie Gerechtigkeit ausübt. Einen Mord nicht zu rächen würde bedeuten, den Ruf der Sippe zu zerstören – und dieser ist die Grundlage der gesamten Lebensführung. Vergebung ist möglich, doch dafür braucht es eine spezielle Prozedur und gewichtige Begründungen, mit denen alle einverstanden sind.

Eine Vergebung erlegt der Familie des Mörders ungeheure Verpflichtungen auf. Ab sofort muss sie der Familie des Getöteten beistehen und in allen schwierigen Situationen immer als Erste hilfreich zur Stelle sein, so als würde sie den Verstorbenen zu ersetzen versuchen.

«Wir sind jetzt für die Familie des Mannes, den Titijews Vater getötet hatte, wie Verwandte», erzählt Ojubs Schwester. «Seit damals helfen wir ihnen. Wir haben ihnen geholfen, als ihr Sohn geheiratet hat, und wir helfen ihnen im Herbst und Frühling auf den Feldern. Als eine normale Familie sind wir dazu verpflichtet, ihnen auf diese Art beizustehen.»

Das soziale Leben des Mörders ändert sich fundamental: Es ist, als wäre er tot oder lebte in ewiger Trauer. Er muss seinen Heimatort verlassen oder, wenn er bleibt, sich äusserst demütig verhalten: Er darf nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen, kann keine Versammlungen der Dorfgemeinschaft besuchen, nicht unter die Leute gehen.

«Ihr Vater gab seine Arbeit auf und musste von da an zu Hause sitzen, durfte sich niemandem zeigen», erzählt ein Freund der Familie Titijew. «Und während er zu einem solchen Leben gezwungen war, lud die Mutter die Verantwortung für die Familie auf ihre Schultern. Es war hart für sie ... und sie war eine so starke Frau.»

Ojubs Vater war ein sehr weicher Mensch und, der sowjetischen Ordnung zum Trotz, gläubig. Die Mutter dagegen war sehr streng. Ojub war der jüngste von vier Brüdern. Ich vermute, dass die Tragödie des Vaters Ojub stark geprägt hat – sie hat seine Verschlossenheit, Bescheidenheit und Abneigung gegen Gewalt verstärkt. Und mir scheint, dass Ojub sein ganzes Leben ein Gefühl der Schuld mit sich herumtrug.

Der Sportlehrer

Ojub machte einen Abschluss am Agrarinstitut und an einer Hochschule in Nowgorod und fing nach der Rückkehr nach Kurtschaloj an, als Sportlehrer an einer Schule zu arbeiten. Mitte der 1980er-Jahre gründete er dort mit einem Kameraden einen Boxverein, einen der ersten in Tschetschenien. Alle seine Freunde sagen, dass Ojub hingebungsvoll, ja fanatisch in Sport vernarrt ist.

«Er hat einen der Boxklubs in Tschetschenien aufgebaut, aus dem seither einige Champions hervorgegangen sind», erzählt Alexander Tscherkassow, der Vorsitzende von Memorial. «Er hat sich da sehr reingehängt. Das Schicksal dieses Klubs ist ihm überaus wichtig, genauso wie das seiner Schüler. Die Leidenschaft für den Sport ist nicht irgendein beliebiger Charakterzug, sondern ein Grundpfeiler seines Lebens.»

Ich kann mir Ojub, mit seinem Ernst und seiner Wortkargheit, sehr gut in der Rolle des Trainers vorstellen. Ich stelle mir vor, dass er seine Schüler sehr liebt, wenn er es sich auch nicht anmerken lässt; wie geduldig er mit ihnen ist. Dieser Verein hat in seinem Leben eine bedeutende, widersprüchliche Rolle gespielt.

Während der Perestroika verliess Ojub die Schule. Anscheinend handelte er mit Möbeln und anderem Kram und führte einen kleinen Laden in Gudermes. Er heiratete. Erzählungen nach zu urteilen, war er damals anders: ein fröhlicher, offener und kontaktfreudiger junger Mann. So verlief sein Leben bis zum Kriegsausbruch. Und als russische Truppen in Grosny einmarschierten, schloss sich Ojub, so wie viele andere, der Dudajew-Miliz an. Er hörte dabei nicht auf die Meinung seiner älteren Brüder.

«Am Anfang lauteten die Aufrufe so: ‹Los jetzt, raus mit euch! Ehefrauen, Mütter – lasst eure Männer gehen! Wenn du ein Mann bist – verkauf die Kuh und kauf dir eine Maschinenpistole!› Na ja, einige haben sich verleiten lassen, ehrliche, gute Männer», erzählt Jakub Titijew. «Aber als Dudajew im Fernsehen erschien, habe ich meinen Brüdern von Anfang an gesagt: ‹Nein, diesem Schnauzer werde ich nicht hinterherlaufen, das ist kein männlicher Schnauzer. Wenn es sein muss, finden wir Waffen, gehen raus. Wir sind zu viert. Aber im Moment macht es keinen Sinn, sich zu verteidigen. Niemand hat vor, uns die Heimat wegzunehmen.›» Ojub ging trotzdem. Ihm folgten viele Jugendliche aus dem Dorf, darunter seine Schüler. Aber er ist nicht lange in Grosny geblieben.

«Seine Mutter und Schwester sind hingefahren», erzählt einer seiner Freunde, «und haben auf den Knien, weinend, auf ihn eingeredet, dass der Vater weg sei und er die Familie nicht einfach im Stich lassen könne und so weiter. Seine Mutter sagte ihm: ‹Wenn du jetzt nicht gehorchst und mitkommst, dann bist du nicht mehr mein Sohn.› Und Ojub fühlte sich so schuldig gegenüber seiner Mutter, dafür, dass sie so wenig vom Leben gesehen hatte, dass sie es immer so schwer gehabt hatte ... Und so musste er mitgehen.»

Ojub gehorchte und kehrte heim. Aber seine Schüler blieben dort, um zu kämpfen. Sie kamen um, siebzehn an einem Tag. Ojub lief über das Feld und las sie in Einzelteilen auf – hier einen Arm, dort ein Bein, irgendwo anders einen Stiefel.

Depression

Nach dem Tod seiner Schüler verliess Ojub lange Zeit das Haus nicht, sprach mit niemandem. Die Freunde dachten, er sei durchgedreht.

«Die ganze Zeit sass er da, meisselte steinerne Tschurty – die hiesigen Grabsteine –, und setzte sie auf ihre Gräber. Es war ein schwerer Schlag für ihn, dass er zurückgekehrt war und sie gestorben waren.»

Alle sagen, dass Ojub die nächsten Jahre in einem depressiven Zustand verbracht hat. Sein Charakter veränderte sich. Er wurde zu dem stillen und nachdenklichen Menschen, den wir heute kennen. Er half den anderen Dorfbewohnern, nach in Gefangenschaft geratenen Verwandten und den Leichen der Getöteten zu suchen, und sie bei den föderalen russischen Kräften freizukaufen.

«Normalerweise haben sich die Frauen um die Suche nach den Verschollenen gekümmert. Die Männer mussten sich damals hinter den Frauen verstecken, weil es zu gefährlich war. Aber Ojub hatte keine Angst. Er hat sich nie unter einem Rock verkrochen», erzählt ein Freund.

Ich glaube, dass Ojub damals, in diesem Zustand, gelernt hat, sehr gefährliche Dinge zu tun und beim Erledigen einer Aufgabe die Angst vollständig zu ignorieren. Möglicherweise versuchte er auf diese Weise, seine Schuld zu bereinigen. Oder er hoffte, dabei umzukommen.

«Er hat unheimlich viel riskiert», erzählt ein Nachbar. «Da gab es diesen Rebellenführer namens Radujew, erinnern Sie sich? Er marschierte in Gudermes ein, seine Leute begannen zu schiessen. Die Föderalen haben es ihnen dann mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich bin mit Ojub nach Gudermes gefahren, durch das Zentrum, über die Brücke, alles war voller Leichen. Einen der Toten habe ich sogar erkannt, Nikolaj Narenko, er arbeitete bei der Verkehrspolizei. Die Leute flüchteten zu Fuss aus der Stadt: Bomben fielen, es wurde geschossen. Und Ojub begann, in seinem Auto die Leute aus der Stadt zu fahren. Während die Bomben fielen, fuhr er den ganzen Tag hin und her. Den Seitenflügel haben sie ihm durchlöchert, ein riesiges Loch war darin. Danach hat er die Leichen bestattet ...»

Es muss damals gewesen sein, dass Ojub anfing, sich alles zu merken, was er über die Geschehnisse erfuhr. Alle Kollegen sagen, dass sie oft über sein phänomenales Erinnerungsvermögen für Daten, Zahlen und Ereignisse staunten. «Wahrscheinlich kann nicht einmal ein Computer so viel behalten. Seit 1990 – jedes Jahr, jeden Monat, jeden Tag, wann sich etwas ereignet hat, was an welchem Tag geschehen ist. Wenn zum Beispiel jemand getötet wurde, hat er sich buchstäblich alles gemerkt. Sein Erinnerungsvermögen machte mich sprachlos», berichtet ein Nachbar.

«Bei den Muslimen und den Juden gibt es diese Überzeugung», sagt Tscherkassow. «Wenn du nichts tun kannst, nicht einmal etwas sagen – dann kannst du dich zumindest erinnern. Auch das wird dir am Tag des Jüngsten Gerichts mit angerechnet.»

Der Freiwillige

Ojubs Laden in Gudermes brannte im Krieg bis auf die Grundfesten nieder. Seine Schwager wollten ihn wieder aufbauen, aber Ojub hatte das Interesse daran verloren. Er kehrte in die Schule zurück, in der sein älterer Bruder Sultan als Direktor arbeitete. Das Schulgebäude war zerstört worden, die Brüder bauten es mit blossen Händen wieder auf. Ojub unterrichtete dann Sport und Geschichte. Als der Zweite Tschetschenienkrieg begann, war es wieder Ojub, der die Dorfbewohner aus den russischen Filtrationslagern rausholte.

Im Jahr 2000 kam Natascha Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial in Kurtschaloj an. Sie sammelte Daten über die Getöteten und Verschleppten. Man verwies Natascha an Ojub, der sich anbot zu helfen. So lernten sie sich kennen, und von da an besorgte er Informationen für sie.

Zu Beginn beäugten Ojub und die Memorial-Mitarbeiter einander misstrauisch. Der Menschenrechtsaktivistin Swetlana Gannuschkina kam es so vor, als würden sie wohl nicht gut miteinander arbeiten können: «Er lächelt selten, kriegt die Lippen nicht so recht auseinander. Wie soll man mit so einem Menschen arbeiten? Seine erste Reaktion, sein Gesichtsausdruck schienen zu sagen, dass das, was wir da machen, Mumpitz sei. Aber mit der Zeit erkannte er, dass wir es ernst meinen.»

Alle seine Freunde sagten mir, dass Memorial für Ojub die Rettung war und er ansonsten definitiv verrückt geworden wäre. Anfangs gab er einfach als Freiwilliger Informationen weiter. Er hielt alles handschriftlich fest und fuhr über fünfzig Kilometer und Dutzende von Checkpoints nach Chassawjurt, um die Dokumente nach Moskau zu schicken. Er unterschrieb nicht mit seinem Namen, sondern einfach nur mit «Monitor 1».

In den 2000er-Jahren hatte sich Tschetschenien dem Kadyrow-Clan noch nicht vollständig unterworfen. Moskau unterstützte mehrere bewaffnete Clans gleichzeitig, die um die Macht kämpften oder ihre Unabhängigkeit verfochten: die Jamadajews, die Baisarows, die Kakijews und die Chassambekows. Das war ein blutrünstiger Haufen. Das Dorf Kurtschaloj gehörte zum Hoheitsgebiet von Chamsat Edelgirijew, dem Chef der örtlichen Polizei, der berüchtigt war für seine unglaubliche Brutalität. Es hiess, er habe keine Angst vor Ramsan Kadyrow. In den Bergen nahe dem Dorf Jalchoi-Mochk unterhielt er ein geheimes Privatgefängnis, in dem Entführte gefoltert wurden. Die Polizeistation von Kurtschaloj befand sich hundert Meter von Ojubs Haus entfernt. «Diese Polizeieinheit war eine der schlimmsten in ganz Tschetschenien», sagt Jelena Milaschina, eine Journalistin der Nowaja Gaseta [Neue Zeitung]. «Er riskierte damals jeden Tag sein Leben. Uns wurde bewusst, dass wir abends von der Arbeit nach Hause gingen, er aber in die Höhle des Löwen zurückkehrte.»

Das Dorf

In Gesprächen mit Verwandten und Nachbarn entdeckte ich eine Seite von Ojubs Leben, über die ich zuvor noch nichts gehört hatte: In Kurtschaloj und weit über die Dorfgrenzen hinaus wird er als Friedensrichter hoch geschätzt.

Zuallererst muss man verstehen, dass es in Tschetschenien zwei gesellschaftliche Sphären gibt. Es gibt eine äussere Sphäre – über sie wird im Fernsehen gesprochen – und eine dörfliche, die durch Clanzugehörigkeiten [Taip] und tschetschenisch-inguschetisches Brauchtum [Wajnach] definiert wird. Hier werden Bräute umworben und entführt, wird geheiratet und sich getrennt, geboren und gestorben, flammen Konflikte zwischen Familien auf und werden gelöst, hier wird fern aller Augen und Ohren Blutrache geübt und werden Friedensgerichte abgehalten.

Der wichtigste Faktor hier sind verwandtschaftliche Verbindungen. Es ist ein durch und durch öffentliches Leben, wenn es sich auch, in unserem Verständnis des Wortes, völlig unöffentlich präsentiert. Ein Konflikt, selbst wenn alle drumherum davon wissen, gilt als die private Angelegenheit zweier Familien. Niemand würde darüber in der Zeitung berichten. Aber jeder Tschetschene lebt, auf Gedeih und Verderb, in beiden Sphären, und jedes komplexe Ereignis lässt sich in diesen zwei Dimensionen interpretieren.

«Wenn beispielsweise jemand in einen Streit geraten war», erzählt ein Verwandter, «oder jemand einen Unfall verursacht hatte, bei dem der andere Fahrer starb, dann haben die Leute Ojub gerufen, wenn es um die Versöhnung ging. Wenn er kommt, um zu reden, können jene die Vergebung nicht verweigern, denn ein angesehener Mann erbittet sie. Nicht nur Verwandte haben ihn gerufen, auch andere Dorfbewohner, Menschen aus Nachbardörfern, aus der ganzen Republik. Ich erinnere mich, dass sogar Leute aus Inguschetien zu ihm kamen.»
«Und womit kamen die Menschen zu ihm?»
«Keine Ahnung, das war doch eine Sache zwischen ihnen. Wenn ich zu ihm gegangen bin und ihm etwas erzählt habe, hat er das nie jemandem weitergesagt.»

«Es gibt Regeln der Scharia, des Korans», erklärt Jakub Titijew, «und es gibt das überlieferte Recht, die Adaten. So oder so muss Gerechtigkeit herrschen. Wenn die Menschen einen Weg suchen, um eine Sache still zu regeln, heisst es: ‹Kommt, gehen wir zu Ojub – oder zu Usman oder Magomed?› ‹Ja, gehen wir.› Es hat sich schon herumgesprochen, dass der oder der objektiv und ehrlich richtet. Am Anfang wird ein mündlicher Vertrag geschlossen: ‹Mein Urteil wird endgültig sein, beide Seiten müssen es akzeptieren. Wenn nicht, fange ich gar nicht erst an.› Egal was er entscheiden wird, ob du im Recht bist oder schuldig – es bleibt dabei, Punkt und aus. Du hast nicht das Recht, dich zu beschweren.»

Bei Memorial wusste man über diese Seite Ojubs nur wenig. Aber es lässt erahnen, woher Ojub so viele Kontakte hatte.

Die dunkle Seite

«Wenn ich in Tschetschenien ankam, setzten wir uns jeweils irgendwo hin, und er erzählte mir bis ins kleinste Detail, was hier gerade passierte», erzählt die Menschenrechtsaktivistin Jekaterina Sokirjanskaja. «Menschen wurden entführt, irgendwo in illegalen Gefängnissen festgehalten, gefoltert und schliesslich ermordet. Er hat Hunderte solcher Fälle bearbeitet, Hunderte menschliche Schicksale. Die Körper hat man entweder Gott weiss wo verbuddelt oder einfach irgendwo hingeworfen, wo sie jemand dann fand und auf irgendeinem Dorffriedhof begrub. Er forschte lange und gründlich nach, stellte Verbindungen her und fügte lose Enden zu einem Muster zusammen – und dann prüfte er und vergewisserte sich, bis das Bild vollständig war.»

«Ojub verstand, dass man die Ereignisse festhalten und dokumentieren musste, denn die Leute gingen weg. Sowohl die Verwandten als auch die lokalen Einwohner, die jene Körper gewaschen und begraben hatten. Noch erinnerten sie sich, wie die Leiche ausgesehen hatte, wie sie bekleidet gewesen war. Aber es war klar, dass diese Informationen bald für immer verloren sein würden», fährt Sokirjanskaja fort. «Man musste zu den Leuten rausfahren, meistens waren es Ehefrauen und Mütter, und ihre Aussagen aufnehmen. Diese Leute zu zwingen, sich noch einmal zu erinnern, ist psychisch sehr anstrengend. Und es war überraschend, wie viel die Menschen vergassen. Manchmal konnten selbst Mütter sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Kinder erinnern, an welchem Tag es passiert war, in welchem Monat. Manches behielten sie sehr genau, und andere Details verschwanden vollständig. Wir verstanden, welche Menge an Information da verloren ging.»

Mit der Zeit stellte Ojub für Memorial eine einzigartige Datenbank zusammen, mit der man nicht nur die Vermissten suchen, sondern auch die Täter ermitteln konnte – auch Täter innerhalb des Militärs. Er musste alles Mögliche überprüfen: alte Gerichtsverfahren dieser Menschen, Daten der Staatsanwaltschaft, Anfragen von Anwälten. Musste sie systematisieren, sämtliche Informationen über einen Verschollenen zusammenführen oder mehrere Fälle miteinander verbinden, denn oft verschwanden Menschen in Gruppen, zum Beispiel in der Nähe einer bestimmten Militärbasis. Laut Memorial wurden in Tschetschenien in den 2000er-Jahren drei- bis fünftausend Menschen durch Silowiki [die Sicherheitskräfte] entführt und ermordet.

Der einsame Wolf

«Als wir anfingen, mit ihm zusammenzuarbeiten», berichtet die Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, «erzählten die Moskauer, dass er der Typ ‹einsamer Wolf› sei. Meine Tochter war Sekretärin und hatte sogar Angst, mit ihm an einem Tisch zu sitzen und zu Mittag zu essen, so ernst war er. Und er sagte mir selbst, er habe das Gefühl, dass man ihn nicht möge und ihm aus dem Weg gehe, weil er nicht besonders charmant sei.»

«Wenn du ihn dir so anschaust, wirkt er wie ein harter Kerl aus den Bergen», sagt eine Memorial-Mitarbeiterin. «Aber dann wird dir plötzlich klar, dass er – im Gegenteil – sehr emotional ist und versucht, das irgendwie zu verbergen. An ihm war nichts Grossspuriges, Machohaftes. Beispielsweise, wenn irgendwelche Feiertage anstanden, wo man den Mädels was schenkt. Menschen eine Freude zu machen war ihm sehr wichtig, aber es fiel ihm nicht leicht. Er bringt uns irgendwas mit und hat dabei so ein bescheidenes, kindliches Lächeln auf den Lippen: ‹Hier, greift zu.› Seine Gesten waren von einer rührenden Tollpatschigkeit.»

Ojub hat sehr nette Neffen, sie sind um die dreissig, Bauarbeiter. Beide sind Ojub ähnlich, aber auf unterschiedliche Art und Weise: Einer tschetschenisch-rau und reserviert, der andere, ganz im Gegenteil, offenherzig, sanft und zugänglich.
«Ojub hat nie mit mir geschimpft, wenn ich etwas angestellt hatte. Er hat niemals mit irgendjemandem geschimpft …» Der offenherzige Neffe verbirgt sein Gesicht in der Armbeuge und weint.

«Wir haben einmal bei ihnen im Hof gearbeitet, haben Beton angemischt. Ojub war unten, ich schleppte die Eimer zu ihm, reichte sie ihm runter. Er hat da unten irgendwas gemacht, war vornübergebeugt, und Jusuf sagte zu ihm: ‹Wenn du jetzt den Eimer nicht nimmst, giesse ich ihn über dir aus ...› In dem Moment hat Ojub aufgeschaut, aber der Henkel ist gerissen, und er hat die ganze Ladung abbekommen, direkt ins Gesicht. Er hat kein Wort gesagt, hat sich den Beton aus den Augen gewischt und hat nur gelächelt. Wäre Jakub an seinem Platz gewesen, der hätte uns erschossen.»

«Er hatte mal seinen Wolga auseinandergenommen – Ersatzteile, Stossstange, Türen. Was ging, legte er aufs Dach, um die Teile später wieder zusammenzusetzen», erzählt ein Nachbar. «Eines Tages sitzt er zu Hause und hört, dass jemand auf dem Dach herumläuft. Er schaut aus dem Fenster und sieht einen Dieb. Ojub kannte ihn, der hatte auch einen Wolga. Er nahm alles mit, was er brauchte, und verschwand leise wieder. ‹Wie, du hast nichts gesagt?› ‹Nein, was soll ich ihm denn sagen?›»
«Die ganze Familie sass zusammen und sah fern. Da erinnerte sich Ojub, dass die Nachbarn keinen Fernseher hatten, sie lebten sehr ärmlich. Er schaltete den Fernseher ab, packte ihn ein und brachte ihn rüber.» «Seine Frau erzählte da mal was, ungefähr einen Monat vor seiner Verhaftung. Er kam nach Hause und sagte: ‹Haben wir noch Lebensmittel, Zwiebeln und Kartoffeln? Leg einen Vorrat an, diesen Monat gibt’s kein Gehalt.› ‹Aber du hast es doch schon bekommen.› ‹Ja, ich hab’s abgegeben, um den Armen zu helfen.› In den Bergregionen half er einfach allen. Die Nähmaschine hatte er auch weggegeben! Und seine Ehefrau machte das mit ...»
«Wenn Ojub irgendwohin unterwegs ist und an einer Beerdigung vorbeifährt, macht er da definitiv halt. ‹Weil auch du sterben musst›, das waren immer seine Worte.»

«Russen gegenüber ist er tolerant, aber mir fällt in seiner Gegenwart schon das Rauchen schwer», erzählt ein Memorial-Mitarbeiter. «Vom Trinken fange ich gar nicht erst an. Wir waren auf einem Seminar und ich hatte Geburtstag. Eine Kollegin sagte: ‹So, darauf stossen wir mit einem Wein an! Komm schon, was ist los? Gestern hast du doch auch getrunken.› Und ich sah es in Ojubs Augen: ‹Alkoholiker!›»

«Er hat sich selbst das Schweissen beigebracht», erzählt ein Nachbar von Ojub. «Er reparierte alles, für alle. Wenn im Dorf irgendwas passierte, ein Unfall oder irgendein Unglück, warf er alte Klamotten über, und los ging’s. Man muss ihn nur anklingeln oder an sein Tor klopfen, selbst um drei Uhr morgens, ganz egal, er steht auf: ‹Wie kann ich helfen?› Als ich mein Haus gebaut habe, hat er mehr als ich gearbeitet.»

«Bei ihm gibt es kein Meins und Deins. Als wir in Gudermes arbeiteten, hatte er einen Shiguli, so einen roten. Wir alle fuhren ständig mit diesem Wagen. Er hat ihn nie jemandem verweigert. Einer kam, stellte das Auto ab – ich setzte mich hinein und fuhr los. Ich kam zurück, ein anderer fuhr los. Und einer der Verkehrspolizisten aus Gudermes sagt: ‹Hör mal, jetzt sag mal ehrlich, wem gehört dieses Auto wirklich?›»

«Ich habe ihm mal ein italienisches Sakko geschenkt, das mir zu gross war. Er befingerte es. ‹Gute Qualität, wie viel hast du dafür gezahlt?› ‹Fünfundvierzigtausend.› ‹Was denn, bist du übergeschnappt?! Weshalb so viel Geld ausgeben? Du hättest es doch einem Armen geben können.›»

Sein Leben lang hat Ojub ernsthaft Sport betrieben. Nachbarn erzählten, dass sie vor ungefähr fünfzehn Jahren nachts an sein Tor klopften und ihm sagten, dass das Haus seines Bruders Jakub in Flammen stehe. Irgendwo war Gas ausgetreten. Ojub rannte los, um zu helfen. Aber er schaffte es nicht ans andere Ende des Dorfs, die Puste ging ihm aus. Von da an trainierte er täglich.

«Abends brauchte man Ojub nicht zu suchen, er war immer in der Sporthalle», erzählt ein Nachbar. «Jeden Tag, selbst wenn er von morgens bis abends geackert hatte. Er trainierte mit Hanteln, ungeachtet seines Alters. Ein herausragender Boxer war er immer schon gewesen. Es verging kein Tag, an dem er nicht acht Kilometer gejoggt ist. Und jeden Sonntag in Gudermes zwanzig Kilometer. Einmal hat er mit einem Freund gewettet. Ojub warf sich eine kugelsichere Weste über, achtzehn Kilogramm, und sie liefen zu zweit los. Sein Freund hielt keine vier Kilometer durch, aber Ojub lief hin und zurück, ohne einmal anzuhalten.»

Sport war für Ojub ein Teil seiner Ethik: Wollte er den Menschen helfen, musste er kräftig sein.

«Er schrieb uns einen Brief», erzählt ein Neffe, «ich habe ihn hier im Telefon: ‹Helft allen, sowohl Verwandten als auch Fremden. Ein Mann muss all jenen helfen, die in Schwierigkeiten stecken. Nicht immer werdet ihr die Möglichkeit dazu haben. Solange ihr jung und gesund seid: Helft euren Mitmenschen. Wo auch immer ihr gerade seid – helft!› Ich kann jetzt nicht alles ins Russische übersetzen, aber es ist ein sehr schöner Brief. Weiter schreibt er: ‹Und geht auf jeden Fall trainieren!›»

Die Berge

Als Ojub und ich einmal durch Tschetschenien fuhren, erzählte mir ein weiser Alter vom «Weg des Konach». Der Konach, was auf Tschetschenisch so viel wie Krieger oder Bewahrer bedeutet, ist die zentrale Figur der traditionellen tschetschenischen Ethik. Zunächst einmal hat er sich streng an alle traditionellen Verhaltensregeln zu halten. Es ist ein permanentes Training des Aushaltens und der Selbstbeherrschung.

Zweitens ist der Konach für die Schwächeren verantwortlich. Zuallererst muss er sich um seine Familie kümmern, aber in diese Familie kann er auch weitere Personen aufnehmen: Zum Beispiel kann er geloben, alle Nachbarn, Kinder, Frauen und einsame Alte zu verteidigen, und noch einiges mehr. Einige legendäre Konachen übernahmen die Verantwortung für ganze Dörfer oder Taips. Das bedeutete, dass jeder mit der Bitte um Hilfe zu ihnen kommen konnte – und der Konach musste für ihn einstehen, so wie er für seinen leiblichen Bruder einstehen würde. Die wichtigste Eigenschaft des Konach, erklärte der Alte, ist die Bescheidenheit. Du nimmst Verantwortung auf dich, aber stellst diese nicht zur Schau.

Der Konach konnte fremdes Blut auf sich nehmen, um stellvertretend zum Subjekt einer Blutfehde zu werden und dem Töten so ein Ende zu setzen. Die stärksten Konachen nahmen die Verantwortung für alle um sich herum auf sich – und schworen dann der Gewalt ab. Ein mächtiger Konach ist unbewaffnet, aber durch sein Verhalten rüttelt er das Gewissen der Täter wach. Ich habe nie mit Ojub darüber gesprochen, aber ich denke, dass er in ebendiesem Koordinatensystem lebte.

Einer seiner engsten Freunde sagte mir: «Wissen Sie, all diese Abreks, die jungen Helden aus den Märchen, die uns die Grossmütter erzählten, waren für ihn nicht bloss mythologische Gestalten. Für Ojub waren sie ganz einfach Vorbilder, denen er nacheiferte.»

2002 wurde Ojub zum ständigen Mitarbeiter von Memorial in Gudermes. Zusätzlich zum Monitoring von Morden und Entführungen stiessen er und seine Kollegen auch soziale Projekte an. Sie organisierten Kurse im Kampf gegen den Analphabetismus. Gemeinsam mit dem Komitee für Zivile Zusammenarbeit halfen sie den Kranken und Verletzten in den vom Krieg ruinierten Bergdörfern.

Das Gesundheitssystem war vollständig zerstört. Es gab weder Krankenhäuser noch Ärzte, aber eine riesige Zahl an kranken und verstümmelten Menschen. Zuerst mussten diese Menschen gefunden werden, denn die Bergbewohner hatten vergessen, dass es etwas wie ärztliche Hilfe überhaupt gab. Meine Schwester Aljona fuhr mit Ojub und Kollegen von Zivile Zusammenarbeit in die Bergregionen, sie befragten Einwohner, suchten nach Kranken, kauften Medikamente und transportierten Menschen zur Behandlung nach Grosny und Moskau.

«Diese Fahrten waren gefährlich», erzählte meine Schwester. «In den Bergen wurde weiter geschossen. Ich erinnere mich, als wir in einmal im Wedenski-Rajon am Haus der dortigen Krankenschwester ankamen. Unsere Ankunft hat sie so erschreckt, dass ich am liebsten direkt wieder gehen wollte. Ich hatte Angst, dass ihr etwas zustösst. Ihre Hände zitterten, sie kramte irgendwelche Heftchen und Krankenscheine hervor und sagte: ‹Nein, lassen Sie uns, lassen Sie, besser wir sterben hier, alle zusammen.› Aber das war eine gute Arbeit, wir konnten viele retten. Insgesamt halfen wir ungefähr achttausend Menschen.»

Beinahe alle Schulen in den Bergen waren zerstört oder beschädigt: Im Krieg hatten beide Seiten dort gerne ihre Stabsquartiere eingerichtet. Die Dorflehrer versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu improvisieren, hielten Unterricht in unbeheizten Klassenzimmern ab, heizten mit Kanonenöfen. Auf Öfen und elektrischen Kochplatten kochte man den Kindern Brei auf Wasserbasis oder aus der Milch der Kühe, die den Lehrern selbst gehörten. Ojub und Aljona pendelten zwischen den Bergen hin und her. Sie klärten ab, was unbedingt getan werden musste, sie sprachen mit Direktoren, Beamten, Einheimischen und Arbeitern. Ojub entwarf Finanzpläne und instruierte die Bauarbeiter. Das Prozedere war ihm bekannt, er hatte es ja selbst durchstehen müssen. Irgendwo musste ein Dach repariert werden, eine Sporthalle, oder es mussten Leitungen verlegt werden, woanders baute man eine Brücke über eine Schlucht und einen Schulweg.

Diese Reisen in die Berge waren gefährlich, jeden Moment konnte alles passieren. Regelmässig verschwanden Menschen oder wurden tot am Wegrand gefunden. Im April 2006 verliess der Fahrer des medizinischen Versorgungsprogrammes, Bulat Tschilajew, sein Haus in Sernowodski. An einer Strassensperre stoppten Milizen des tschetschenischen Bataillons Sapad [Westen] seinen Wagen. Sie zwängten Bulat in ihr Auto, seinen Beifahrer in den Kofferraum. Die beiden wurden nie wieder gesehen. Am wahrscheinlichsten ist, dass man sie direkt ermordet oder zu Tode gefoltert hat.

Viele Bergdörfer waren völlig verlassen. Den föderalen Truppen war das recht, denn so verloren die Milizen Essen und Unterschlupf. Die Soldaten sprengten die übrigen Häuser, damit die Leute nicht zurückkehrten. Die Bewohner eines Auls, eines kleinen Dorfes, baten um Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Höfe. Zivile Zusammenarbeit kaufte einen Traktor für das Dorf, um die Wege auszubessern, und Vieh für einige Familien. Ojubs Leben war damals gänzlich ausgefüllt von all den Kühen, den Gazelle-Minibussen und Traktoren. Es scheint, als wäre das trotz all der Widrigkeiten eine glückliche Zeit für ihn gewesen.

In dieser alten tschetschenischen Welt, aus der er kam, konnte man seine Schuld bereinigen und die Welt zurück ins Gleichgewicht bringen. Wer jemanden tötete, der zahlte mit Blut oder mit Hilfeleistung und Demut, wie sein Vater. Ojub fühlte sich schuldig für den Tod seiner Schüler und empfand es als seine Pflicht, Dutzende andere Menschen zu retten, die unter den Folgen des Krieges litten. Er versuchte das Gleichgewicht wiederherzustellen in einer Welt, die vor seinen Augen zerbrach.

Natascha

Der zweite Wendepunkt in Ojubs Leben war der Tod Natascha Estemirowas, die ihn bei Memorial eingeführt hatte. «Ojub sass in Kurtschaloj und Gudermes, den schlimmsten Gebieten in dieser Zeit, arbeitete dort in aller Stille an gefährlichen Dingen», erzählt Tatjana Lokschina. «Ich erinnere mich, dass Natascha sich sehr um ihn sorgte. Wenn sie jemanden an ihn vermittelte, betonte sie, dass man auf keinen Fall seine Identität preisgeben durfte.»

Natascha war aus völlig anderem Holz geschnitzt und kam aus einer anderen Welt. Erst vor Kurzem habe ich bemerkt, dass sie etwas gemeinsam hatten: Beide waren Lehrer. Aber wahrscheinlich ist das zentrale Motiv von Ojubs Geschichte der Kontrapunkt ihrer beiden Charaktere.

Natascha war ein äusserst emotionaler und temperamentvoller Mensch. Zur Hälfte Russin, war sie in der Oblast Swerdlowsk aufgewachsen und hatte anschliessend im russischsprachigen Grosny gelebt. Schon vor dem Beginn des Ersten Tschetschenienkrieges hatte sie sich als Menschenrechtsaktivistin betätigt. Während des Zweiten kam sie dann zu Memorial und wurde zu einer grossen Unterstützerin von Anna Politkowskaja. Alle nannten sie Natascha.

«Natascha war eine durch und durch europäische Frau», sagt ihre Freundin Tatjana Lokschina. «Sie hatte den Gang und die Haltung einer Ballerina. Ungeachtet aller Geldnöte versuchte sie, sich stilvoll zu kleiden. Während irgendwelcher Dienstreisen ins Ausland kaufte sie sich von den letzten drei Kopeken wunderhübsche Schals. Tschetschenisch sprach sie schlecht und fühlte sich dort natürlich nicht ganz zu Hause.»

«Natascha war ein sehr ambitionierter Mensch mit starkem Antrieb», erzählt Lokschina. «Sie war sich der Gefahr vollkommen bewusst, aber sie konnte nicht aufhören. Sie fuhr an die riskantesten Orte, manchmal auf halsbrecherische Art und Weise. Ungerechtigkeit konnte sie beinahe physisch nicht ertragen. Und es war ihr sehr wichtig, aus erster Hand berichten zu können: ‹Ich habe es gesehen, ich war da, man hat es mir erzählt.› Schweigen war für sie wie ein Messer an der Kehle. Endlos wurde auf sie eingeredet: ‹Natascha, das sind sehr wichtige Informationen, aber bitte veröffentliche sie nicht unter deinem Namen. Du bist verrückt, du sitzt doch da mittendrin.›»

Ojub gab niemals Interviews, Natascha dagegen schon. Die Kollegen waren sehr wütend, aber Natascha war ein zutiefst öffentlicher Mensch, sie sah sich als Journalistin. Nach Anna Politkowskajas Tod wollte die Nowaja Gaseta ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen und sie schlugen Natascha vor, unter Pseudonym eine regelmässige Kolumne zu schreiben.

«Ich erinnere mich gut, wie sie anderthalb Jahre vor ihrem Tod wieder zu mir nach Moskau kam, ganz aufgekratzt und glücklich. Während ihres Fluges aus Grosny hatte sich ein Mitarbeiter des tschetschenischen Presseministeriums zu ihr gesetzt und ganz arglos zu ihr gesagt: ‹Natascha, hör mal, es gibt da diese Kolumne, in der Nowaja Gaseta unter dem Namen Magomed Alijew. Ich erinnere mich an deine Texte im Grosnenski Rabotschi [Groznyer Arbeiter], die waren sehr ähnlich geschrieben. Sag mal, bist du das?› Und sie, anstatt sofort in Deckung zu gehen: ‹Na hör mal, wie kommst du denn darauf›, blüht sie auf und sagt mit einem breiten Lächeln: ‹Ach was? Du hast meinen Stil erkannt? Bin ich froh, dass ich gelesen werde.›»

Ein Jahr vor ihrem Tod stauchte Kadyrow sie zusammen. Das war nach ihrem grossen Interview bei REN TV darüber, dass Frauen gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. In dieser Frage war Natascha empfindlich. In jenem Interview hatte sie erklärt, dass sie selbst Tschetschenin sei und dass sie, wenn sie bei Gedenkfeiern oder religiösen Leuten zu Gast sei, ihren Kopf natürlich auch bedecke. Aber niemand habe das Recht, eine Frau dazu zu zwingen.

«Kadyrow zitierte sie zu sich», erinnert sich Lokschina. «Er brüllte sie zusammen und drohte ihr. Sie kehrte leichenblass zurück. Mir scheint, dass Kadyrow sie für eine Russin hielt, die als Angestellte von Memorial hier arbeitete. Aber durch das Interview realisierte er, dass sie Tschetschenin war und dass er mit ihr machen konnte, was immer er wollte.»

Ich selbst habe nur einmal mit Natascha zu tun gehabt. Das war eine Woche vor ihrem Tod. Ich erinnere mich, dass sie sehr nervös war. Sie war damals mit Nachforschungen zu einer Erschiessung beschäftigt: Im Juli 2009 hatten Kadyrow-Milizen, die sogenannten Kadyrowzy, im Dorf Achkintschu-Borsoi öffentlich einen Bauern erschossen, weil er Rebellen einen Schafbock überlassen habe.

«Sie warfen ihn aus dem Auto, er war furchtbar verprügelt worden, war nur noch ein Klumpen Fleisch. Er konnte praktisch nicht mehr sprechen, er konnte schon überhaupt nichts mehr», erzählt Lokschina. «Sie erschossen ihn vor aller Augen und sagten, dass so mit jedem verfahren würde, der den Rebellen hilft. Es spiele keine Rolle, ob du ein Schaf oder einen Brotkrumen gibst. Sie finden es heraus, und die Strafe wird fürchterlich sein. Aber wenn dein Dorf am Waldrand liegt, und mitten in der Nacht klopfen bewaffnete Männer mit einem Maschinengewehr an die Tür und sagen: ‹Gib uns Brot!› – wie solltest du es ihnen nicht geben? Nun ja, seine Verwandten haben ihn in aller Eile begraben und eine Erklärung unterschrieben, dass er an einem Herzinfarkt gestorben sei. Wir hörten von dieser Geschichte ausgerechnet über Ojub. Wir fuhren ins Dorf und unterhielten uns mit den Leuten, und Natascha gab dem Kawkaski Usel [Kaukasischer Knoten, eine von Memorial gegründete Online-Publikation] ein Interview.»

Natascha nannte die Mitarbeiter der Polizeibehörde von Kurtschaloj, die die Erschiessung durchgeführt hatten, beim Namen. Bald darauf liess Ojub die Kollegen wissen, dass die Situation ausgesprochen gefährlich sei. Wegen mindestens dreier Fälle von Entführung, Mord und Folter, die Natascha in jenem Moment bearbeitete, waren die Kadyrowzy sehr wütend auf sie.

«Ich fuhr hin, um herauszufinden, was da gerade passiert», erzählt Swetlana Gannuschkina. «Natascha hatte furchtbare Angst, und wir entschieden, dass sie da rausmuss. Doch sie bat uns um eine Woche. Wir hätten sie zwingen müssen, direkt am nächsten Morgen abzufahren. Aber wir machten mit dem Innenministerium aus, dass sie nach Stawropol fahren würde, um da die Vermisstendatenbanken zu vernetzen, ihre und unsere. Und das war’s. Natascha ging morgens aus dem Haus und bei dem Treffen mit den Beamten vom Innenministerium kam sie schon nicht mehr an.»

Das war der schrecklichste Morgen in der Geschichte von Memorial in Grosny.

«Wir fuhren los, um sie zu suchen, suchten die Gegend um ihr Zuhause ab», erinnert sich Sokirjanskaja. «Und ausgerechnet die einzige Zeugin hörte, wie ich mit den Sammeltaxi-Fahrern sprach. Sie nahm mich zur Seite: ‹Fragst du nach Natascha?› Sie erzählte mir alles, zeigte mir den Ort und stieg dann völlig verschreckt in einen Minibus.»

Sie hatten Natascha vor dem Haus abgefangen und sie in einen weissen Lada 2107 gezerrt. Sie konnte gerade noch schreien, dass man sie entführte. Am gleichen Tag fand man Nataschas Körper mit Kugeln in Brust und Kopf in einem Waldstück nahe des inguschetischen Dorfes Gasi-Jurt.

«Ojub konnte damit einfach nicht leben», sagt Lokschina. «Sie hatte ihn geschützt, für seine Deckung gesorgt. Und dann kam sie selbst um. Zurück blieb ein kleines Waisenmädchen.»

«Er wiederholte permanent: ‹Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen›», erinnert sich meine Schwester. «Weil symbolische Phrasen absolut nicht seins waren, ist das wörtlich zu verstehen. Es gab einen konkreten Anlass. Sie wurde wegen Informationen ermordet, die er ans Licht gebracht hatte.»

Ein anderes Tschetschenien

Grosny ist grossartig wiederaufgebaut worden. Es kann durchaus mit Moskau mithalten – nichts von wegen Regionalhauptstadt. Schöne Strassen, alles wie geleckt. Ich war vor zehn Jahren hier. Fast die ganze Stadt, ausser entlang der Hauptstrassen, bestand damals aus Ruinen. Es schien, als gäbe es in ganz Tschetschenien keine einzige Wand ohne Einschusslöcher. Heute kann man sich nicht mehr vorstellen, dass hier einmal Krieg war.

Wie Russland sieht es hier nicht aus. Die Architektur erinnert an Ankara oder Dubai, Frauen laufen in farbenfrohen Hidschabs herum. Die Polizisten und Soldaten paradieren in modischen Uniformen, die an die der NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte. Niemand auf der Strasse spricht Russisch, und russische Strassenschilder wirken ungewohnt vor dieser Kulisse.

Ich staune über die Energie, die ich in Tschetschenien bereits in den ersten Minuten, Worten, Intonationen spüre. Alles ist irgendwie gewaltig. Ein imponierendes Volk, das sieht man sofort. Die Männer sind alle riesig, kantig, muskulös, wie Trolle. Aber die Menschen sind höflich und entgegenkommend. Über den Putin-Prospekt, der in den Kadyrow-Prospekt übergeht, schlendern zwischen Wolkenkratzern Scharen russischer Touristen mit Reiseführern. Sofort fühlt man, dass sich etwas in der Atmosphäre verändert hat, und zwar nachhaltig. Es ist ein anderes Tschetschenien. Früher, zwischen den Ruinen, als um einen herum unaufhörlich Menschen verschwanden, liess es sich deutlich freier atmen.

«In den schlimmsten Momenten des Krieges konntest du in irgendein Dorf kommen, und sofort stürmten Leute auf dich zu, du wusstest nicht, wie dir geschieht», erzählt Lokschina. «Man hat dich quasi auseinandergerissen, egal wer du warst – Journalist, Menschenrechtsaktivist, aus Moskau, aus dem Ausland. Hauptsache ein Mensch aus einer anderen Welt, dem man etwas erzählen kann. Die Menschen hatten ein unglaubliches Bedürfnis zu reden. Und danach, innerhalb der letzten sechzehn Jahre, ist das alles vor unseren Augen kollabiert. Die Menschen redeten vorsichtiger und immer weniger. ‹Ich erzähle dir etwas, aber erwähne mich nirgendwo, nenne bitte nicht mal das Dorf. Ansonsten zählen die sofort eins und eins zusammen.› Später hiess es: ‹Hör mir zu, aber erzähle das niemandem weiter.› Irgendwann waren immer weniger Menschen bereit, überhaupt zu reden – nicht einmal, als ob sie in einen hohlen Baum sprechen würden.»

«Die Angst ist heute wesentlich grösser als damals, als die Soldaten in die Dörfer kamen und sich alle der Reihe nach geschnappt haben», sagt der Memorial-Mitarbeiter Oleg Orlow. «Ich weiss noch, wie wir Anfang der 2000er wegen der Säuberungen rausgefahren sind. Ojub und ich wunderten uns: ‹Was machen die da?!› Sie griffen sich die nächstbesten Männer raus, schafften sie in die Filtrationslager, verprügelten einen nach dem anderen und fragten dabei: ‹Wo ist Schamil Bassajew?› Woher soll denn ein einfacher Bauer wissen, wo Schamil Bassajew ist? Sie stellten die idiotischsten Fragen, allen dieselben. Uns kam es vor, als wären sie einfach nur dumm und unkreativ. Und erst später wurde uns klar, dass das eine ausgeklügelte Taktik, beziehungsweise Strategie war. Sie wussten, dass sie von diesen Leuten keinerlei Information bekommen würden. Es ging darum, sie zu brechen.»

«Der Wahrheitsgehalt von Informationen interessierte sie nicht einmal so sehr. Unter Folter schreist du irgendeinen Namen heraus: ‹Ja, ja, der ist ein Rebell!› In der Nacht holen sie diesen Menschen ab, er verschwindet, und du und deine Familie seid von da an ihre Geiseln. Sie sagen dir: ‹So, Kumpel, du bist doch derjenige, der ihn angeschwärzt hat. Wir können ihnen das stecken, dann fliesst nicht nur dein Blut, sondern auch das deiner Familie. Denk an deinen Sohn, an deinen Bruder, deine Neffen.› Auf diese Weise haben sie damals, am Anfang der 2000er, ein Netz von Informanten aufgebaut», erklärt Orlow. «Dann haben die Föderalen die illegitime Gewaltausübung an tschetschenische bewaffnete Gruppen übertragen und ihnen gleichzeitig dieses Informantennetzwerk übergeben. Und mit diesem Netz konnten sie Stück für Stück, Jahr für Jahr eine ungeheure Atmosphäre der Angst etablieren. Heute verschwinden bedeutend weniger Menschen, aber die Angst ist grösser als je zuvor. Jeder denkt, dass die Macht alles über ihn weiss.» Vor zehn Jahren war Tschetschenien buchstäblich gespickt mit russischen Militärbasen. Überall waren Checkpoints, BTR-Panzer, Stacheldraht, Sandsäcke und ausgeblichene Armeezelte. Jetzt ist all das wie vom Erdboden verschluckt. An ihrer Stelle wurden tschetschenische Bartträger herangekarrt, behangen mit teuren importierten Waffen, der Blick düster. Ramsan Kadyrow wiederholt gerne, dass er über eine starke Armee verfügt. Das ist keine leere Prahlerei: Unter seinem persönlichen Kommando stehen ungefähr 12 000 Silowiki. Formell dienen sie dem Innenministerium, aber sie führen ausschliesslich die Befehle Kadyrows und seines Umfeldes aus. Wie schlagkräftig diese Armee wirklich ist, lässt sich schwer sagen, aber das Volk ist angesichts ihrer starr vor Angst. Den Namen ihres Chefs sprachen meine Gesprächspartner lautlos aus, mit einer blossen Lippenbewegung.

Besessenheit

Der damalige Chef von Memorial, Oleg Orlow, nannte Ramsan Kadyrow nach Estemirowas Tod einen Mörder. Allein diese Bezeichnung zu lesen war furchterregend. «Weshalb sollte Kadyrow eine Frau umbringen, die niemandem von Nutzen war? Sie hatte weder Ehre noch Würde noch Gewissen», erwiderte Ramsan [Anm. d. Red.: Ramsan Kadyrow spricht von sich oft in der dritten Person].

Weniger als einen Monat nach Nataschas Tod entführten Sicherheitsorgane zwei Freunde der Memorial-Leute, Sarema Sadulajewa und Alik Dschabrailow. Sie waren Mitarbeiter der Organisation Wir retten eine Generation, die Kindern und Jugendlichen half, die den Krieg überlebt hatten. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen mit Folterspuren im Kofferraum ihres Autos. Das Büro von Memorial in Grosny wurde geschlossen, sein Leiter Schachman Akbulatow musste emigrieren.

Ojub beendete seine Ermittlungen zu den Morden ziemlich schnell. Wir sahen uns wenige Monate danach, und er kannte schon sämtliche Namen und Umstände. Aber die Untersuchungskommission hatte nicht vor, die Mörder zu suchen. Sie zu finden wäre nicht schwer gewesen: Natascha hatte mit ihren Entführern gekämpft, und unter ihren Fingernägeln waren DNA-Rückstände haften geblieben. Aber es war unrealistisch, die Moskauer Fahnder dazu zu bewegen, Proben bei den Kollegen in Kurtschaloj zu nehmen. Einer Spur zu folgen, die zu den Untergebenen von Kadyrow führen konnte, war ihnen verboten. Stattdessen versuchten die Fahnder, die Beweise zu fälschen und die Tat Rebellen unterzuschieben, die kurz nach Nataschas Tod getötet worden waren. Echte Ermittlungen konnte Memorial nicht erreichen, aber Ojub und seine Kollegen sammelten unumstössliche Beweise für die Hinfälligkeit der öffentlichen Version. Die Untersuchungskommission war ratlos, die Ermittlungen liefen ins Leere. Man untersucht den Fall bereits seit neun Jahren.

Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Die Arbeit von Memorial wiederaufzunehmen hiess, bewusst das Risiko von weiteren Opfern einzugehen. Aber die Kollegen in Grosny entschieden sich, weiterzumachen. «Ojub sagte, dass es in diesem Moment geradezu ein Verbrechen von unserer Seite wäre, die Arbeit einzustellen», erinnert sich Orlow. «Er sagte, dass wir es Natascha schuldig seien. Und wohin sollten all die Leute gehen? Sie wären völlig hilflos. ‹Wozu waren wir all die Jahre hier, wenn wir jetzt gehen?› Er setzte sich konsequent für die Offenhaltung des Büros ein, und schliesslich setzte er sich durch.»

Es stellte sich die Frage, wer die Leitung übernimmt. Niemand traute sich.

«Aber Ojub erklärte sich bereit, blieb dabei auch ganz ruhig», erinnert sich ein Kollege, «obwohl er es weit hatte von Kurtschaloj. ‹Was soll’s, ich werde fahren.› Er kam morgens an, und abends fuhr er als einer der Letzten.»

«Ojub war schon früher äusserst motiviert, aber nach Nataschas Tod, glaube ich, wurde das zur Besessenheit», sagt Lokschina.

Es ist kaum vorstellbar, wie schwer es Ojub damals gehabt haben muss. Er hatte doch die ganze Zeit Vergebung erfleht, jahrelang Steintafeln graviert. Und dann war schliesslich ein Mensch aufgetaucht, der ihm half. Sie erfüllte sein Leben mit Sinn, lehrte ihn, etwas wahrhaft Wichtiges zu tun, womit er seine Schuld tilgen konnte. Er begann Natascha zu helfen, gab sich die grösste Mühe. Und sie brachten sie um.

Per Anhalter durch Tschetschenien

Nachdem ich mit Ojubs Freunden und Verwandten gesprochen hatte, bereitete ich mich auf die Abreise vor. Aber ich spürte, dass mir noch etwas fehlte: Ich hatte das echte Tschetschenien nicht gesehen, ausserhalb der Politik und des vorgegebenen Themas. Ich liess meinen Computer bei Freunden zurück, schnappte mir ein altes Nokia mit lokaler SIM-Karte, stellte mich an den Strassenrand und hob den Daumen.

Per Anhalter durch Tschetschenien zu reisen ist wunderbar. In den Dörfern, besonders in den Bergen, atmet man sofort freier. Die Menschen sind wesentlich entspannter, ohne die durchdringenden Blicke der Bärtigen, ohne diese trügerische, an Dubai erinnernde Atmosphäre und die teuren Karren, die gelangweilte Maskerade vermeintlicher Bergbewohner.

Man musterte mich mit freundlicher Verwunderung, denn Touristen kommen hier keine her. Meistens hielt man mich für einen Soldaten, der auf seine Basis zurückkehrt. Einige Male erntete ich schiefe Blicke, aber die überwiegende Mehrheit der Menschen nahm meine Ankunft sichtlich erfreut auf. Und dabei ging es nicht nur um die Gastfreundschaft. In den Blicken und dem Lächeln stand etwas geschrieben: «Siehst du, am Ende haben wir uns doch noch versöhnt.» So als wären wir noch in der Sowjetunion, als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Menschen könnten einander einfach so besuchen.

Erzählst du über Tschetschenien, spürst du als Reporter schnell deine eigene Eindimensionalität. Du fängst an über Entführungen, Folter und Mord zu sprechen, und heraus kommt ein Horrorfilm über die Zeit des Tschetschenienkrieges. Und direkt neben dir gibt es eine schöne, moderne Stadt, in der alles wunderbar ist und in der normale Menschen leben. Wenn du über die Angst schreibst, lassen sich die hübschen Springbrunnen nur schwer unterbringen oder die Tatsache, dass sich die Menschen hier an der Ruhe erfreuen. Wenn du aber von den Springbrunnen, den Kaffeehäusern und der Wohltätigkeit Ramsans erzählst, vergisst man allzu schnell, dass sich hinter all dem menschenverachtende Sklaverei verbirgt.

«Bei uns im Dorf gibt’s so einen Alleskönner, der verdiente sein Geld mit LKW-Reparaturen. Er baute kleine Häuschen, unterhielt einen Gemüsegarten und ein bisschen Vieh. Der Ort gefiel jemandem aus Zentaroj, dem Heimatort der Kadyrows. Er machte ein Kaufangebot, aber der Besitzer lehnte ab. Als er gerade nicht auf dem Bauernhof war, kamen Kadyrows Leute an, zerlegten alle seine Maschinen, nahmen sie mit und versetzten sie als Altmetall. Im Anschluss boten sie ihm noch einmal an zu verkaufen – diesmal zu einem Drittel des Preises. Er sagt: ‹Nehmt den Hof doch einfach so, aber ich werde euch das niemals verzeihen.› Da kamen sie und schlugen ihn zusammen. Er hatte Glück, dass er am Leben blieb.»

«Es wurde entschieden, ein Einkaufszentrum im Dorf zu bauen. Dazu nahmen sie mir einfach mein Grundstück weg. Keinerlei Kompensation, was denkst du denn! Sie haben eine Abmachung mit der lokalen Führung, mehr brauchen sie nicht. Ja, vor welches Gericht denn?! Weisst du, diese Typen kommen an, sacken dich ein und schlagen dann das gesamte Gericht kurz und klein.»

«Sie haben das Krankenhaus renoviert, neue medizinische Geräte angeschafft. Den alten Chefarzt haben sie mit Schimpf und Schande weggejagt, einen neuen eingestellt. Kaum hatte der seine Arbeit aufgenommen, rief ihn der örtliche Polizeivorsteher an und sagte ihm, dass er innerhalb einer Woche achtzehn Millionen Rubel auftreiben und diese persönlich nach Chossi-Jurt bringen müsse. Er wollte sofort wieder kündigen, aber sie sagten ihm: ‹Erst zahlst du, dann kannst du machen, was du willst.› Er sammelte bei den Ärzten so viel Geld wie möglich ein, legte sein ganzes eigenes Vermögen obendrauf, lieh sich von Verwandten und Freunden und schaffte es irgendwie, die Summe zu bezahlen.

«Frauen mit grossen Taschen gehen in die Geschäfte und Kaffeehäuser, sie sammeln Geld für irgendwelche offiziellen Zwecke. Jede wird von zwei Polizisten begleitet, die ganze Strasse ist gesäumt von Polizeiautos. Sie lassen kein kommerzielles Lokal aus, sie kassieren je nach Umsatz, nach Augenmass. Einer zahlt zehntausend, der andere fünfzigtausend. Und wenn du dich weigerst, kommen als Nächstes die Feuerinspektion, der Konsumentenschutzverband, die Gesundheitsbehörde und sie graben alles Mögliche gegen dich aus ...»

«Ein Verwandter von mir ist ein hohes Tier in der Verwaltung. Ungefähr 60 Millionen Rubel [880 000 Euro] zahlen sie jedes Jahr an Chossi-Jurt, unser Bezirk ist klein. Alle zahlen: Institutionen, Organisationen, die regionalen Abteilungen aller Bezirksämter. Sie rechnen fiktive Pensionen ab, Kompensationen, halten Karteileichen in den Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten.»

«Ende April 2018 kritisierte Kadyrow bei einer Sitzung das Wohnungs- und Versorgungsamt wegen zu laxen Eintreibens von Zahlungen bei der Bevölkerung. Das Volk zuckte zusammen: Jetzt geht’s los. Buchstäblich am darauffolgenden Tag machten sich die Beamten auf, um die Schulden für die Gasversorgung einzutreiben. Ein, zwei Kontrolleure, ein Schweisser und Polizisten. Sie forderten die sofortige Begleichung irgendwelcher alter Rückstände, präsentierten fiktive Rechnungen. Egal was man für Unterlagen vorlegte, sie drehten sofort das Gas ab. Zahlte einer nicht, wurde das ganze Haus vom Netz genommen: ‹Bewegen Sie Ihren Nachbarn dazu zu zahlen, dann schalten wir wieder ein.› Und die Einschaltung erfolgte nur über das Bürgermeisteramt, entweder über einen Berg von Formularen oder durch Bestechung. Sie sagten, das Geld sei für den ‹Achmat-Tower› bestimmt.»

«Achmed hat irgendwelche Unterlagen fabriziert, dass sein Haus überschwemmt worden sei. Die zuständige Kommission, zusammen mit dem Amt für Katastrophenschutz und der Verwaltungsbehörde, hat ihm eine Schadenssumme von einer Million Rubel zugesprochen. Davon hat er 700 000 der Verwaltung gegeben, 300 000 haben sie ihm auf die Hand ausgezahlt. Wäre das Haus tatsächlich überschwemmt worden, wäre es umgekehrt abgelaufen. So etwas passiert jedes Jahr dutzendfach, in der Regel sind es Erdrutsche ...»

Offen redet selbstverständlich niemand über all das. Aber wenn man ein Weilchen mit dem Fahrer gequatscht hat, irgendwo zum «Tee trinken» angehalten hat (das heisst: bis zum Erbrechen vollgestopft wurde) und zwischendurch eine unschuldige Frage à la «Für wie viel Geld kann man sich bei euch das Recht kaufen?» stellt, dann wird man mit grösster Wahrscheinlichkeit einige solcher Geschichten zu Ohren bekommen. Also alles wie in Russland? Tatsächlich ist die Situation hier eine andere. Es handelt sich nicht so sehr um die totale Korruption als um ein System der illegalen Besteuerung. Der Grossteil des Geldes verschwindet nicht in irgendwelchen Manteltaschen, sondern fliesst nach oben, in den Achmat-Kadyrow-Fonds, eine Nebenkasse des Regimes. Dieser Fonds ist alleine Ramsan unterstellt. Laut der Zeitung Kommersant [Der Geschäftsmann] existiert in der Datenbank des Justizministeriums keine einzige Abrechnung seit Gründung des Fonds, obwohl nicht-kommerzielle Organisationen laut Gesetz zu ihrer regelmässigen Bereitstellung verpflichtet sind. Zusätzlich verfügt der Fonds über gigantische Unternehmenswerte, ist Gründer der bedeutendsten Firmen von Grosny und kontrolliert, wie der Kommersant schreibt, den Grossteil des tschetschenischen Immobiliengeschäfts. Jeder Tschetschene tritt einen monatlichen Anteil seines Einkommens an den Fonds ab, zehn bis dreissig Prozent. Jedes Unternehmen, ob staatlich oder privat, muss dorthin eine gewisse Summe entrichten. Wie, das ist ihr Problem. Ramsan verteilt diese Gelder dann im Licht der Fernsehkameras als Almosen an Bedürftige, oder er staffiert seine Kämpfer damit aus.

Natürlich versickert davon auch etwas bei Mittelsmännern, sonst würde das System nicht funktionieren. Aber im Grossen und Ganzen ist es Zentaroj, das sich um die Zahlungsdisziplin kümmert. Jeder weiss, was ihm bei Ungehorsam droht. Im besten Falle wird man sofort entlassen, im schlimmsten kommen sie, sammeln dich ein, ketten dich an den Heizkörper und schlagen dich so lange, bis deine Verwandten alles bezahlt haben, was du ihnen schuldest, oder noch mehr. (Wie dieses System funktioniert, hat Jonathan Littell sehr klar und ausgewogen in seinem Buch Tschetschenien. Jahr III beschrieben. Ich empfehle es jedem.)

De facto gelten die Gesetze der Russischen Föderation in Tschetschenien nicht. Das heisst jedoch nicht, dass es gar kein Gesetz gibt. Es gibt eines, und das wird eisern angewandt: der Wille Ramsan Kadyrows. Die Unterordnung des nominalen Gesetzes unter das real existierende wird jeden Tag aufs Neue demonstriert, aber das vermutlich deutlichste Beispiel hat sich vor zwei Jahren ereignet: Kadyrow hatte dem von Moskau ernannten Vorstand des Obersten Gerichtshofes der Republik befohlen, in den Ruhestand zu treten. Aber der amtierende Gerichtspräsident Tachir Murdalow weigerte sich, den Befehl auszuführen. Die Angelegenheit endete damit, dass Lord (Magomed Daudow, die rechte Hand Ramsans) persönlich zum Obersten Gerichtshof fuhr und dessen Vorsitzenden öffentlich zusammenschlug. Es gibt eine inoffizielle Abmachung: Im Austausch für die formelle Anerkennung der russischen Souveränität mischt sich Moskau nicht in die Regierungsangelegenheiten Tschetscheniens ein. Russland kann und will die hier begangenen Verbrechen nicht aufklären.

Andererseits ist die Gruppe, die die Macht an sich gerissen hat, zur Geisel ihres eigenen Sieges geworden. Was bedeuten Tausende Verschleppte, Gefolterte und Ermordete? Dass die Kadyrowzy Tausende Blutfehden haben. Das erlaubt es den Regierenden nicht, auch nur einen Moment Schwäche zu zeigen. Sie können sich nicht entspannen, Pfunde ansetzen oder ihre Kinder nach London schicken. Stattdessen müssen sie sich aneinander festklammern und in der Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst aufrechterhalten, auf dass nicht auch nur ein Gedanke an Rache aufkomme. Sie können es sich nicht erlauben, die Macht abzugeben.

Dabei verstehen sie, dass Moskau sie nur so lange duldet, wie sie die Islamisten im Griff haben. Und solche Strömungen gibt es in Tschetschenien. Der staatliche Terror ruft sie selbst hervor und hält sie gleichzeitig davon ab, zu eskalieren. Das Resultat ist ein albtraumhafter Knoten, der sich immer fester zuzieht.

Die Verwandten

Ramsan Kadyrow hat mehrmals erklärt, wenn Jugendliche in den Bergen verschwänden, um sich den Separatisten anzuschliessen, dann müsse man ihre Familien dafür zur Verantwortung ziehen. Die tschetschenische Polizei ging methodisch dazu über, die Häuser von Verwandten der Rebellen niederzubrennen. Auf die Proteste der Menschenrechtsaktivisten antwortete Moskau nicht, und so weitete sich das Prinzip der kollektiven Verantwortung schon bald auf alle aus.

«Gott verhüte, dass man eine falsche Bewegung macht», sagt eine Bekannte. «Du sagst irgendetwas, setzt einen Like auf Facebook – und schon werden sie auf dich aufmerksam. Sie kommen gar nicht erst zu dir, sie suchen sofort deine Verwandten auf, kassieren sie ein, schlagen sie, sagen ihnen: ‹Wenn ihr ihn nicht aufhaltet, wird es noch schlimmer.› So etwas passiert ständig, aber niemand in Tschetschenien wird mit Ihnen darüber sprechen. Wäre ich jetzt dort, hätte ich auch nicht davon angefangen. Das Aufnahmegerät läuft, und ich denke die ganze Zeit: Wenn es nur nicht in die falschen Hände gerät. Wer ist sie, und wo sind ihre Verwandten?»

«Jeden Monat erreichen mich Dutzende Briefe aus Tschetschenien», erzählt Igor Kaljapin, der Leiter des Komitees gegen Folter. «Und jedes Mal wiederholt sich ein und dasselbe Gespräch: ‹Ihr Sohn ist seit vier Tagen verschwunden, wahrscheinlich wird er gefoltert. Beim nächsten Mal werden Sie ihn im Gerichtssaal sehen, wo er sich zur Vorbereitung eines Terroranschlags bekennt. Wir können Ihnen einen Anwalt aus Zentralrussland schicken, der innerhalb eines Tages herausfindet, wo Ihr Sohn steckt, und ein Treffen mit ihm erwirkt.› Aber die Leute wollen nicht. Sie haben Angst um andere Familienmitglieder. Warum sie mir schreiben, verstehe ich nicht.»

«Wir haben von jemandem eine Erklärung, eine Zeugenaussage», sagt eine andere Memorial-Kollegin von Ojub, «sogar auf Video festgehalten. Aber dann sagt dieser Mensch plötzlich: ‹Nein, ich habe denen das nur vorgelogen, ich habe gar nichts gesagt, die haben sich das alles ausgedacht, um den ehrlichen Namen von Ramsan Achmatowitsch Kadyrow zu besudeln.›»

«Weisst du, was für mich echt einschneidend war? Schon vor Ewigkeiten sind die Porträts aufgetaucht – Ramsan, Achmat, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist. Aber dann sind wir bei einem Bekannten zu Hause zu Gast, und bei ihm an der Wand hängt ein Porträt von Kadyrow», erinnert sich Lokschina. «Du kennst einen Menschen viele Jahre lang, seine Einstellung zu Ramsan Kadyrow ist dir ebenfalls wohlbekannt. Du schaust dir das Porträt an und fragst gar nicht erst. Aber er spricht es selbst an: ‹Du weisst, ich habe eine Familie, Kinder …›»

«Das sind ja nicht irgendwelche Radikalen, es sind ganz gewöhnliche Frauen, in geschlossenen Gruppen, auf WhatsApp», erklärt Sokirjanskaja. «Sie schreiben nicht einmal: ‹Ramsan tut schreckliche Dinge›, sondern sie sagen: ‹Bei uns im Dorf funktioniert die Stromversorgung nicht, und die Beamten nehmen Schmiergeld.› Solche fischen sie raus, und dann müssen sie im Fernsehen öffentlich Busse tun. Oder Männer, die auch auf WhatsApp Witze reissen: ‹Solche wie Ramsan sollte man in Mekka nicht reinlassen› – sie finden sie, führen sie ab, einen haben sie umgebracht.»

«Vor ein paar Jahren gab es diese aufsehenerregende Geschichte im Dorf Kenchi», erzählt Lokschina. «Einer der Einwohner, Ramasan Dschalaldinow, hat eine Beschwerde an Putin geschrieben – Diebstahl, Erpressung, Betrug, das Übliche. Journalisten des Fernsehkanals Doschd [Regen] sind angereist, die Nachbarn haben die Beschwerden bestätigt. Danach sind die Silowiki ins Dorf gekommen, haben drei Nachbarn verhaftet, Ramasan selbst war mit seinen Söhnen in der Nacht geflohen, über die Berge nach Dagestan. Frau und Töchter hatte er zurückgelassen: Der Weg über den Bergpass war beschwerlich, und er dachte, sie würden einer Frau und Kindern nichts antun ... Sie haben sie geholt, die Tür aufgebrochen, sie rausgezerrt, das Haus niedergebrannt. Die Frau und die älteste Tochter haben sie geschlagen, gewürgt, taten so, als würden sie sie erschiessen, sagten, sie würden sie und die Söhne töten. Die jüngeren Mädchen, zehn und zwölf Jahre alt, sind fast gestorben vor Angst, sie haben gehört, was mit der Mutter und der Schwester passiert, haben geheult. Man hat sie ins Auto gestossen – so, das war’s, ihr habt keine Mutter mehr. Dann haben sie sie aus Tschetschenien weggejagt. Schliesslich hat sich das ganze Dorf bei Kadyrow entschuldigt, Ramasan hat sich persönlich entschuldigt – damit die Nachbarn freigelassen würden. Einen haben sie dann trotzdem vor Gericht verurteilt, wegen angeblichem Drogenbesitz. Es war offensichtlich, dass Ramsan völlig freie Hand hat: Mit den Tschetschenen kann er machen, was er will, Hauptsache, nach aussen ist es ruhig.»

Es ist schwer vorstellbar, wie tiefgreifend der Kadyrowsche Terror Tschetschenien verändert hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste jeder Tschetschene, dass er unter dem Schutz der Familie und des Taips stand. Und er selbst lebte nach den Interessen des Clans, hielt dessen Ehre hoch, war bereit, sein Fleisch und Blut zu verteidigen. Das war die Grundlage des Weltbilds, der Selbstachtung, des ganzen Lebens. Der Zusammenbruch dieser Ordnung war für Ojub eine Tragödie. Die fundamentalen Gesetze seines Universums verloren vor seinen Augen ihre Wirkung. Die Menschen begannen, an etwas anderes zu glauben. Ojubs Wahrheit wurde überall ersetzt durch hohe Minarette und funkelnde Jeeps.

In Grosny ist all das natürlich schwer zu bemerken. Wo der Blick auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton. Was fühlen die Menschen dort? Ich vermute, alles zugleich: Erniedrigung, Angst, Liebe zum grossen Bruder, Stolz auf seine Errungenschaften, Freude über ein Leben in Frieden.

«Wir sind doch auch nicht aus Stahl gemacht!», sagt eine Bekannte aus Grosny. «Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen, anstatt die ganze Zeit ans Überleben denken zu müssen. Soll doch herrschen, wer will, aber lasst uns einmal durchatmen.»

«Was soll man machen, wenn sich um einen herum alle mit den Geschehnissen abgefunden haben?», überlegt Tscherkassow. «Es hat sich gezeigt, dass auch das Sammeln von Informationen ein Weg ist, diesen Raum des Irrsinns mit Sinn zu füllen.»

Hyperverantwortlichkeit

Nachdem er die Leitung von Memorial in Grosny übernommen hatte, veränderte Ojub die Arbeitsmethoden grundlegend. An erster Stelle stand ab sofort die Sicherheit. Keiner der Mitarbeiter veröffentlichte mehr unter seinem Namen, keiner gab mehr Interviews oder trat in der Öffentlichkeit auf. Sämtliche Informationen flossen ausschliesslich nach Moskau. Die Mehrheit der Journalisten, darunter auch ich, wusste gar nicht, dass Memorial seine Arbeit vor Ort fortsetzt. Nataschas Ära war vorbei, und es begann die Ära Ojubs. Die jetzt vermutlich auch vorbei ist.

«Ojub machte seine Arbeit sehr leise, schweigend. Er wollte nicht mit dem Kopf durch die Wand», erklärt eine Mitarbeiterin von Memorial. «Er gab niemals Interviews. Denn ein Journalist ist ein Mensch von ausserhalb, der die örtlichen Besonderheiten nicht kennt. Er tut, was er für richtig hält. Aus redlichen Absichten heraus denkt er, dass es am besten ist, zu publizieren. Aber tatsächlich kann die kleinste Information den Kadyrowzy von Nutzen sein: ‹Wir wussten nichts davon, aber schaut mal hier ...›»

«Ojub sagte auch uns niemals, woher er was hatte», sagt eine weitere Mitarbeiterin von Memorial. «Er sagte einfach: ‹Ich hab’s raus.› Er telefonierte mit jemandem, sagte: ‹Wir müssen uns treffen›, und fuhr los. Und natürlich vertraute er elektronischen Geräten nicht.»

«Oft haben wir nicht einmal selber etwas publiziert, sondern nur formale Anfragen an verschiedene öffentliche Instanzen geschickt», fährt Orlow fort. «Und manchmal hat schon allein die Tatsache, dass wir wissen, dass der und der entführt worden ist, dort und dort festgehalten wird, zu einer Freilassung geführt. Diese Geschichte zum Beispiel haben sie vor Kurzem im tschetschenischen Fernsehen gebracht: ‹Seht, zwei junge Männer, die Verwandten haben sie gesucht, wussten nicht, wo sie sind. Dabei hatten sie bloss etwas über die Stränge geschlagen ...› Danach treten die Mütter auf: ‹Danke, danke, Ramsan Achmatowitsch, dass Sie unsere Söhne gefunden haben!› Und die Jungen stehen da, mit gesenkten Köpfen: ‹Ja, wir sind schuld ...› Danach haben die Verwandten natürlich sofort den Kontakt zu uns abgebrochen, und wir konnten nichts darüber schreiben. Da muss man auch keine Dankbarkeit erwarten. Ojub hat das sehr gut verstanden: ‹Das war’s, Leute, wenn wir jemanden freibekommen haben, ist unsere Arbeit abgeschlossen.›»

Ojub war absolut frei von persönlichen Ambitionen. In der Welt der Berge, aus der er stammte, ist das Individuum nicht besonders wichtig. Der Mensch kümmert sich um das Überleben seiner Familie und versucht selbst so zu leben, wie es sein Vater und Grossvater getan haben. Für Ojub war es von höchster Bedeutung, ein echter Tschetschene und guter Muslim zu sein. Aber öffentliche Ambitionen lagen einfach ausserhalb seiner Begriffswelt. Auch er legte Wert auf die öffentliche Meinung, aber seine Öffentlichkeit war eine andere. Der Respekt der anderen Dorfbewohner hat ihn höchstwahrscheinlich sehr beschäftigt.

«Ojub achtete darauf, dass wir Mädels nicht alleine im Büro blieben», sagt eine Mitarbeiterin von Memorial. «Er ging immer als Letzter. Wenn er wegfuhr, sagte er den anderen: ‹Geht nicht, bevor die Mädels nicht weg sind.› Er hatte immer alles im Blick: Wenn sich jemand verspätete, rief er sofort an und fragte, was bei ihm los ist. Er hat auch eine Sicherheitsregel eingeführt: Wenn jemand unangekündigt lange ausblieb, begannen wir sofort mit den Anrufen.» «Er nannte sie immer ‹die Mädels›», sagt ein anderer Kollege, «als ob sie auf sich allein gestellte, kleine Kinder wären, auf die man aufpassen müsse.» Eine weitere Mitarbeiterin von Memorial erzählt: «Ich habe ihm einmal gestanden: ‹Ojub, du bist mein moralischer Orientierungspunkt.› Er hat nur gelächelt, er war ja nicht sehr gesprächig. Und ich weiter: ‹Falls mir etwas passieren sollte, haben meine Kinder ihren Vater, aber ich hoffe auch auf dich.› – ‹Oh›, sagte er da, ‹was hast du mir für eine Last auferlegt.›»

«Zu behaupten, dass die Menschenrechtsarbeit meine Berufung und Leidenschaft ist», schrieb Ojub vor Kurzem in einem Brief an Soja Swetowa, «wäre nicht die Wahrheit. Ich empfinde mich nicht als glücklichen Menschen, und meine Leidenschaft konnte ich nicht realisieren. Ich hätte gerne Kinder trainiert.»

Die Jahrhunderthochzeit

«Es wurde praktisch unmöglich, ausserhalb unseres Umfeldes normal zu arbeiten – losfahren, mit Leuten sprechen –, die Grenzen wurden immer enger», sagt Sokirjanskaja. «Du hast Angst um die Menschen, denn sie werden Probleme bekommen, und deine Freunde haben Angst um dich. Ojub liess mich nicht mal im Büro allein, selbst aus dem Auto liess er mich nicht aussteigen. Sehr sanft und unaufdringlich. Man würde ihm ja aus Respekt nicht widersprechen.»

Im Januar 2015 verwüsteten bewaffnete Maskierte das Büro von Memorial in Gudermes. Viele Mitarbeiter verliessen Memorial und wechselten in andere Bereiche.

«S. sagte, dass er nicht gegangen sei, weil er um sich selbst Angst hatte», erzählt meine Schwester. «Aber Memorial könne einfach nicht mehr so arbeiten wie früher. Er müsse von Kritik an den Machthabern absehen, vor Kadyrow kuschen. Er hatte das Gefühl, dass es keinen Sinn hat weiterzumachen.»

«Ich dachte, vielleicht suche ich mir doch eine andere Arbeit? Eine, in der ich wirklich etwas bewirken kann. Früher hast du die Resultate deiner Arbeit gesehen», erzählt eine Memorial-Mitarbeiterin, «sie liessen jemanden frei, und man erreichte wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit. Aber in der letzten Zeit kann man gar nichts mehr machen. Direkt neben unserem Büro hielten sie einen Wagen an, schnappten sich einen jungen Kerl und nahmen ihn mit. Du gehst zu den Verwandten, aber die Leute sind eingeschüchtert. Es ist ein Teufelskreis: Es gibt einen Haufen Information, aber du kannst sie nicht verwenden.» Ojub hatte aus irgendeinem Grund niemals Zweifel. Und das, obwohl er all die Jahre am Abgrund entlangbalancierte.

«Tatsächlich wurde Ojub mehrmals gewarnt», sagt ein Kollege. «Sie griffen ihn auf und nahmen ihn mit auf die Polizeidienststelle. Ojub erzählte nie, womit sie ihn dort konkret bedrohten, aber ich kann es mir vorstellen: ‹Entweder hörst du auf, gegen uns zu agitieren, oder dich gibt’s bald nicht mehr.› Er wusste ganz genau, dass sie Mörder sind, dass sie jeden Moment seine Kinder holen könnten. Und so hat er viele Jahre gelebt.»

«Ich hab’s irgendwann aus ihm rausgekriegt, er hat’s mir erzählt», sagt Sokirjanskaja. «Sie sagten ihm, dass sie ihn umbringen würden, keine Gespräche mehr, das sei das letzte Wort. Damals wollte er nicht darüber sprechen, er machte es nicht öffentlich. Selbst die Moskauer wussten davon nichts. Er hat nichts erzählt, weil er Angst hatte, dass man Memorial in Tschetschenien schliessen würde.»

«Es gab oft riskante Situationen», erzählt Jelena Milaschina. «Aber ich hielt mich immer an das folgende Prinzip: Wenn Ojub ‹Stopp› sagt, dann hören wir auf. Ausser in einem einzigen Fall, dieser verfluchten Jahrhunderthochzeit. 2015 kamen Verwandte von Luisa Goilabijewa aus dem Dorf Baitarki auf mich zu. Der Chef der örtlichen Polizeibehörde, Naschut Gutschigow, wollte ein 17-jähriges Mädchen zu seiner zweiten Frau machen. Er war dreimal so alt wie sie. Ihre Familie bat uns, darüber zu schreiben. Sie baten Kadyrow, einzuschreiten, denn er hatte Ehen mit Minderjährigen verboten. Ich schrieb, aber Ramsan Achmatowitsch reagierte mit ‹Leck mich am Arsch!›, und entschied, eine Show daraus zu machen: ‹Die Jahrhunderthochzeit›. Aber ich musste mit diesem Mädchen sprechen, deswegen fuhr ich hin.»

«Ojub war ja spezialisiert auf die Bergregionen, die man nur schwer erreichte. Ich ging zu ihm. Er sagte: ‹Du kannst da nicht hinfahren.› Ich sagte: ‹Ojub, ich verstehe, dass ich nicht sollte, aber ich werde zum ersten Mal nicht auf dich hören, weil ich muss.› Ich entschied über Dagestan zu fahren, weil es dort sicherer war und die Chance bestand, noch bei Tageslicht zurückzukehren. Morgens früh klingelte mein Telefon. Ojub stand schon am Posten zwischen Tschetschenien und Dagestan. ‹Ohne mich wirst du nicht fahren!›»

«Ihm war klar, dass ich in jedem Fall fahren würde, und er konnte mich nicht alleine gehen lassen. Ein zweites Mal das durchmachen, was mit Natascha passiert war, das konnte er nicht», fährt Milaschina fort. «Wir assen Fladenbrot und fuhren durch die wunderschöne Berglandschaft. Ojub hatte einen Plan. Na ja, und der erste Mensch, an den wir uns in Baitarki diesem Plan entsprechend wandten, verriet uns an Kadyrow. Das war uns nach buchstäblich zwei Sätzen klar. Trotzdem fuhren wir zu den Goilabijews. Luisa rannte vor uns weg, ihr Vater ebenfalls. Wir sprachen mit ihrer Schwester und fuhren zurück. Da bemerkten wir, dass wir verfolgt wurden. Wie wir in diesem Lada Kalina die Serpentinen entlanggejagt sind! Es regnet, wir nehmen eine Kurve nach der anderen, und da kommt ein Abhang und Erde rieselt in einem fort hinunter. Nun ja, eine ziemlich lustige Fahrt war das mit ihm ... Als wir in Grosny ankamen, war es bereits spät in der Nacht. Und Ojub bekam sofort Anrufe: Man warnte ihn, dass er unverzüglich aus Tschetschenien verschwinden müsse.»

Nach der Sache in Baitarki blinkte der rote Alarmknopf wie verrückt, Ramsan und Lord mussten schäumen vor Wut. Memorial brachte Ojubs Frau und Kinder umgehend aus Tschetschenien weg, nach Moskau und dann nach Schweden. Ojub verbrachte dort drei Monate mit ihnen und kehrte dann zurück. Ein Leben ausserhalb Tschetscheniens und seiner Arbeit konnte er sich nicht vorstellen. In die Einzelheiten seiner Arbeit weihte Ojub seine Familie nie ein.

«Wir dachten, er macht einen ganz normalen Beamtenjob», sagt seine Schwester. «Alles war so offiziell, die Organisation hatte einen guten Namen. Memorial arbeitet ja nicht nur in Tschetschenien, sondern überall. Deswegen waren wir nicht beunruhigt.»

«Die Familie war sich nicht bewusst, wie ernst die Lage war», erklärt ein Kollege. «Ansonsten wären sie natürlich nicht zurückgekehrt. Ich erinnere mich an diese Diskussionen. Ojub sagte ihnen ‹Nein, auf keinen Fall›, aber sie verstanden es nicht: ‹Du wohnst doch auch zu Hause. Das wollen wir auch!›»

Ein halbes Jahr später kehrten sie zurück. Sie liessen einfach alles stehen und liegen, flogen zu Ojub und pfiffen auf ihren europäischen Flüchtlingsstatus.

Zwei Kapitäne

Dass die tschetschenische Memorial-Abteilung nach Nataschas Tod neun Jahre durchgehalten hat, ist ein echtes Wunder. Das hat zum Teil auch damit zu tun, dass 2010 an Ojubs Seite völlig unerwartet ein Mitkämpfer auftauchte.

Igor Kaljapin erinnert an eine Bulldogge – stämmig, ernst, furchtlos und mit eisernem Händedruck. Er hatte Physik studiert, wurde während der Perestroika aufgrund seiner Teilnahme an den Studentenprotesten aus der Universität ausgeschlossen und war in den 1990er-Jahren als Geschäftsmann in seiner Geburtsstadt Nischni Nowgorod tätig. Unter falschem Vorwand wurde er verhaftet, und man holte unter schwerer Folter ein Geständnis aus ihm heraus. Nach seiner Freilassung gründete Igor das Komitee gegen Folter und wurde als Menschenrechtsaktivist aktiv. Stück für Stück wurde das Komitee zur schlagkräftigsten Menschenrechtsorganisation Russlands, die folternde Polizisten und Gefängniswärter hinter Gitter brachte. Das Komitee ist für seine strafrechtlichen Ermittlungen auf einem sehr hohen, professionellen Niveau bekannt. Die Mitarbeiter kennen sich hervorragend in der Strafprozessordnung aus und sind in der Lage, sich wie Kletten an die Fersen der offiziellen Strafverfolger zu hängen und so zu verhindern, dass die die Ausübung ihrer Pflichten verweigern.

Als nach der Ermordung Estemirowas klar wurde, dass die tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten in Tschetschenien unter Todesgefahr arbeiteten, traf Kaljapin die überraschende Entscheidung, Memorial zu Hilfe zu eilen.

«Wir wandten die Technik der freien mobilen Gruppen an», erzählt er. «Je drei Leute wechselten sich ab. Sie sassen einen Monat in Tschetschenien und wurden dann abgelöst. Wir kopierten die Arbeit des Ermittlungskomitees. Die machen sich niemals mit weniger als drei Leuten an einen Fall ran. Zwei arbeiten, der Dritte beobachtet aus der Ferne, hält den Sichtkontakt, und überall sind Geräte, die alles dokumentieren. In Tschetschenien wusste man, dass wir einen Haufen Spezialtechnik haben, und davor haben sie gezittert. Obwohl das natürlich auch nicht vor Kugeln schützt. Alle grossen Fälle, die wir nach Estemirowas Ermordung übernommen haben, haben wir von Titijew bekommen. Orlow sagte einmal: ‹Wir haben da einen geheimen Mitarbeiter, der alle und alles kennt. Geh zu ihm ins Büro.› Wir haben uns getroffen, sind raus auf die Strasse, spazieren», erinnert sich Kaljapin. «Und sofort war das Vertrauen da, ohne grosse Worte. Ich sagte: ‹Wir sind bereit, unseren Traktor vor euren Karren zu spannen und mitzuziehen.› ‹Ich weiss nicht, wie unsere Leute reagieren werden.› ‹Rede mit ihnen in meiner Anwesenheit, sonst trauen sie sich nicht.› ‹Wo treffen wir uns – sollen sie nach Grosny kommen?› ‹Nein, sie werden sich fürchten.› ‹Dann lass uns einen Treffpunkt in der Nähe der Dörfer suchen.› Vom ersten Gespräch an stimmten unsere Einschätzungen einer Situation vollkommen überein.»

Ich glaube, Ojub erkannte in Kaljapin sofort den Profi. Das war natürlich nicht das Einzige, was sie verband. Sie sind sich überhaupt ähnlich. Beide sind sehr ernsthaft, mit runden Gesichtern, und verfügen über eine ungewöhnliche Mischung aus Pragmatismus und Idealismus. Kaljapin hängte sich hinter acht Fälle von Entführung und Mord durch die Kadyrowzy.

«Wir teilen das Risiko gerecht auf», sagt Kaljapin. «Jetzt nimmst du mehr Risiko auf dich, jetzt ich. Grob gesagt, haben wir die Löcher gebohrt, und Memorial hat die Gräben gebuddelt.»

Ermittlungen in den Fällen, die sich das Komitee gegen Folter vorgenommen hatte, gab es natürlich nie.

«Wir haben permanent aufgezeigt, dass das dort ein anderer Staat ist. Wir sagen, dass russische Gesetze in Tschetschenien nicht gelten, und erklären, wie das abläuft. Beispielsweise will ein Ermittler aus Moskau bei einer Polizeistation vorbeischauen, in der man Leute, an die Heizkörper gefesselt, festhält. Der Wachhabende am Tor entsichert sein Gewehr und sagt: ‹Hau ab, oder ich mach dich fertig!› Dann holt der Ermittler Verstärkung aus Chankala, aber die russischen Sondereinheiten weigern sich einfach, aus den Bussen zu steigen. Sie haben Angst. Oder ein anderes Beispiel: Der Innenminister Alchanow ordnet auf unser Gesuch hin an, die Gefangenen freizulassen, und ein Mitarbeiter der Polizeibehörde sagt: ‹Ich pfeife auf die Anordnung von Alchanow, denn Alchanow ist ein einfacher General, aber ich bin ein Verwandter Ramsans!› Und immer wenn es um die Grössenordnung des Problems ging, trat Ojub auf den Plan: Er wusste, wie viele Menschen festgehalten werden, wie viele verschwunden sind, wie viele Fälle eröffnet worden waren etc.»

Trotzdem riskierten die Leute aus Nischni Nowgorod wahnsinnig viel. Man hätte sie jederzeit ohne die geringste Furcht vor Konsequenzen ausschalten können, einem spontanen Impuls folgend, denn niemand hätte nach den Mördern gesucht. Ich frage Kaljapin, weshalb er keine Angst hatte. «Weisst du, ich musste mich schon einige Male von meinem Leben verabschieden. Erst haben mich die Bullen gefoltert, dann haben mich Gangster gefoltert und aufgehängt. Ich weiss einfach, was man in solchen Momenten denkt. Und ich habe mich immer gefragt: Was ist so toll daran, in seinem Bett an einer Krankheit zu sterben? Was ist daran so toll, ich versteh’s nicht. Und sich deswegen in die Hosen machen? Irgendwas Wichtiges nicht tun? Dass sie einen umbringen, das schreckt mich absolut nicht. Es sind die Schmerzen, die Folter, vor denen ich mich fürchte.»

Klar, das sind Igors Gedanken, aber mir scheint, sie treffen auch auf Ojub zu.

Die Arbeit des Komitees gegen Folter hatte einen zweiten, geheimen Effekt, über den nur wenige Bescheid wissen. Kaljapin veranstaltete einen derartigen Lärm, dass er die ganze Aufmerksamkeit der Machthaber auf sich lenkte, während Ojub seine Arbeit im Stillen fortsetzen konnte. Einzig die Anwesenheit des Komitees erlaubte es Memorial, so lange in Tschetschenien durchzuhalten. Unter Ojubs Leitung half Memorial mehr als zweitausend Menschen.

Die Aktivisten aus Nischni Nowgorod waren permanenter Überwachung ausgesetzt. Im Dezember 2014 zertrümmerten Bewaffnete das Büro des Komitees in Grosny und brannten es anschliessend nieder. Im Juni 2015 traten Maskierte die Tür ein und demolierten und plünderten das Büro erneut. Den Mitgliedern der mobilen Gruppe gelang es, aus dem Fenster zu flüchten. Im März 2016 wurde ein Bus des Komitees an der tschetschenisch-inguschetischen Grenze gestoppt. Ein maskierter Mob mit Baseballschlägern schleifte die Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und den Fahrer unter «Allahu Akbar»-Rufen heraus, schlug alle, auch die Frauen, brutal zusammen und raubte sie aus. Den Bus übergossen sie mit Benzin und zündeten ihn an. Gleichzeitig wurde das Büro des Komitees in Inguschetien von einem Dutzend Menschen mit Maschinenpistolen zerstört und geplündert.

«In schwierigen Situationen reichte uns ein Blick, um einander zu verstehen», sagt Kaljapin. «Nachdem sie unseren Bus abgefackelt hatten, fuhr ich sofort nach Grosny, um bei Memorial nach dem Rechten zu sehen. Ich sagte: ‹Mädels, die U-Boot-Kapitäne müssen reden.› Ich ging zu Ojub und sah schon die Frage in seinem Blick: Dir ist doch klar, dass sie dich jede Minute holen können? Ich sagte: ‹Genau deswegen haue ich jetzt ab. Lass uns schnell reden.›» Noch am selben Abend überfielen sie Kaljapin. Es war offensichtlich, dass das Komitee seine Basis in Tschetschenien nicht länger würde halten können. Ojub war jetzt allein.

Salam Aleikum

«Es gab Fälle», sagt eine Mitarbeiterin von Memorial, «da bemerkten wir, dass uns ein Auto verfolgt. Aber am zweiten Tag war das Auto nicht mehr da und am dritten auch nicht. Also massen wir dem nicht allzu grosse Bedeutung bei.»

«Es ist merkwürdig», sagt ein anderer Kollege von Ojub. «Man versteht alles, aber gleichzeitig kommt es einem so vor, als würde man selbst davonkommen, solange man sich an die Sicherheitsvorkehrungen hält. Um andere sorgt man sich natürlich, aber selbst kann man nicht die ganze Zeit mit dieser Angst leben. Man hört einfach auf, darüber nachzudenken, schliesst diese Option für sich aus. Das ist kein Ausweg, aber so läuft es eben.»

2016 startete die Kampagne gegen «Drogenabhängige». «Wer in der Republik Tschetschenien den Frieden stört, der wird zum Teufel gejagt. Ob mit oder ohne Gesetz, das hat keine Bedeutung … Es wird geschossen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum, Problem gelöst. So sieht das Gesetz aus!», kündigte Kadyrow auf einer Versammlung für den Kampf gegen die Drogensucht an.

Die Polizei beeilte sich, seine Vorgaben in die Tat umzusetzen. Allein 2017 wurden laut Kadyrow eintausendfünfhundert Menschen verhaftet. Drogen hingen sie jedem an, der besoffen aufgegriffen wurde. Junge Männer wurden geschlagen und aufgefordert, Drogenbesitz zu gestehen, andernfalls würde man ihnen die Planung von Terroranschlägen oder die Mitgliedschaft in einer verbotenen paramilitärischen Organisation anhängen. Der Grossteil der Fälle war identisch. «Der Angeklagte hat mehrere Blätter eines wild wachsendes Cannabisstrauches abgeschnitten und sie getrocknet.» Absolut alle Beschuldigten legten ein Geständnis ab und wurden in einem «Spezialverfahren» verurteilt: Man brachte sie zum Gericht, wo das Urteil sofort verhängt wurde.

Auch in politischen Angelegenheiten waren Drogen zum Routinevorgehen geworden. Auf einer Sitzung in Urus-Martan sagte der erste Stellvertreter des Chefs des tschetschenischen Innenministeriums, Apti Alaudinow, Folgendes: «Wenn einer auch nur entfernt wie ein Wahhabit aussieht, dann heisst es bei mir: ‹Kassieren.›» – Der neue örtliche Polizeichef sass neben ihm. – »Wen man einsperren kann, den sperr ein. Wenn du jemandem etwas in die Tasche stecken kannst, dann steck ihm was in die Tasche. Mach, was du willst, und töte, wen du willst! Der Herrscher hat gesagt, ich soll ihm das so übermitteln. Ich schwöre auf Allah, ich unterstütze das!» Allgemein reden die Anführer der Republik auf Tschetschenisch äusserst offenherzig.

Im April 2016 wurde Schalaudi Gerijew entführt, ein tschetschenischer Korrespondent des Kawkaski Usel. Die Entführer zogen ihn aus einem Bus, schlugen ihm eins über den Schädel und drängten ihn in einen schwarzen Lada Priora. Sie fesselten ihm die Arme mit Draht und brachten ihn in einen Wald. Dort schlugen sie ihn, zogen ihm eine Plastiktüte über den Kopf und würgten ihn und drohten, ihn zu erschiessen. Sie sagten ihm, dass er nur dann aus dem Wald zurückkehren würde, wenn er Drogenbesitz gesteht. Ansonsten würde er verschwinden.

Im Untersuchungsgefängnis widerrief er sein Geständnis, aber selbstverständlich verurteilten sie ihn trotzdem. Er sitzt bis heute. (Vor ihm, im Jahr 2014, war nach dem gleichen Artikel der tschetschenische Dissident Ruslan Kutajew verurteilt worden. Er hatte es gewagt, entgegen der Anweisung Moskaus und Kadyrows des 23. Februars als siebzigsten Jahrestags der Deportation des tschetschenischen Volkes zu gedenken.)

Im Frühling und Sommer 2017 veröffentlichten Jelena Milaschina und Irina Gordijenko in der Nowaja Gaseta ihre berühmten Recherchen zur Januarerschiessung und zur Jagd auf Homosexuelle: In der Nacht auf den 26. Januar hatte es in Grosny auf einem Polizeirevier eine Massenerschiessung gegeben. Ohne Gerichtsurteil waren mindestens siebenundzwanzig (möglicherweise gar doppelt so viele) Menschen erschossen worden, die man des Wahhabismus verdächtigte. Die Verwandten der meisten Opfer unterschrieben ein Dokument: «Mein Sohn/Bruder hat die Republik Ende Februar verlassen, um in Moskau zu arbeiten. Es bestehen keinerlei Ansprüche gegen die tschetschenische Polizei.» Oder sie unterschrieben eine Erklärung, wonach ihr Sohn nach Syrien gegangen sei, um zu kämpfen. Ojub half den Journalisten, die Informationen zu überprüfen. Das war eine seiner letzten Untersuchungen.

Im Frühling begann in Tschetschenien die organisierte Ausmerzung von Homosexuellen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, sehr viele gefoltert und ermordet. Die Angelegenheit wurde zu einem internationalen Skandal, sodass die föderale Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa sogar eine Untersuchungskommission mit der Überprüfung beauftragte.

Ende des Jahres wurde Ramsan Kadyrow, nach Daudow und Anaudinow, auf die Magnitski-Liste gesetzt, «wegen der Beteiligung an verbrecherischen Gewalttaten, Folter und Menschenrechtsverletzungen». Im Anschluss daran wurde Kadyrows Instagram-Account blockiert. Es entbehrt nicht der Komik, dass ausgerechnet dies die heftigste Reaktion durch die tschetschenische Führung nach sich zog. «Kadyrow wurde nicht nur um sein liebstes Spielzeug gebracht. Das war auch sein persönliches Massenmedium mit einem Publikum von mehr als drei Millionen Abonnenten», erläutert Tscherkassow, der Leiter von Memorial.

Am 25. Dezember erklärte Magomed Daudow öffentlich, dass die Menschenrechtsaktivisten für die Abschaltung des Kadyrowschen Instagram-Accounts verantwortlich seien: «Wenn die Todesstrafe in Russland nicht verboten wäre, hiesse es für die Feinde des Volkes ‹Salam Aleikum›, und das war’s.»

«Ich erinnere mich, wir waren mit dem Monitoring beschäftigt», erzählt eine Kollegin von Ojub. «Wir fuhren an irgendeiner Strasse vorbei, und plötzlich erzählte er mir die Einzelheiten eines Falles. ‹Du musst wissen, dass hier ein Mensch wohnt, der an diesem und diesem Verbrechen beteiligt war›, und er erwähnte irgendwelche Details. Anfangs hörte ich geistesabwesend zu, ich war müde, schlief beinahe ein. Aber dann dämmerte es mir: Er war permanent darauf vorbereitet, dass er bald nicht mehr da sein würde. Und ich dachte mir, dass ich nachfragen muss, ich hatte ja nicht alles gehört ...» Ojub konnte nicht aufhören. Er war schon alt, es war zu spät sich einzugestehen, dass nichts dabei herausgekommen war. Hinter ihm standen Menschen, um die er Angst hatte, aber er zog die Sache durch.

«Ich habe ihn im Scherz gefragt: ‹Ojub, du bist ja mittlerweile quasi in die Sporthalle eingezogen. Du gehst jeden Tag hin, nicht?›», sagt Lokschina. «Er antwortet ‹Ja› und fügt ganz ernst hinzu: ‹Wenn sie mich mitnehmen und foltern, glaube ich einfach, dass eine gute körperliche Verfassung hilft, das auszuhalten.› Er sagte das ohne einen Anflug von Ironie, ohne auf Mitgefühl aus zu sein, auch nicht auf Mitleid. Es war eine Feststellung.»

«Bei den Tschetschenen ist es wichtig, sich in Form zu halten», erklärt meine Schwester. «Wenn ein Mann einen Bauch hat, dann ist das unschicklich, man verliert den Respekt vor ihm. ‹Wie ein Kolchosbauer›, werden sie sagen. Ojub ist ja auch noch Sportlehrer. Aber er ist sechzig Jahre alt, und jeden Abend geht er in die Sporthalle ... Ich fragte mich, wofür. Wie sehr er sich auch aufpumpt, die Kräfte sind in keinem Fall gerecht verteilt. Die sind doch bewaffnet, jung und in der Überzahl. Aber dann erzählte einmal ein mir bekannter Lehrer von einem Dorfbewohner, den die Kadyrowzy in den Kofferraum eines Autos gezwängt hatten. Und Ojub hat gesagt: ‹Mich kriegen sie lebend nicht in einen Kofferraum.› Ihm ist es also wichtiger, die Demütigung zu verhindern, als den Tod. Auf diesen Fall bereitete sich Ojub vor.»

Zweihundert Gramm

«Er rief im Dezember 2017 an, es waren Winterferien, man hatte uns schon freigegeben», erinnert sich eine Kollegin von Ojub. «Er sagte mir: ‹Wirst du übers Wochenende in der Stadt sein? Geh beim Büro vorbei. Auf dem Schrank liegen Pakete, nimm die mit.› Ich ging vorbei und sah, dass da Geschenke für meine Kinder lagen. Das war unser letztes Gespräch.»

Am 9. Januar, dem ersten Arbeitstag im Jahr 2018, verliess Ojub sein Haus, um sich mit einem Freund im Dorf Maitrup zu treffen. Der Freund wartete etwa eine Stunde auf ihn, dann rief er bei Ojub an, aber der nahm den Hörer nicht ab. Unverrichteter Dinge machte sich der Freund auf den Weg und fuhr Ojub entgegen.

Nach kurzer Zeit sah er Ojubs Lada Kalina am Strassenrand und daneben Polizeiautos vom Typ Niva und UAZ-Patriot sowie Männer in Camouflageuniformen mit Ärmelstreifen der Spezialeinheit GBR, einer schnellen Eingreiftruppe. Der Freund hielt an und stieg aus, aber Ojub gab ihm ein Zeichen, er solle weiterfahren. Er wollte niemanden mit reinziehen.

Der Freund fuhr weiter, wendete, aber Ojub gab ihm erneut ein Zeichen, nicht anzuhalten. Beim dritten Mal waren Ojub und die Polizisten verschwunden, aber der Freund hatte verstanden, dass sie nach Kurtschaloj gefahren waren. Auf dem Hof der Polizeistation sah er Ojubs Wagen. Man forderte Ojub auf, ein Geständnis bezüglich Drogenbesitzes zu unterzeichnen, und drohte ihm, dass man ansonsten seinen Sohn wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bewaffneten Organisation rankriegen würde. Ojub lehnte ab. Er sagte, dass die «gefundenen» Drogen ohne Zeugen keinerlei Beweiskraft hätten. Das hatten die Polizisten nicht erwartet, zumal doch sonst alle «Drogenabhängigen» das Schuldeingeständnis unterschrieben. Man fuhr Ojub zurück zur Strasse und inszenierte eine Festnahme durch eine Streife und die Beschlagnahmung von Drogen mit Zeugen. Die Kameras in der Polizeistation und in den Autos, die diesen ganzen Zirkus normalerweise hätten aufnehmen sollen, funktionierten natürlich nicht. Entlang des gesamten Weges, welchen die Polizeiwagen in Kurtschaloj zurücklegten, hatten gleichzeitig fünfzehn weitere Videoüberwachungssysteme «den Geist aufgegeben», darunter Kameras in Verwaltungsgebäuden und Banken. Ojubs versiegelter Wagen wurde auf dem Parkplatz der Polizeistation aufgebrochen und dessen Videoaufzeichnungen sowie Satellitennavigation gestohlen.

Nun galt es, ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Aber das gelang ihnen nicht. Nachdem er Ojubs Auto erkannt hatte, rief sein Freund bei Memorial an. In Kurtschaloj machte sich ein Anwalt auf den Weg, aber man liess ihn nicht in die Polizeistation und behauptete, Ojub wäre nicht dort. Aber in Moskau hatten sie bereits Alarm geschlagen: Oleg Orlow war mit den Vertretern des Menschenrechtsrates, Michail Fedotow und Tatjana Moskalkowa, in Verbindung getreten. Am Abend desselben Tages musste der Chef der Polizeibehörde offenlegen, dass Ojub bei ihnen war und man ihn des Drogenbesitzes beschuldigte. In seinem Wagen hatte man angeblich zweihundert Gramm Marihuana gefunden.

Ramsan Kadyrow trat im tschetschenischen Fernsehen auf, nannte Titijew einen Drogensüchtigen und erklärte: «Sie [die Menschenrechtsaktivisten] sagen Dinge, die nicht stimmen, und selbst wenn es so wäre und er darüber redet oder seine kleinen Berichte schreibt, dann hat er sich dadurch gegen sein Volk gestellt. Er ist ein Feind unseres Volkes. Sie haben keine Heimat, keine Nation, keine Religion. Ich wundere mich wirklich über diesen Menschen, der für die arbeitet und gleichzeitig behauptet, dass er ein Tschetschene sei. Deswegen sage ich euch, wir werden die Wirbelsäulen unserer Feinde brechen.»

In der Nacht auf den 17. Januar zündeten Maskierte das Büro von Memorial in Nasran an. Am 19. Januar fand im Büro von Grosny eine Hausdurchsuchung statt, in deren Verlauf angeblich zwei Zigaretten mit Rauschgift gefunden wurden. Am 22. Januar wurde in Machatschkala ein Dienstwagen der dagestanischen Memorial-Abteilung angezündet, deren Mitarbeiter sich in Ojubs Fall eingeschaltet hatten. Eine SMS ging auf das Bürotelefon ein: «Euer Leben hängt am seidenen Faden. Macht den Laden dicht! Nächstes Mal verbrennen wir euch zusammen mit eurem Büro. Das Auto war eine Warnung.» Die Polizeibeamten zuckten mit den Schultern: «Nach wem sollen wir da suchen? Das sind doch Kadyrowzy.»

Als ich hörte, dass man Ojub Drogen untergejubelt hatte, war mein erster Gedanke: Gott sei Dank! Seinen Freunden war klar, dass es mit Ojub kein gutes Ende nehmen würde. Er hatte nicht vorgehabt zu verschwinden, und die einzige Alternative war der Tod.

«Ich denke, vielleicht hat Allah das alles so eingerichtet, damit das Büro geschlossen wird?», sagt eine seiner Kolleginnen. «Denn mittlerweile ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Es ist schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber der Kampf gegen sie ist sinnlos geworden, es werden nur noch mehr von unseren Leuten dahingerafft.»

«In diesem Moment empfanden wir alle etwas wie Dankbarkeit für das tschetschenische Innenministerium: Danke, dass er am Leben ist», schrieb Jelena Milaschina.

Ausser dem ihm untergeschobenen Paket wurde noch ein «Zeuge» namens Amadi Baschanow organisiert, der gesehen haben will, wie Ojub am helllichten Tag auf der Strasse Cannabis rauchte. Aber vor der Zeugengegenüberstellung gab’s eine Panne. Der Anwalt Pjotr Saikin bemerkte, dass Ojub zu leicht von den Komparsen zu unterscheiden war: Er trug Latschen, während alle anderen mit Stiefeln bestückt waren. Und er bestand darauf, dass dieses Detail verändert wird.

Milaschina beschrieb die Gegenüberstellung in der Nowaja Gaseta so: «Der Zeuge zeigte alle Anzeichen eines Drogenrausches. Die Pupillen waren riesig, sodass die Iris kaum noch zu sehen war. Er bewegte sich sehr langsam. Er schwankte leicht und reagierte überhaupt nicht auf den Ermittler. Bekleidet war der Zeuge mit einer sauteuren Lederjacke, die eindeutig jemand anderem gehörte, und gleichzeitig einer zerrissenen Hose und zerschlissenen Schuhen ohne Schnürsenkel. Seine Haare waren so fettig, dass sie, zusammengeklumpt, wie Eiszapfen herabhingen. Er stank so fürchterlich, als ob er sich wochenlang nicht gewaschen hätte. Es war klar, dass nur das Erscheinen der Kurtschalojer Verantwortlichen ihn wachrütteln konnte. Sobald er sie sah, zuckte der Zeuge zusammen und versuchte, sich in einer Ecke zu verkriechen. Der Ermittler stellte ihm mehrere Fragen, von denen er jedoch keine einzige beantwortete. Er kannte Ojub nicht, das war völlig offensichtlich. Er fixierte mit den Augen die Füsse der aufgestellten Verdächtigen, als würde er einen Anhaltspunkt suchen.» Der verärgerte Ermittler notierte im Protokoll zunächst den wahren Sachverhalt, dass der Zeuge Ojub nicht hatte erkennen können. Aber später erklärte er, dass er sich vertan hatte. Die Gegenüberstellung habe zur Identifizierung geführt, er hätte es lediglich falsch notiert. Auf den Anwalt Saikin setzte man demonstrativ einen Spitzel an und setzte sein Auto in Brand. Ojubs anderer Anwalt, Aslan Telchigow, war aufgrund von Drohungen gezwungen, aus Tschetschenien zu fliehen.

Drei Wochen nach Ojubs Verhaftung erklärte Kadyrow: «Wir haben im Nachhinein erfahren, dass sie sich verkauft hat. Sie hat das Image unseres Volkes vor dem Westen und Europa diskreditiert. Wir haben erkannt, was für ein Miststück sie war, als wir sie mit Drogen erwischt haben.» Ramsan sprach von Ojub in der weiblichen Form, so wie er es zuvor mit dem ermordeten schwulen Sänger Selim Bakajew getan hatte.

Ojubs Frau und Kinder flüchteten sofort nach seiner Verhaftung aus Tschetschenien. Aber im Mai erfüllte die Polizeibehörde von Kurtschaloj ihr Versprechen: Ein Neffe von Ojub wurde verhaftet. Man erhob Anklage gegen ihn wegen Drogenbesitzes.

Der Prozess

Ojub sieht scheu aus hinter den Gitterstäben. Es scheint, als wäre es ihm ein bisschen unangenehm, dass alle nur seinetwegen hergekommen sind. In der Pause dränge ich mich zu seinem Käfig durch und sage, dass ich in einer Woche mehr Gutes über ihn gehört habe als jemals überhaupt über irgendjemanden. Ojubs Gesicht bleibt eine reglose Maske. Er ist offensichtlich verlegen.

«Für Ojub war ‹Drogenabhängiger› ein schlimmes Schimpfwort», sagt Lokschina. «Wenn er über tschetschenische Silowiki sprach, die besonders viel Dreck am Stecken hatten, presste er zwischen den Zähnen hindurch: ‹Drogenabhängiger.› Er konnte sich vermutlich nicht vorstellen, wie ein Mensch solche schrecklichen Dinge tun konnte, ohne dabei unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen. Und dass nun ernsthaft jemand denken könnte, dass er selbst ein Junkie ist, ein Dealer, das muss für Ojub ungeheuerlich sein.»

In den ersten Reihen sitzen die Menschenrechtsaktivisten, in den hinteren Bauern aus Kurtschaloj, mit braunen Gesichtern unter ihren Tjubetejka-Kappen, Verwandte und Nachbarn von Ojub.

«Im Dorf glaubt kein Mensch, dass man Drogen bei ihm gefunden hat», erzählt ein Nachbar. «Das kann einfach nicht sein. Als wir in der Schule waren, schimpfte er selbst mit dem Direktor und der Schulleitung, weil die rauchten. Und den Typen, den sie im Fernsehen hingestellt haben, der angeblich ein Nachbar ist, der ihn verleumdet hat, den kennt im Dorf niemand. Wenn ihn jemand kennen würde, gäb’s ihn längst nicht mehr, so wütend, wie alle waren.»

«In der Moschee bei uns versammelten sich fünftausend Menschen», sagt Jakub Titijew. «Jeder Einzelne von ihnen ist bereit, für Ojub auszusagen. Die ersten Tage gab es zu Hause keine Ruhe. Alle kamen vorbei, um ihr Beileid auszudrücken.»

«Er hat mir diese Gebetskette hier gegeben.» Ein Neffe zeigt mir eine lila Kette mit einer kleinen Quaste. Wie alles, was aus Ojubs Händen stammt, ist sie hervorragend gearbeitet. «Er hat sie im Gefängnis gemacht, aus Brot und Kaffee. Er schreibt immer: ‹Entschuldigt, dass all das wegen mir passiert, dass ihr im Gerichtssaal weint.› Meine Tante fragt immer: ‹Hast du gegessen? Geben sie dir genug zu essen?› Und er: ‹Mehr Fragen hast du nicht? Immer redest du übers Essen. Jetzt gerade ist mir nicht nach Essen zumute›, und einen Tag später schreibt er dann: ‹Entschuldige, meine Liebe, ich wollte dich nicht kränken.› Ich bin auch vorbeigegangen: ‹Ojub, sag mal, was kann man dir bringen?› Er sagt: ‹Bring mir eine Cola.› Ich wundere mich: ‹Du trinkst doch gar keine Cola?› ‹Die mit mir in der Zelle sitzen aber schon.›»

«Er hat im Traum seinen älteren Bruder gesehen, der verstorben ist», sagt der Neffe, «und er sagte uns: ‹Ich habe meinen Bruder im Traum gesehen, er hat mich um Geld gebeten. Ist mein Gehalt eingetroffen? Verteilt es an die Armen.› Selbst jetzt will er noch allen helfen.»

Das Gericht befragt einen Zeugen nach dem anderen. Achtundzwanzig Mitarbeiter der Polizeibehörde von Kurtschaloj, die sich an nichts erinnern.

«Mit welchen Autos gehen Sie auf Streife?»
«Weiss ich nicht mehr.»
«Welche Farbe hat Ihre Uniform?»
«Weiss ich nicht mehr.»
«Wie lautet Ihr Kennzeichen?»
«Weiss ich nicht mehr.»

«Die Verteidigung versucht, die Zeugen zu veralbern!», entrüstet sich der Staatsanwalt. «Ich beantrage, das im Protokoll festzuhalten!»

Autos der Marke Lada Niva oder UAZ-Patriot scheint es auf der Polizeistation nie gegeben zu haben. Grüne Camouflageuniformen mit einem aufgenähten GBR hat keiner je getragen oder gesehen.

«Aber hier ist ein Foto von Ihnen auf Instagram, in genauso einer Uniform.»
«Jaaa ... zu Hause habe ich so eine, ich trage sie zu Hause.»
«Was bedeutet GBR?»
«Weiss ich nicht.»

Als die Reihe an denen ist, die unmittelbar am Unterschieben der Drogen beteiligt waren, ändert sich das Verhalten. Die Polizisten antworten aggressiv, viele lachen hinter vorgehaltener Hand. Nurid Salamow, der ehemalige zuständige Ermittler, der nach der Panne bei der Gegenüberstellung abgesetzt wurde, findet alles zum Lachen komisch: die Frage des Anwalts, welches Datum auf dem Schild stand, mit dem er Ojubs Wagen versiegelt hat, die Frage, ob Titijew Waffen bei sich hatte, der Versuch zu klären, welche Untersuchungen er durchgeführt hat.

«Ich bin nicht dazu verpflichtet, das zu wissen. Ich erinnere mich nicht, was ich da überprüft habe, es gab viele Untersuchungen. Meinen Sie», lacht er, «dass ich nur eine Sache auf dem Tisch habe?»
Von dem bei Ojub «gefundenen» Päckchen mit Marihuana nahm Salamow nicht einmal Fingerabdrücke.

Es ist ein endloses Ping-Pong, Variationen ein und desselben Dialoges. Anwalt: «Du kannst ja nicht einmal richtig lügen!» Zeuge: «Und du wirst so oder so nichts rausfinden, leck mich!»

«Bist du gläubig?», fragt plötzlich Ojub den Ermittler.
«Ja …»
«Und welchen Glauben hast du?»
«Wie jetzt?», antwortetet Salamow. «Islam, natürlich.»
«Es kann ja sein, dass es einen Glauben gibt, der einem das Lügen erlaubt. Aber im Islam ist das eine Sünde. Wenn man dir einen Fall übergibt, hast du, als gläubiger Muslim, was zu tun – die Wahrheit herauszufinden oder meine Schuld zu beweisen?»
«Die Wahrheit herauszufinden …», antwortet Salamow sehr leise.
«Und was hast du getan?»
«Angeklagter, Frage abgelehnt. Wir sind hier nicht in einem Scharia-Gericht!»

Am 22. August trat Ramsan Kadyrow vor tschetschenischen Polizisten auf. «Käuflicher Abschaum aus allen Ecken der Welt, aus dem ganzen Land kommt zu diesem Prozess. Als ob es bei uns in Russland oder in der Welt keine anderen Probleme gäbe ausser diesen einen Drogenabhängigen», sagte er. «Meine Rechte verteidigen sie nicht! Mich haben sie illegal auf die Sanktionsliste gesetzt, ohne jeden Grund meine Accounts blockiert. Sogar die Pferde haben sie mir weggenommen, ich kann sie nicht zurück nach Hause holen! Wenn ich nicht das Recht haben soll, nach Europa oder in den Westen zu reisen, sage ich: Menschenrechtsaktivisten haben nicht das Recht, sich auf meinem Territorium zu bewegen!»

Wie ist Ojub zu dem geworden, der er ist? Wahrscheinlich tat ihm einfach die Mutter leid. Sein Leben lang hat er versucht, das Richtige zu tun. Die Welt war anders, als es ihn die Grosseltern gelehrt hatten. Sie hatten gesagt, wenn man wie einer der Helden aus den Märchen ist, dann rettet man alle. Aber es hat nicht funktioniert. Die Schüler, die er geliebt hat, sind gestorben, Natascha ist gestorben, die Sache, der er sein Leben gewidmet hat, ist zerstört. Und ihn haben sie in einen Käfig gesperrt und stellen ihn im Fernsehen als Drogendealer dar.
«Geh heute so, Ojub. Setz dich einfach hin, und niemand wird etwas merken.»

Komsomolskoje

Nach der Verhandlung sitzen wir mit den Leuten von Memorial im Café Central Park, benannt nach der Serie Friends, auf dem Putin-Prospekt. An den Wänden hängen alte Fotos von New York, zwischen den Stühlen laufen hübsche Kellnerinnen in Hidschabs hin und her. Hier erreicht Tscherkassow eine Nachricht. «Es heisst, dass sie in Komsomolskoje auf der Polizeistation einen Jungen umgebracht haben. Wir haben den Namen und die Telefonnummer des Vaters.» «Na dann, los geht’s», sagt eine Memorial-Mitarbeiterin.

Wir schliessen uns mit dem Moskauer Büro kurz.

«Ruft jetzt nicht an, das Telefon des Vaters wird mit Sicherheit abgehört. Fahrt ins Dorf, ruft von dort an, fragt nach der Adresse und lauft sofort hin.»
«Und wenn wir niemanden erreichen?»
«Dann könnt ihr einfach hinfahren und nach der Adresse fragen. In diesem Moment gehen alle vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Wenn ihr euch entsprechend kleidet, werdet ihr keine Aufmerksamkeit auf euch ziehen.»
Die Mädels ziehen sich Kopftücher und Kleider an. Beide sind Russinnen, das ist erkennbar, aber was soll’s, auch unter Tschetscheninnen gibt es Unterschiede im Aussehen. Nur die Hipsterschuhe verraten ihre Trägerinnen auf hundert Meter Entfernung.
«Fahren wir mit Delimobil?»

Es stellt sich heraus, dass es in Grosny Carsharing gibt. Alles wie in Europa. Wir kommen in Komsomolskoje an. Die Situation ist schlimm. Wir rufen an, aber niemand nimmt ab. Wir treffen eine Gruppe alter Männer, die vor einem Haus sitzen, und fragen, wo der Vater des Getöteten lebt. Sie starren uns verwundert an, aber erklären uns den Weg sehr genau. Unterwegs erfahre ich mehr über die Umstände: Die Polizei suchte den Mann, und da er wusste, was ihm bevorstand, hat er sich versteckt. Aber sein Vater glaubte, dass sich die Sache klären und sie den Sohn wieder laufen lassen würden, und brachte ihn persönlich zur Polizeistation. Einen Tag später brachten sie ihm die Leiche mit Folterspuren zurück. Und sie nahmen gleich einen Mann aus der Nachbarschaft mit.

Das Dorf ist hervorragend wiederaufgebaut worden. Strasse, Zäune, Tore, und im Kontrast dazu die angespannten Blicke der Jugend aus der Nachbarschaft. Der Vater ist nicht da, sie haben ihn vor drei Stunden aufs Revier geholt. Im Hof steht die Mutter, eine betagte Bäuerin mit gräulichem Gesicht. Höflich, leblos bedankt sie sich für die Beileidsbekundungen, dann sinkt sie auf eine kleine Bank nieder. Zum Stehen fehlt ihr die Kraft. Den Ermordeten hat man gestern bestattet, ohne Totenmahlzeit, wie es die Kadyrowzy befohlen haben, damit die Leute die Folterspuren nicht sehen und es keinen Skandal gibt. Aus der sommerlichen Küche lugt die Witwe hervor, ein ganz junges Mädchen. Sie kocht etwas, das Gesicht versteinert, kreidebleich. Ihr restliches Leben wird sie entweder alleine mit zwei Kindern verbringen müssen oder erneut heiraten, dafür aber die Kinder verlieren. Der Vater erscheint. Man hat ihn aus dem Polizeirevier entlassen, wo man ihm erklärt hat, wie er sich zu verhalten habe. Ein durchschnittlicher Dorfbewohner, mit schleppendem, etwas unsicherem Gang. Wir erklären, wer wir sind.

«Ich danke Ihnen, danke. Alles gut, hier war nichts.»
«Aber Ihr Sohn ist tot?»
«Stimmt, ist tot.»
«Weshalb?»
«Na ja, einfach so ... hat aufgehört zu atmen.»

Nachdem ich diese Reportage beendet hatte, habe ich sie Ojub ins Gefängnis geschickt. Als Antwort erhielt ich einen Brief. Er handelte fast ausschliesslich von seinen verstorbenen Schülern. Nach dreiundzwanzig Jahren dachte er immer noch an sie:

«Sie sind nicht mit mir gegangen, wir sind uns gar nicht über den Weg gelaufen. So ein Idiot aus unserem Dorf hat sie mitgenommen. Jeder dieser Jungs hätte ablehnen können, und man hätte es keinem von ihnen zum Vorwurf gemacht. Überhaupt hatte damals niemand das Recht, jemand anderem Befehle zu erteilen. Alles war freiwillig. Die Gruppen haben sich selbstständig auf den Weg gemacht und Widerstand geleistet, wo sie konnten.

Ich wusste, dass sie aufgebrochen waren, aber nicht, wohin. Man teilte sie auf einem leeren Ackerfeld ein, und sie alle trafen die Entscheidung zu sterben. Meine Schuld liegt darin, dass ich ihnen nicht gefolgt bin, nicht bei ihnen war, sondern alles dem Zufall überlassen habe. Wenn ich bei ihnen gewesen wäre, hätte ich sie da ohne Widerstand rausgeholt. Neunzehn Menschen sind dort gestorben, die meisten ehemalige Schüler von mir, und drei Cousins und ein Neffe, den ich mit grossgezogen habe. Am vierten Tag gelang es uns, elf Leichen da rauszuholen. Ich habe sie aufgesammelt, einige in Einzelteilen. Das ist schwer aus dem Gedächtnis zu streichen. Ich würde viel dafür geben, in diesem Moment dort an der Seite des Neffen und der anderen gewesen zu sein, ihr Los zu teilen, um nicht sehen zu müssen, was aus Tschetschenien geworden ist.»

Aus dem Russischen von Dario Planert und Isabelle Vonlanthen

Shura Burtin

Shura Burtin, 48, landete nach einem Biologie-Studium eher zufällig beim Journalismus. Er begann als Reporter 1993 bei «Moskowskij Nowosti», während einer Blütezeit demokratischer Zeitungen in Russland. Doch schon bald verabschiedete er sich von der Branche, die ihm zunehmend als verlogen erschien. Verlagsmanager übernahmen das Ruder und erklärten den Journalisten, dass die Leser Texte über 5000 Zeichen nicht verstünden. Erst 2008 kehrte mit der Gründung des Magazins «Russischer Reporter» sein Feuer für die Reportage zurück. Das schönste an seinem Beruf sei, dass man ungefragt in das Leben anderer Menschen eintreten könne, und dabei erst noch willkommen geheissen werde. Monitor 1 führte mit dazu, dass Ojub Titijew im Sommer 2019 freigelassen wurde. Burtins Frau ist Dokumentarfilmerin, gemeinsam haben sie vier Kinder.

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