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True Story Award 2023
Honorable Mention

Was Guantánamo aus ihnen machte

Im Kampf gegen den Terror sollte Mister X den Gefangenen Mohamedou Slahi brechen. Er folterte ihn – und ging selbst daran kaputt. Nun haben die beiden wieder miteinander gesprochen

Der Mann, der sich in Guantánamo »Mister X« nannte, trug, wenn er folterte, eine Sturmmaske und eine verspiegelte Sonnenbrille. Der Mensch, den er quälte, sollte sein Gesicht nicht sehen. Jetzt, 17 Jahre später, steht Mister X in seiner Garage in Irgendwo, Amerika, an einer Töpferscheibe. Ein Mann mit Glatze und ergrauendem Bart, am Nacken tätowiert. Seine Hände, groß und stark, formen einen graubraunen Klumpen Ton. Das Töpfchen wird nicht besonders schön werden, das sieht man schon. Er sagt, so sei das mit seiner Kunst, er fühle sich eher zu Hässlichem hingezogen.

Mister X hat lange überlegt, ob er Journalisten empfangen und darüber reden will, was damals geschah. Es wäre das erste Mal, dass sich ein Folterer aus Guantánamo öffentlich zu seinen Taten äußert. Dem Treffen an diesem Tag im Oktober 2020 sind zahlreiche Mails vorausgegangen. Jetzt endlich sind wir bei ihm. Ein Interview von mehreren Stunden liegt schon hinter uns, in dem Mister X uns von seiner grausamen Arbeit berichtet hat. Wir haben ihm erzählt, dass auch der Mann, den er damals malträtierte, gern mit ihm sprechen würde. Mister X hat geantwortet, einerseits habe er ein solches Gespräch 17 Jahre lang herbeigesehnt – andererseits habe er es 17 Jahre lang gefürchtet. Er hat um eine halbe Stunde Bedenkzeit gebeten. Beim Töpfern könne er gut denken.

Der Mann, der gern mit ihm sprechen möchte, heißt Mohamedou Ould Slahi und galt im Sommer 2003 als wichtigster Gefangener im Lager Guantánamo Bay. Von den knapp 800 Häftlingen dort wurde, nach allem, was bekannt ist, niemand so heftig gefoltert wie er.

Es gibt Ereignisse, die bestimmen eine Biografie. Die entfalten, auch wenn sie gemessen an der Lebenszeit gar nicht so lange andauern, in diesem Fall knapp acht Wochen, eine Kraft, die alles Davor in Vergessenheit geraten lassen und alles Danach in ihren Bann ziehen.

Damals, im Sommer 2003, war Mister X Mitte dreißig und Verhörer in der amerikanischen Armee. Er gehörte zum sogenannten Special Projects Team , dessen Aufgabe es war, Slahi zu brechen. Der Häftling hatte bisher hartnäckig geschwiegen, die Geheimdienste waren aber überzeugt, dass er wichtige Informationen besaß. Vielleicht sogar solche, die den nächsten Großanschlag verhindern oder zu Osama bin Laden führen könnten, der damals der meistgesuchte Terrorist der Welt war: der Anführer von Al-Kaida, der Hauptverantwortliche der Anschläge vom 11. September 2001.

Die Mission des Teams war es, das Böse zu besiegen. Um das zu erreichen, setzte es ihm ein anderes Böses entgegen.

Mister X folterte immer nachts. Mit jeder Nacht, die Slahis Schweigen andauerte, probierte er eine neue Grausamkeit aus. Er sagt, Folter sei letztlich ein kreativer Prozess. Wenn man Mister X zuhört, wie er schildert, was er getan hat, kann einem der Atem stocken, und manchmal scheint es Mister X beim Erzählen selbst so zu gehen. Dann schüttelt er den Kopf. Hält inne. Fährt sich durch den Bart. Kämpft Tränen zurück. Er sagt: »Mann, ich kann das selbst nicht glauben.«

So wie er spricht, hat man nicht den Eindruck, dass das alles lange her ist. Tatsächlich ist es auch gar nicht zu Ende. Mister X sagt, es gebe kaum einen Tag, an dem er nicht über Slahi nachdenke oder an dem dieser ihn nicht im Traum heimsuche. Slahi war der Fall seines Lebens, im schlimmsten aller Sinne.

Es gab einen Moment damals, der habe sich nicht nur in seine Erinnerung gebrannt, der habe auch seine Seele vergiftet, sagt Mister X. In jener Nacht ging er in den Verhörraum, wo Slahi, klein und abgemagert, in seinem orangefarbenen Overall auf einem Stuhl saß, festgekettet an einer Öse im Boden. Mister X, groß und muskulös, hatte sich wieder etwas Neues überlegt. Dieses Mal tat er so, als raste er aus. Er schrie wie wild, schleuderte Stühle durch den Raum, schlug mit der Faust gegen die Wand und schmiss Slahi Papiere ins Gesicht. Slahi zitterte am ganzen Körper.

Mister X sagt, der Grund, warum er diesen Moment nie wieder loswurde, sei nicht gewesen, dass er in Slahis Augen die Angst gesehen habe, sondern dass er, Mister X, es genossen habe, diese Angst zu sehen. Den zitternden Slahi zu sehen, sagt er, habe sich angefühlt wie ein Orgasmus.

Mohamedou Slahi ist heute 50 Jahre alt. Im Dezember 2020, zwei Monate nach unserem Besuch bei Mister X, steht er am Atlantikstrand. Vor ihm brechen die Wellen an der mauretanischen Küste, nicht weit hinter ihm beginnt die endlose Weite der Sahara. Slahi trägt ein mauretanisches Gewand und einen Turban, beides im leuchtenden Blau des Himmels über ihm. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er hinaus aufs Meer und sagt, wenn er hier mit stetem Westkurs lossegeln würde, käme er an, wo er 14 Jahre lang festgehalten wurde, an der Südostspitze Kubas.

Seit fünf Jahren ist Slahi wieder frei. Doch auch er kann, wie Mister X, die Zeit in Guantánamo nicht abschütteln. Er lebt heute wieder in Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens, am Rand der Wüste, dem Ort, an dem die USA ihn wenige Wochen nach dem 11. September 2001 entführen ließen. Anders als damals ist er heute eine Berühmtheit. Er wird auf der Straße angesprochen, er zoomt sich aus seinem Haus in Universitäten und auf Podien rund um die Welt, um Menschenrechtsverletzungen der Vereinigten Staaten anzuprangern. Er sagt, wenn er abends die Augen schließe und der Schlaf komme, dann komme manchmal auch wieder der Maskenmann.

Als einer der Autoren dieses Artikels ihn 2017 zum ersten Mal besuchte, äußerte Slahi einen Wunsch – er würde gern seine Folterer finden. Er hatte damals bereits ein Buch über seine Zeit in Guantánamo geschrieben. Im letzten Satz hatte er die Menschen, die ihn gequält hatten, eingeladen, mit ihm Tee zu trinken: »Mein Haus ist offen.«

Bei dieser ersten Begegnung und auch jetzt wieder, im Dezember 2020, sagt er, dass er während der Folterzeit in Guantánamo vor allem eines gespürt habe: Hass. Immer wieder habe er sich vorgestellt, auf welch grausame Weise er Mister X umbringen werde. Ihn, seine Familie und alle, die ihm etwas bedeuteten. Aber dann habe er in der Einsamkeit seiner Zelle, beim Nachdenken, Beten, Schreiben, erkannt, dass Rache keine Lösung sei. Also habe er beschlossen, etwas anderes auszuprobieren: Vergebung.

In der Stille seiner Zelle habe er sich zu dem Gedanken gezwungen, dass dieser große, starke Mann, Mister X, in Wahrheit ein kleines, schwaches Kind sei. Ein Kind, dem er, Mohamedou Slahi, den Kopf tätschele und sage: Was du gemacht hast, ist schlimm, aber ich vergebe dir. Der Prozess der Umerziehung seiner selbst dauerte mehrere Jahre. Aber irgendwann, er saß noch immer in seiner Zelle in Guantánamo, sei es ihm gelungen, sich so sehr von der Aufrichtigkeit dieses Gedankens zu überzeugen, dass er das Bedürfnis, vergeben zu wollen, wirklich fühlte.

Als Slahi den Wunsch äußerte, mit Mister X zu sprechen, sagte er, er erhoffe sich davon Ruhe für seine immer noch aufgewühlte Seele. Im besten Fall könne er die alten, schmerzhaften Erinnerungen von damals ersetzen durch neue, gute Erinnerungen.

So begann unsere Suche nach Mister X.

Wie muss man sich einen Mann vorstellen, der einen anderen foltert? In amerikanischen Akten, zum Beispiel in einem Untersuchungsbericht des Senats, ist aufgeführt, was Mister X getan hat. Es sind Schilderungen von rohester psychischer und manchmal auch physischer Gewalt.

Trifft man ihn nun, geschieht etwas Seltsames: Man bringt das Bild, das all die Berichte im Kopf haben entstehen lassen, nicht zusammen mit dem Mann, der vor einem sitzt. Wir wissen mit Sicherheit, dass er Mister X ist. Frühere Kollegen von ihm haben uns seine Identität bestätigt. Doch der Mister X, den wir kennenlernen, ist: ein feinsinniger Kunstliebhaber. Ein gebildeter, geschichtsinteressierter Mann. Insgesamt ein ziemlich netter Kerl. Nach mehreren Tagen, die man mit ihm verbracht hat, kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass er offenbar auch ein sehr empathischer Mensch ist.

Mister X erzählt, dass er ab und zu Obdachlose ins Restaurant einlädt, auch dass es vorkommt, dass er vor dem Fernseher weint, wenn er Berichte aus Katastrophengebieten sieht. Gerade weil er so gut mitfühlen könne, sei er so gut gewesen als Verhörer, als Folterer. Man müsse sich in sein Gegenüber hineinversetzen. Was fügt ihm noch größere Schmerzen zu? Was könnte ihn noch stärker verunsichern? Wo ist seine Schwachstelle? Gerade wegen der Empathie sei er aber auch daran zerbrochen, was er damals getan habe.

Kurz nachdem er im Winter 2003 Guantánamo verlassen hatte, begann Mister X zu trinken. Nicht selten drei Flaschen Rotwein am Abend. Er verbrachte mehr und mehr Zeit im Bett und sprach weniger und weniger mit seiner Frau und seinen Kindern. Schlaf fand er kaum noch. Er habe mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen, erzählt er. Ein Arzt diagnostizierte eine schwere posttraumatische Belastungsstörung. Ausgerechnet der Folterer hatte sich jenes Trauma zugezogen, das man eher bei seinem Opfer vermuten würde.

Es gibt viele Studien über die psychischen Leiden von Folteropfern. Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Geflohene, die in libyschen Lagern misshandelt wurden, uigurische Gefangene aus China – bei solchen Menschen werden vermehrt Depressionen, Suchterkrankungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafprobleme und Selbstmordgedanken beobachtet.

Auch Mister X litt unter all diesen Symptomen.

Man könnte den verstörten Mister X als Personifizierung jenes Traumas sehen, das seit dem 11. September 2001 die ganzen Vereinigten Staaten ergriffen hat. Nach jenem Ur-Erlebnis hat das Land, das im Kampf gegen den Terror die Werte des Westens verteidigen wollte, genau diese Werte verraten. Rechtsstaatlichkeit. Gerechtigkeit. Demokratie. Und seit jenem Ur-Erlebnis wird das Land stärker als je zuvor von einer allgegenwärtigen Gewalt verwüstet, die von kaputten Menschen ausgeübt wird. Amokläufe, Anschläge, Hassverbrechen. Vielleicht haben ja die ganzen USA eine Art posttraumatisches Belastungssyndrom?

Seit 17 Jahren, sagt Mister X, arbeite er sich an der Schuld ab, die er auf sich geladen habe. Er hat Medikamente genommen, Therapien gemacht und sich einen neuen Job gesucht. Seit 17 Jahren versuche er, seinen Fehler wiedergutzumachen. Ein paar Dinge hätten ihm geholfen. Ein bisschen. Aber nicht wirklich. Vielleicht auch, weil er insgeheim in all den Jahren gewusst habe, dass er, um wirklich mit sich ins Reine zu kommen, eine Sache dringend machen müsste. »Es wäre anständig, Slahi ins Gesicht zu sagen, dass ich bereue, was ich ihm angetan habe. Dass es falsch war.«

So gesehen ist Slahis Gesprächsangebot, das wir Reporter ihm unterbreiten, ein Geschenk. Die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Doch es gibt einen Gedanken, der Mister X umtreibt und der es ihm schwer macht, das Angebot anzunehmen.

Mister X hält Mohamedou Slahi noch immer für einen Terroristen. Und zwar für einen der genialsten der jüngeren Geschichte. Für einen Charismatiker. Einen Manipulator. Einen begnadeten Kommunikator, der damals schon vier Sprachen beherrschte, Arabisch, Französisch, Deutsch und Englisch, und sich in Guantánamo noch eine fünfte beibrachte, Spanisch.

Slahi sei wahrscheinlich der schlaueste Mensch, den er je getroffen habe, sagt Mister X. So schlau, dass Slahi es geschafft habe, seine Verhörer an der Nase herumzuführen, genau wie er es jetzt schaffe, Millionen von Menschen auf der Welt glauben zu lassen, er sei unschuldig. Mister X sagt, er kenne die Psyche dieses Menschen besser als die seiner eigenen Frau. Wochenlang habe er nichts anderes getan, als sich in diesen Mann hineinzuversetzen, und eines sei klar: Slahi sei ein brillanter Lügner.

Im Jahr 2010 urteilt ein amerikanischer Bundesrichter, dass Slahi freigelassen werden muss, weil die angeblichen Beweise der US-Regierung gegen ihn genau das nicht seien: Beweise. Die Regierung legt Berufung ein.

Im Jahr 2015 erscheint das Buch, das Slahi im Gefängnis geschrieben hat: Guantánamo Diary. Es ist großflächig geschwärzt, die Botschaft aber ist klar: Die USA haben einen Unschuldigen gefoltert. Das Buch wird ein Bestseller.

Im Jahr 2016 kommt Slahi frei, nach 14 Jahren ohne Anklage. In Mauretanien wird er empfangen wie ein Held.

Im Jahr 2019 wird bekannt, dass Guantánamo Diary verfilmt wird. Jodie Foster und Benedict Cumberbatch werden mitspielen, der Oscar-Preisträger Kevin Macdonald wird Regie führen.

Im Jahr 2020 wird auf der Internetseite des Guardian der Trailer für einen Dokumentarfilm veröffentlicht, in dem einer von Slahis Wärtern nach Mauretanien reist und aus ehemaligen Feinden Freunde werden.

Scheinbar Freunde, sagt Mister X. Er nehme Slahi kein bisschen von diesem »Vergebungskram« ab. Die Filmszenen – der Spaziergang im Sahara-Sand, Slahi, der seinem Wärter lachend in ein mauretanisches Gewand hilft – , das alles habe Slahi wirklich meisterhaft inszeniert. Slahi, der großherzig vergibt, der anständige David, der sich über den verdorbenen Goliath erhebt – die Erzählung eines Helden.

Das ist es, was Mister X so lange zögern lässt: Slahi, fürchtet er, könnte auch ihn für seine Inszenierung benutzen. Er könnte der ganzen Welt zeigen: Seht her, jetzt entschuldigt sich nicht nur ein unbedeutender Wärter, sondern auch mein Folterer, und ich vergebe auch ihm! Slahi würde zu einem noch größeren Helden werden.

Ist Mister X’ Drang, sich seinem Opfer zu stellen, stärker als seine Furcht davor, instrumentalisiert zu werden?

Mister X hat ein kleines, hässliches Töpfchen gemacht. Es muss jetzt trocknen. Er stellt es zur Seite, wischt seine Hände an einem Handtuch ab und guckt ernst. Er schweigt lange und sagt dann: »Ich ziehe das jetzt durch. O Gott.«

Das Bild ruckelt, der Ton wackelt, und für einen kurzen Moment steht Mister X die Hoffnung ins Gesicht geschrieben, dass ihn die Technik vor seinem Mut retten wird. Dann erscheint vor ihm auf dem Computerbildschirm das Gesicht, das er so gut kennt – schmal wie damals, aber gealtert. Der Mann auf dem Bildschirm hat, anders als Slahi im Jahr 2003, kaum noch Haare. Und Slahi trägt jetzt eine Brille, mit schwarzem Rand.

In Mauretanien ist es spät geworden , fast Mitternacht, aber Mohamedou Slahi ist wach geblieben. Auch er hat Besuch von einem Mitglied unseres Teams. Per Telefon haben wir Slahi in den vergangenen Stunden von den USA aus auf dem Laufenden gehalten: Es gibt eine Verzögerung; Mister X braucht noch ein wenig.

Jetzt baut sich auch auf dem Monitor in Mauretanien ein Bild auf. Der ergrauende Bart, die Glatze, die Tattoos am Nacken.

Mohamedou Slahi blickt seinem Peiniger ins Gesicht. Keine Maske, keine Sonnenbrille.

Mister X: Mister Slahi. Wie geht es Ihnen?
Mohamedou Slahi: Wie geht es Ihnen, Sir?
Mister X: Nicht schlecht, und Ihnen?
Mohamedou Slahi: Mir geht es sehr gut.
Mister X: Das ist gut.
Mohamedou Slahi: Danke, dass Sie fragen.
Mister X: Yes, Sir. Ich war extrem zögerlich, diesen Anruf zu machen. Aber ich will Ihnen doch einiges erklären.

Zum ersten Mal sah Mister X ihn am 22. Mai 2003. Mister X stand in Guantánamo in einem Beobachtungsraum und blickte durch eine Scheibe, die von der anderen Seite ein Spiegel war. Dort, im Verhörraum, wurde Slahi gerade von zwei FBI-Agenten befragt. Ein halbes Jahr lang hatten sie fast jeden Tag mit ihm gesprochen – ohne den geringsten Erfolg. In wenigen Tagen, das war schon entschieden, würde das Militär übernehmen, Mister X und seine Kollegen.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, auf der einen Seite die Agenten, auf der anderen Slahi. Das FBI hatte Kuchen mitgebracht. Einer der beiden, blond und groß, offenbar der Chef, blätterte in einem Koran und sagte etwas über eine Textstelle. Dann stand Slahi auf. Er trug keine Handschellen, keine Ketten. Er ging um den Tisch herum, nahm dem Agenten den Koran aus der Hand und sagte, nein, nein, er verstehe das falsch, er müsse das so und so sehen. Am Ende beobachtete Mister X, wie die Agenten Slahi umarmten wie einen Freund. »Ich konnte es nicht fassen«, sagt er.

Der FBI-Agent, der im Koran blätterte, heißt Rob Zydlow. Auch mit ihm haben wir gesprochen. Er lebt in Kalifornien, seit einigen Monaten ist er im Ruhestand. Er findet, Scheitern sei ein hartes Wort. Aber, ja, bei Slahi sei sein Plan nicht aufgegangen. Er habe es auf die nette Art probiert, aber egal ob er selbst gebackenen Kuchen mitbrachte wie an jenem Tag oder Burger von McDonald’s, ob er mit Slahi Tierdokumentationen anschaute oder sich von ihm Arabisch beibringen ließ, Slahi habe einfach nicht geredet. Er habe immer nur gesagt: »Ich bin unschuldig.«

Slahi wiederum sagt heute, der FBI-Kuchen habe gut geschmeckt, am liebsten habe er die Dokumentation über die australische Wüste gemocht, und Rob Zydlows Versuch, Arabisch zu lernen, sei einfach lächerlich gewesen. Es stimme, dass die FBI-Leute monatelang einigermaßen nett zu ihm gewesen seien, aber er habe diesen Agenten keine Antworten geschuldet.
Andersherum: Sie hätten ihm Antworten geschuldet. Warum hatten die USA ihn entführen lassen?

Slahi wusste nicht, dass an jenem Tag hinter der Scheibe der Mann zuschaute, den er wenig später als Mister X kennenlernen würde. Er wusste nicht, dass im Pentagon gerade ein Dokument von einem Büro zum nächsten gereicht wurde, Unterschrift für Unterschrift, bis zum Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, in dem Beispiele genannt wurden, welche Methoden dieser Mann einsetzen könne, um den Gefangenen Mohamedou Slahi zum Reden zu bringen. Ein Papier, das einen Rahmen vorgab, dem Folterteam aber noch viel Spielraum für eigene Ideen ließ.

Rob Zydlow sagt, er habe bei den Army-Leuten, die übernahmen, ein regelrechtes Jagdfieber gespürt.

Mister X erzählt, er sei zum Armyshop gefahren und habe einen Blaumann gekauft. Slahi sei ein Menschenfänger, das habe dessen Umgang mit den FBI-Agenten bewiesen. Also, das sei die Logik gewesen, würde Slahi es nun nicht mit einem Menschen zu tun bekommen, sondern mit einer Gestalt aus einem Horrorfilm.

In der Highschool war Mister X in der Theater-AG. Noch heute spielt er Dungeons & Dragons, ein Gesellschaftsspiel mit Elfen, Orks und Drachen, er liest Comics und liebt Science-Fiction. Während einige seiner Kollegen damals in ihren Verhörmethoden an Langweile nicht zu überbieten gewesen seien – Frage, Frage, Frage –, habe er sich in Rollen hineingedacht, regelrecht hineingesteigert.

Am Abend des 8. Juli 2003 zog Mister X den Blaumann an, schwarze Militärstiefel, schwarze Handschuhe und eine schwarze Sturmmaske, dazu eine verspiegelte Sonnenbrille. Er ließ Slahi in den Verhörraum bringen und an der Öse im Boden festhaken, allerdings war die Kette so kurz, dass Slahi nur gebückt stehen konnte. Dann schaltete Mister X einen CD-Player ein, und Heavy-Metal-Musik erfüllte den Raum, ohrenbetäubend laut.

Let the bodies hit the floor
Let the bodies hit the floor
Let the bodies hit the floor
Let the bodies hit the floor

Mister X stellte das Lied auf Endlosschleife, machte das Licht aus, schaltete eine Stroboskop-Leuchte an, die grelle, weiße Lichtblitze aussendete, und verließ den Raum. Eine Zeit lang, sagt er, habe er aus dem Nachbarzimmer zugeguckt. Aber die Musik sei so laut gewesen, dass er nicht habe denken können. Also sei er rausgegangen, eine rauchen.

Slahi sagt, er habe versucht zu beten, sich in die eigenen Gedanken zu flüchten. Geredet hat er nicht.

Mister X probierte neue Songs aus. Die amerikanische Nationalhymne. Einen Werbeclip für Katzenfutter, der nur aus dem Wort »miau« bestand. Mister X drehte die Klimaanlage auf, bis Slahi am ganzen Körper zitterte. Mister X drehte die Heizung auf, bis Slahi seine Klamotten durchgeschwitzt hatte. Mister X legte die Füße vor Slahi auf den Tisch und erzählte ihm, dass er einen Traum gehabt habe. Darin sei ein Piniensarg in die Erde Guantánamos gelassen worden. Auf dem Sarg habe eine Nummer gestanden. Die 760, Slahis Gefangenennummer. Dann sein Ausraster, den er später nicht mehr loswurde.

Egal, was er tat, Slahi schwieg.

Mister X: Es fällt mir schwer, dieses Gespräch zu führen, weil ich nicht von Ihrer Unschuld überzeugt bin. Ich glaube noch immer, dass Sie ein Feind der Vereinigten Staaten sind. Aber was wir Ihnen angetan haben, war falsch, keine Frage. So etwas hat niemand verdient.
Mohamedou Slahi: Ich kann Ihnen versichern, dass ich nie ein Feind Ihres Landes war. Ich habe nie einem Amerikaner etwas zuleide getan. Tatsächlich habe ich überhaupt nie jemandem etwas zu Leide getan. Niemals.

Ob Mohamedou Slahi ein Terrorist war, wie Mister X meint, oder völlig unschuldig, wie Slahi selbst behauptet, wird sich wahrscheinlich nie klären lassen. Vielleicht war er auch etwas dazwischen, ein Sympathisant. Auf der Suche nach konkreten Straftaten, nach terroristischen Aktionen des Mohamedou Slahi haben wir mit vielen Menschen gesprochen, die ihm nahestanden oder seinen Fall gut kennen. Es waren Verfassungsschützer in Deutschland dabei, wo Slahi elf Jahre lang lebte, Geheimdienstler in Mauretanien und den USA, Ermittler und mehrere Mitglieder des Special Projects Team . Wir haben deutsche und amerikanische Akten gelesen. Nach Jahren der Recherche fanden wir – nichts.

Mohamedou Slahi ist zwei Autostunden von Nouakchott entfernt aufgewachsen, in den sandigen Ausläufern der Sahara. Sein Vater hütete die Kamele, die Mutter die zwölf Kinder. Er war ein außergewöhnlich guter Schüler – genau wie sein gleichaltriger Cousin Mahfouz. Als Teenager, Mitte der Achtzigerjahre, teilten sich die Cousins ein Zimmer. Bis spät in die Nacht lasen sie Bücher über den Islam und sehnten sich danach, es den Tausenden jungen Männern aus der gesamten islamischen Welt gleichzutun und nach Afghanistan zu reisen, um gegen die ungläubigen sowjetischen Besatzer zu kämpfen. Aber für eine solche Reise waren sie zu arm. Dann bekam Slahi ein Stipendium, um in Deutschland zu studieren.

1990 schrieb er sich, 19 Jahre alt, in Duisburg für Elektrotechnik ein. Fünf Jahre später begann er, nun Diplom-Ingenieur, einen Job beim Fraunhofer-Institut für Mikroelektronik. Er baute jetzt Mikrochips für die renommierte deutsche Forschungseinrichtung, verdiente 4000 Mark im Monat.

Das war das eine Leben des Mohamedou Slahi. Das andere hatte während seines Studiums begonnen.

1990: Aufenthalt in einem Ausbildungslager von Al-Kaida in Afghanistan. Waffentraining, Treueschwur auf den Emir Osama bin Laden.

1992: zweite Reise nach Afghanistan, wo die Islamisten kurz davorstanden, die afghanische Regierung zu stürzen. Slahi war in einer Artillerieeinheit eingesetzt. Nach zwei Monaten kehrte er nach Deutschland zurück, angeblich, wie er später sagen würde, weil die Islamisten ihn mit ihren Kämpfen untereinander enttäuscht hätten – das sei so gar nicht die paradiesgleiche Herrschaft Gottes auf Erden gewesen, die er sich vorgestellt hatte.

Zu dieser Zeit bestand zwischen Al-Kaida und dem Westen noch eine Art Interessengemeinschaft, schließlich hatten Bin Ladens Leute geholfen, die sowjetischen Besatzer aus Afghanistan zu vertreiben.

Fragt man Slahi, wie seine Beziehung zu Al-Kaida 1992 nach seiner Rückkehr nach Deutschland war, sagt er: »Dieses Kapitel meines Lebens war beendet. Ich kappte alle Verbindungen. Ich las die Magazine nicht mehr, informierte mich nicht mehr über die Aktivitäten Al-Kaidas, hatte keine Freunde mehr in der Organisation, keine Kontakte mehr, mit niemandem, keine Anrufe, gar nichts.«

Würde das stimmen, hätte Slahi der Organisation den Rücken gekehrt, bevor sie sich gegen die USA wandte.

Es stimmt aber nicht. Slahi hielt Kontakt: zu seinem Cousin, mit dem er sich früher ein Zimmer geteilt hatte und der inzwischen unter dem Namen Abu Hafs al-Mauritani ein Vertrauter Osama bin Ladens geworden war – einmal rief ihn der Cousin sogar mit dem Satellitentelefon Bin Ladens an; zu einem Freund in Duisburg, der am Anschlag auf die Synagoge auf Djerba im April 2002 beteiligt war; zu einem anderen Freund, der später verurteilt wurde, weil er einen Anschlag auf La Réunion geplant hatte. Und Slahi hatte, im Oktober 1999 in Duisburg, drei Übernachtungsgäste, von denen einer Ramzi Binalshibh war, der später einer der wichtigsten Planer des 11. September werden würde. Jener Binalshibh sagte seinen amerikanischen Verhörern später, die beiden anderen Besucher seien zwei der Flugzeugentführer gewesen. Bei dem Treffen in Duisburg habe ihnen Slahi geraten, nach Afghanistan zu reisen.

Slahi brach nicht alle Kontakte ab. Im Gegenteil, die Liste seiner Freunde und Bekannten liest sich wie ein Ausschnitt aus dem Who’s who von Al-Kaida.

Spricht man Slahi auf diese Kontakte an, bestätigt er alles, tut aber so, als sei es eine Beleidigung, dass man diese Kleinigkeiten überhaupt aufbringe. Das seien eben seine Freunde gewesen, und was seine Freunde geglaubt oder getan hätten, habe nichts mit ihm zu tun.

All die Kontakte und Freundschaften – es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass bei Mister X und seinen Kollegen Jagdfieber ausbrach. Nicht auszumalen, was Slahi alles wissen könnte. Auch wenn er selbst vielleicht kaum involviert war.

Vielleicht würde er die Ermittler zu seinem Cousin führen, dem Vertrauten Bin Ladens. Man vermutete, der Cousin und Bin Laden seien gemeinsam auf der Flucht.

Wie viele Menschenleben man wohl retten könnte, wenn er nur endlich auspackte?

Mister X sagt, im Team hätten sie das Gefühl gehabt, an der vordersten Front des Krieges gegen den Terror zu kämpfen. Es sei ihm bewusst gewesen, dass, wenn er etwas von Bedeutung aus Slahi rausbekäme, Präsident George W. Bush persönlich informiert werden würde.

Wochenlang arbeitete sich Mister X an Slahi ab. Ohne Erfolg. Dann bekam er einen neuen Chef, einen Mann namens Richard Zuley, genannt Dick.

Mister X sagt heute über ihn: »Dick ist ein diabolischer motherfucker.«

Richard Zuley selbst sagt: »Alles, was Mister X aus Slahi rausholte, war belangloses Zeug. Slahi hatte alles unter Kontrolle, das mussten wir ändern.«

Zuley lebt heute in einem Reihenhäuschen im Norden Chicagos. Jahrelang hat er hier als Polizist gearbeitet, jetzt, im Ruhestand, verbringt er viel Zeit auf dem Flugplatz, wo seine kleine Maschine steht. Wenn Zuley darüber spricht, wie er Slahis Verhöre übernahm, lächelt er. »Es gab dann keine Frage mehr, wer das Sagen hatte.«

Zuley suggerierte Slahi, dessen Mutter könne vergewaltigt werden, wenn er nicht rede. Und unter Zuleys Kommando wurde Slahi halb tot geprügelt. Das war an einem Tag Ende August 2003. Als Mister X Slahis blutiges und geschwollenes Gesicht sah, sagt er, sei er schockiert gewesen. Diese rohe körperliche Gewalt habe für ihn die Grenze des Zulässigen weit überschritten und sei auch nicht mit Rumsfelds Liste vereinbar gewesen. Mister X stellte seinen Chef zur Rede – und wurde noch am selben Tag vom Fall abgezogen.

Wenn man Zuley fragt, warum, antwortet er: »Ich setzte Leute ein, die effektiv waren.« Man spürt kein Unrechtsbewusstsein, nur Stolz darüber, dass er es geschafft hat, Slahi zu brechen.

Slahi wurde an jenem Abend in eine neue Zelle verlegt. »In der Zelle war nichts«, erinnert sich Slahi, »kein Fenster. Keine Uhr. Nichts an der Wand, was ich hätte anschauen können. Es war die pure Einsamkeit. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, ich wusste ja nicht mal, wann Tag und wann Nacht war, aber irgendwann klopfte ich und sagte, ich sei bereit zu reden.«

Nach Monaten des Schweigens redete Slahi jetzt so viel, dass ihm Zuley Papier und Stifte bringen ließ, später einen Computer. Slahi schrieb, dass er einen Anschlag auf den CN Tower in Toronto geplant hatte. Er zählte Komplizen auf. Er zeichnete Organigramme von Terrorzellen in Europa. Slahi sagt, es sei alles erfunden gewesen.

Tatsächlich meldeten die Geheimdienste bald Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Informationen an, die Zuleys Team an sie weiterleitete. Im November 2003 veranlasste Zuley einen Lügendetektortest an Mohamedou Slahi. Dieser widerrief sein Geständnis, und der Apparat schlug nicht an.

Mohamedou Slahi: Sie wissen so wenig über mich. Offenbar hat Ihnen Ihre Regierung nur sehr wenige Informationen gegeben ...
Mister X: Lassen Sie mich etwas klarstellen.
Mohamedou Slahi: Darf ich bitte meinen Satz beenden?
Mister X: Entschuldigung, bitte fahren Sie fort.
Mohamedou Slahi: Der Militärstaatsanwalt, der mich anklagen sollte, Stuart Couch, wollte am Anfang die Todesstrafe beantragen, aber dann merkte er, dass ich unschuldig bin.

Stuart Couch ist heute 56 Jahre alt und Richter. Ein akkurat gekleideter Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt und heftigem Südstaatenakzent. An einem Sonntagmorgen im Januar 2021 sind wir in einem Hotel in Charlottesville, Virginia, verabredet. Couch erzählt von seiner christlichen Familie und von seiner Zeit als Soldat bei den Marines, die ihn geprägt habe. Er zeichnet von sich selbst das Bild eines Mannes, der von einem starken Glauben an Werte und Regeln geprägt wurde. Regeln, die ihm einiges abverlangten, als er im Frühjahr 2004 die schwerste Entscheidung seiner Karriere treffen musste.

Die US-Regierung hatte ihm, dem Militärstaatsanwalt, den Auftrag erteilt, den wichtigsten Gefangenen in Guantánamo Bay anzuklagen, Mohamedou Ould Slahi. Selbstverständlich sei das ein potenzieller Todesstrafen-Fall gewesen, sagt Couch. Schließlich musste man davon ausgehen, dass Slahi die späteren Flugzeugentführer für Al-Kaida rekrutiert hatte – bei dem Treffen in der Duisburger Wohnung.

Für Slahis Verstrickung mit Al-Kaida gab es eine Menge Indizien, nämlich die vielen Freundschaften und Kontakte. Couch ging davon aus, dass es bei all dem Rauch eine Frage der Zeit war, bis man auf das Feuer stoßen würde. »Mein Großvater sagte immer: Wenn du dich zu den Hunden legst, kriegst du Flöhe. Und Mannomann, Slahi musste bei vielen Hunden gelegen haben.«

Couch fand aber kein Feuer – keinen einzigen Beweis. Dafür fand er etwas anderes. Bei einem Ortstermin in Guantánamo hörte er auf einem Flur laute Musik aus einem Verhörraum dringen. Let the Bodies hit the floor. Durch den Türspalt sah er grelle Lichtblitze. Drinnen war ein Häftling vor zwei Lautsprechern am Boden festgekettet.

Die Szene habe ihn als Menschen und als Christen abgestoßen, sagt er. Als Ankläger begriff er sofort: Wenn sie das auch mit Slahi machten, hatte er ein riesiges Problem. Was dieser gesagt hatte oder noch sagen würde, hätte vor Gericht keine Relevanz. »Unter Folter erzählen Menschen alles, egal ob es stimmt oder nicht, Hauptsache, die Folter hört auf«, sagt Couch.

Er begann nachzuforschen, was in Guantánamo los war. Kurz nachdem Slahis Geständnis bei ihm eintraf, hatte er Gewissheit: Es war nichts wert.

Stuart Couch sagt, er habe tagelang mit sich gerungen. Keine Anklage zu erheben würde bedeuten, möglicherweise einen Terroristen davonkommen zu lassen. Er beriet sich mit seinem Priester. Danach teilte er seinem Vorgesetzten mit, dass er sich von dem Fall zurückziehe.

Es kam nie zum Verfahren. Trotzdem blieb Slahi weitere zwölf Jahre in Haft. Erst im Oktober 2016 wurde er freigelassen, eine der letzten Entscheidungen der Obama-Regierung.

Fragt man Stuart Couch heute, ob er glaubt, dass Slahi damals ein Terrorist war, antwortet er: »Ich weiß es nicht.«

Mister X sagt, er sei sich sicher. Man müsse sich nur anschauen, wie Slahi kommuniziere. Er spiele Spielchen – das mache kein Unschuldiger.

Tatsächlich hat man, wenn man Slahi im Gespräch mit Mister X beobachtet, manchmal den Eindruck, einem gewieften Politiker zuzuschauen. Insgesamt sechsmal sagt Mister X, dass die Folter nicht hätte passieren dürfen. Nie geht Slahi darauf ein. Stattdessen redet er über andere Dinge – seine Unschuld, Amerikakritik. Einmal beginnt er über Chalid Scheich Mohammed zu reden, den Chefplaner von 9/11, der immer noch in Guantánamo einsitzt. Ein anderes Mal über den US-Krieg in Afghanistan.

Mister X: Ich werde nichts zu Chalid Scheich Mohammed sagen, auch nichts über Politik. Ich kann nur über die Techniken sprechen, die ich angewendet habe. Dass sie falsch waren und ich es nie hätte tun sollen. Sie hätten nie misshandelt werden sollen. Sie hätten nie geschlagen werden sollen. So sind wir nicht. So bin ich nicht.

Mister X erzählt Slahi, dass er ihn gemalt hat, sechs Jahre nach jenem Augusttag 2003. Der blutende Slahi in Öl mit aufgeplatzter Lippe und einem zugeschwollenen Auge. Jetzt, während des Gesprächs, bittet er uns Reporter, ein Foto des Bildes per WhatsApp nach Mauretanien zu schicken.

Mohamedou Slahi: Ah, wow. Dieser Gefangene auf dem Bild sieht viel besser aus als der wirkliche Gefangene damals. (Slahi lacht)
Mister X: Sie sahen tatsächlich nicht besonders gut aus an diesem Tag. Und dieses Gemälde soll Sie nicht ... es ist dafür da, zu reflektieren, was damals mit Ihnen passiert ist.

Mister X malte das Bild, als er gerade bei der Armee gekündigt hatte. Seine posttraumatische Belastungsstörung war so schlimm geworden, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Der Alkohol hatte nicht mehr geholfen, die Medikamente wirkten auch nicht mehr. Nun also Malerei. Er sagt, er habe gehofft, die künstlerische Auseinandersetzung werde eine Katharsis auslösen. Sie habe aber nur Schmerzen gebracht. Also habe er das Bild wieder zerstört. Nur das Foto gebe es noch.

Mister X: Ich muss mit dieser Scham leben. Vielleicht ist das ein kleiner Sieg für Sie, dass ich mit meinem Verhalten leben muss.
Mohamedou Slahi: Ähm, ich weiß nicht ... ich hatte immer den Eindruck, dass Sie ein intelligenter Mensch sind. Und es fiel mir schwer zu begreifen, wie Sie mir so etwas antun konnten.

Slahi stellt exakt die Frage, die Mister X’ Leben bestimmt. Nachdem ihm die Kunst keine Antwort geben konnte, probierte er es mit der Wissenschaft. Er schrieb sich an der Universität für das Fach Creative Studies ein. Er studierte, wie Kreativität für böse Zwecke eingesetzt wird, für Zigarettenwerbung, Massenvernichtungswaffen, Folter. Er las Studie um Studie auf der Suche nach einer Erklärung dafür, warum er zu so viel Grausamkeit fähig war. Aus all den Lektüren hat er mitgenommen: Der Hang zum Grausamen steckt in allen Menschen. Er setzt sich durch, wenn die Umstände es erlauben. Die Umstände in seinem Fall waren: ein Land, das nach Rache gierte. Ein Präsident, der Erfolge forderte. Ein Vorgesetzter, der die Verhörer anspornte.

»Mein Land hat mir einige ziemlich beschissene Dinge abverlangt, und ich habe sie getan«, sagt Mister X. »Ich hasse mich dafür. Und ich hasse mein Land dafür, dass es mich zu diesem Monster gemacht hat.« Er spricht es aus: »Was ich getan habe, war Folter. Zu hundert Prozent. Kein Zweifel.«

Die wenigen Studien, die es über Menschen gibt , die gefoltert haben, legen nahe, dass es zwei Typen von Folterern gibt. Die einen, die danach weiterleben, als sei nichts gewesen. Und die anderen, die daran zerbrechen. Wissenschaftler vermuten, dass es die Weltanschauung des Folterers ist, die entscheidet, in welche Kategorie er fallen wird.

Foltert ein Mensch zum Beispiel, wie Richard Zuley, in der Überzeugung, dass es moralisch richtig ist, einen Einzelnen zu quälen, um möglicherweise Tausende zu retten, dann wird er eher unbeschadet davonkommen.

Foltert er, wie Mister X, im Widerspruch zum eigenen Humanismus, dann werden Scham und Schuld eher ein Trauma auslösen. Die Symptome ähneln dann häufig jenen von Folteropfern, nur eines kommt manchmal noch hinzu: ein tiefes Misstrauen in Institutionen. Wer im Namen eines Systems, einer Ideologie, eines Landes zu Abgründigem gezwungen wurde, dessen Vertrauen in dieses System, diese Ideologie, dieses Land wird dadurch mitunter erschüttert.

Mohamedou Slahi, das Opfer, hat dagegen etwas geschafft, das Therapeuten sehr selten sehen. Häufig stecken die Opfer in der Situation der Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit fest. Aus dieser Hilflosigkeit ist Slahi ausgebrochen. Er hat sich zum Akteur gemacht.

Im Netz kann man sich zahlreiche Videos von Slahis Auftritten anschauen. Das Publikum ist häufig sichtlich gerührt, wenn er davon erzählt, wie er seinen Wärter in Mauretanien empfangen hat. Die Schauspielerin Jodie Foster, die für ihre Rolle als Slahis Anwältin im Film Der Mauretanier einen Golden Globe gewonnen hat, sagte in einem Statement bei der Preisverleihung über ihn: »Du hast uns so viel beigebracht: was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Lebensfroh. Liebevoll. Verzeihend. Wir lieben dich, Mohamedou Ould Slahi!«

Es ist immer diese eine Sache, die die Menschen rührt, wofür sie ihn bewundern: dass er willens und in der Lage ist zu vergeben.

In gewisser Weise, sagt Slahi in einem unserer Interviews in Mauretanien, sei die Vergebung für ihn auch eine Form von Rache. Er rächt sich an seinen Peinigern und all den Menschen, die 20 Jahre lang den amerikanischen Krieg gegen den Terror kämpften: Vor den Augen der Weltöffentlichkeit entlarvt er die Handlungen jener, die sich für die Guten hielten, als böse. Und sich selbst, den angeblich so Bösen, stilisiert er zum Guten.

Mohamedou Slahi: Ich will Ihnen sagen: Ich vergebe Ihnen, so wie ich allen vergebe, die mir Schmerz zugefügt haben. Ich vergebe den Amerikanern ...
Mister X: Yeah ...
Mohamedou Slahi: ... aus ganzem Herzen. Ich will in Frieden mit Ihnen leben.
Mister X: Mir ist wichtig klarzustellen, dass ich Sie nicht um Ihre Vergebung gebeten habe. Ich muss mir selbst vergeben.
Bei Mister X funktioniert es nicht, er lässt Slahi abblitzen. Die beiden finden nicht zueinander. Ein letzter Versuch noch: Slahi probiert es mit einem anderen Thema.
Mohamedou Slahi: Wie geht es Ihnen heute? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?
Mister X: Ich werde nicht über meine Familie reden oder darüber, wo ich lebe, was ich tue oder nicht tue. So ist das, Kumpel.

Das Gespräch dauert 18 Minuten und 46 Sekunden und endet mit Frustration auf beiden Seiten.

Mohamedou Slahi: Wie auch immer, ich wünsche Ihnen alles Gute.
Mister X: Ihnen auch.
Mohamedou Slahi: Ich denke, du bist, was du tust. Ich vergebe Ihnen aus ganzem Herzen, auch wenn Sie mich nicht darum bitten.
Mister X: Ist okay. Ich habe nichts mehr zu sagen. Goodbye, Mister Slahi.
Mohamedou Slahi: Tschüss.

Als die Videoverbindung beendet ist, bleiben die beiden unversöhnt zurück, der schwache, an sich zweifelnde Täter, und das starke Opfer.

Wenn ein Mensch einen anderen foltert, ist das ziemlich intim. Tränen. Schreie. Schmerz. Angst. Nacktheit. Ein Folterer sieht Sachen, die sonst nur der Partner sieht, wenn überhaupt. Mister X und Mohamedou Slahi sind einander vertraut und fremd zugleich. Sie wissen alles über den jeweils anderen – und nichts. In diesem Gespräch, in dem es scheinbar keine Gemeinsamkeiten gibt, wird klar, dass sie eines doch miteinander teilen: Acht Wochen Guantánamo im Sommer 2003 haben sie zu denen gemacht, die sie heute sind.

Mohamedou Slahi lebt weitgehend von seiner Geschichte, von dem, was ihm angetan wurde. Sein Leiden hat ihm nicht nur Schmerz und Albträume gebracht, sondern auch Wohlstand und Ansehen. Er hat eine Menschenrechtsanwältin geheiratet, die in Guantánamo arbeitete, und mit ihr ein Kind bekommen. Er hat sein Schicksal gedreht.

In Mister X’ Leben hat sich nahezu alles in sein Gegenteil verkehrt. Er wählt jetzt nicht mehr die Republikaner, wie früher, sondern die Demokraten. Er ist nicht mehr für die Todesstrafe, sondern dagegen. Er ist sich nicht mehr sicher, ob er weiter in den USA leben will, sondern denkt ans Auswandern.

Seit einigen Jahren unterrichtet Mister X junge Soldaten und FBI-Agenten in Verhörtechniken. Immer gebe es am Anfang des Kurses Leute, die sagten: Folter sollte erlaubt sein. Er sagt dann, nein, auf keinen Fall. Folter verlange einen hohen Preis. Nicht nur von demjenigen, der sie erleidet. Sondern auch von dem, der sie begeht. Manchmal erzählt er dann von sich.