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True Story Award 2023

«Ich bin sehr offen und leicht geht Frau ...»

Herr K. ist Witwer und über 70, als er im Internet eine junge Frau aus dem Ausland kennenlernt. Er kann sein Glück kaum fassen – und gerät in die Fänge einer globalen Milliardenindustrie

Herr K. hat Erdbeerkuchen eingekauft für den Tag, an dem er von seiner neuen, komplizierten Liebe erzählen will, und weil er aufgeregt ist, fällt ihm beim Auffüllen gleich ein Stück neben den Teller, auf die Häkeldecke, die ihm von früher geblieben ist. Ein Klumpen Rot auf Weiß. Ein Ärgernis. Und ein Beleg.
»Ich sag’s doch«, sagt Herr K., »ich schaff das nicht allein. Ich brauch ’ne Frau!«
Herr K. ist ein Mann von 79 Jahren, ein Rentner, im Rheinland zu Hause. Ein Bildhauer würde ihn mit Freude betrachten, die sehnigen Hände, das zerfurchte Gesicht. Ein Bildhauer würde allerdings auch an ihm verzweifeln, weil er so ruhelos ist und leicht entflammbar. Sein vollständiger Name geht niemanden etwas an. Wichtig ist, seine Geschichte zu verstehen, das ist schwierig genug, auch für Herrn K. selbst: Da verlässt er kaum mehr das Haus und lernt dennoch eine junge Amerikanerin kennen. Da weitet sich noch einmal die Welt, während sie bei Männern seines Alters eigentlich enger wird.
Herr K. wird mehr als einen Tag brauchen, um alles zu erzählen. Auf seinem Esstisch liegen Fotos, Verträge und Zertifikate. Daneben steht ein alter Laptop, auf dem Herr K. allerlei Dateien und Dokumente zeigen wird.
»Es ist sehr komplex«, sagt er.
Herr K. lebt in einem Haus, das ihm zu groß geworden ist, seit seine Frau starb, »am 1. März 2013 um halb neun morgens«, sagt er. Brustkrebs. Metastasen. Ein langes Leiden, ein elender Tod, nach 37 gemeinsamen Jahren.
Ihre Häkeldecken sind noch da. Das gute Geschirr. Das Ehebett. Statt ihrer redet jetzt der Fernseher, und Herr K. raucht zum Kuchen. Die Gardinen sind vergilbt, vor den Fenstern schwarze Dächer, hohe Thujen, die alte Bundesrepublik. In diesem Land hatte Herr K. seine besten Jahre. Er verkaufte Großrechner an Banken, als Computer noch ganze Räume füllten und das Internet Zukunft war. Seine Frau fand er über eine Kontaktanzeige in der Rheinischen Post. Sie war Tschechin, deutlich jünger als er. Und er war der Mann, der ihr den Westen und die Welt erklärte.
Die beiden fuhren mit dem Auto von New York nach San Francisco. Sie reisten mit dem Zelt durch Kanada. Sie bezogen ihr Haus. Sie bekamen ein Kind, gingen immer seltener aus, genügten einander.
Als seine Frau stirbt, ist Herr K. in keinem Sportverein und keinem Kegelclub, der Kontakt zu Kollegen eingeschlafen, das Kind erwachsen. Herr K. erträgt die Stille nicht. Statt Liebe ist da Leere. Versteht man Herrn K. heute richtig, glaubt er damals, diese Leere sei nur mit neuer Liebe zu füllen.
»Es hat keinen Sinn, Jahre zu trauern«, sagt er. »Das wäre unqualifiziert, ja? Sie müssen sofort handeln, sonst geht alles den Bach runter.«
Nach einigen Monaten meldet sich Herr K. auf einem Online-Dating-Portal namens Finya an. »Kostenlos, aber hochseriös«, sagt er. Für sein Profil nimmt er ein zwanzig Jahre altes Foto aus einem Spanien-Urlaub. Seine Frau schneidet er weg. Herr K. ist zu dem Zeitpunkt Anfang siebzig. Er gibt an, er sei 66 und suche eine Freundin zwischen 45 und 55.
Mit den deutschen Damen sei es nicht gut gelaufen, erinnert sich Herr K. Sie sind ihm zu alt. Und er ist ihnen zu direkt, weil er beim Chatten sehr bald fragt: »Wann küssen wir uns?«
»Kein Interesse!«
»Ups, mit der Tür ins Haus?«
»Passt leider nicht.«
Die Abfuhren ernüchtern ihn. Aber auf Finya sind auch Frauen aus dem Ausland, viele. »Die schreiben einen von alleine an«, sagt Herr K. Es kommt ihm fast wie früher vor, wie mit der Annonce in der Rheinischen Post, nur moderner und mit Fotos.
Im November 2014 erhält Herr K. die Nachricht einer Amerikanerin. Name: Antoinette Nivon. Alter: 33. Beziehungsstatus: Single. Kinder: keine.
»Ich bin sehr offen und leicht geht Frau«, schreibt sie, auf Deutsch. »Ich mag Kunst und Kultur und Fotografieren. Ich suche nach einem gereiften Mann mit jungen Seele und gutes Herz. Mein Herz ist sehr groß, aber es hat einen Platz nur für den richtigen Mann mit einem riesen Eimer der Liebe! Schreiben Sie mir eine E-Mail hier.«
Offenbar benutzt Antoinette den Google Translator. So muss aus einer easygoing woman eine »leicht geht Frau« geworden sein und aus einem bucket of love, überbordenden Emotionen, ein »Eimer der Liebe«. Herrn K. stört das nicht. Wer ist sich in Fremdsprachen schon sicher?
Die beiden beginnen sich zu mailen.
»Guten Morgen, wie war deine Nacht? Ich konnte nicht gut schlafen, weil es so heiß war und schwitzte am ganzen Körper. Ich an dich denken«, schreibt Antoinette.
»In Deutschland braucht man im Haus keine Klimaanlage, aber im Winter eine Heizung. Mein Haus ist sehr groß und hat eine große Zentral-Holzheizung in der ersten und in der zweiten Etage eine Gas-Heizung«, schreibt Herr K.
Er schickt Bilder, sie schickt Bilder. Eine Frau mit langen Haaren, schalkhaftem Lächeln und einer Oberweite, die Herrn K. beeindruckt.
»I look your photos. I want ›kuscheln‹, kiss and love you. I need you«, mailt er.
»Honig Sie hübsch und süßes Lächeln schauen immer zu mir«, mailt sie.
»Guten Abend mein Schatz Antoinette, es ist für mich wunderbar, dass Du mir so viele Liebes-Worte sagst«, mailt er.
Herr K. kann sein Glück kaum fassen, beschließt aber, es zu tun.
Die Betreffzeile einer frühen Mail lautet »Dream of Love« . Antwort folgt auf Antwort.
AW: Dream of Love
AW: AW: Dream of Love
AW: AW: AW: Dream of Love
Herr K. hat vieles ausgedruckt, damit nichts verloren geht. Auf dem Tisch, der erdbeerrot gefleckten Häkeldecke, stapeln sich die Liebesschwüre. DIN-A4-Papier in Klarsichtfolien. Das gibt allem etwas Amtliches.
Sie: »When my eyes are closed, when I sing and dance to a love song, when I’m checking my email, I will be thinking about you.«
Er: »Ich bin sehr viel älter als Du, aber trotzdem jung und sportlich. Kuß auf alles, auch auf Deine Traumbrüste.«
Leider gibt es ein Problem. Antoinette ist zwar Amerikanerin, hängt aber in Ghana fest, aus unerfindlichen Gründen. Herr K. schlägt vor, ihr ein Visum zu besorgen und einen Flug nach Deutschland zu buchen, »ich möchte Dich am Airport Düsseldorf in meine Arme nehmen«. Antoinette würde lieber ein paar Dollar bekommen, um sich selbst zu kümmern.
Herr K. möchte aber kein Geld schicken. Stattdessen organisiert er für Antoinette einen Termin bei der deutschen Botschaft in Accra, Ghanas Hauptstadt. Sie erscheint dort nie. Herr K. mailt ihr: »Hallo mein Schatz Antoinette, ich bin sehr enttäuscht von Dir. Du hast mich bei der Botschaft blamiert.«
Antoinette antwortet nicht mehr.
5000 Kilometer, ein Meer, eine Wüste, eine Savanne, eine ganze Welt weiter südlich: eine Stadt in tropischem Grün, eher eine Wucherung, namens Offinso, 100.000 oder 200.000 Einwohner, niemand weiß es. Häuser aus bloßem Beton, freilaufende Ziegen, Wege aus roter Erde. Offinso wird zerschnitten von Ghanas Nationalstraße Nummer 10. Wenn ein Lastwagen durch den Ort donnert, springen Tiere und Kinder zur Seite. Anschließend fügt sich alles wieder zum Klischeebild einer afrikanischen Stadt.
In einem unbewohnten Haus, hinter zugezogenen Vorhängen, sitzt auf einem Ledersofa ein junger Mann. Er hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Das Haus steht am Ortsrand, in der Nachbarschaft kennt ihn niemand, er möchte unerkannt bleiben.
Der junge Mann nennt sich Vincent. Zur Wahrheit gehört, dass schon das eine Lüge ist. Vincent trägt ein T-Shirt, Shorts und Badelatschen. In seinen Händen liegt ein Smartphone, Vincent zeigt, was er so verschickt: »I know there’s an ocean between us ... I have never held you in my arms, but in my heart I have done it a thousand times.«
Für einen 81 Jahre alten Witwer in den Vereinigten Staaten ist Vincent derzeit Juliette.
In Offinso ist Vincent ein großer, dünner Mann, der leise und langsam spricht, um sein Stottern zu kontrollieren.
Ein Herr K. aus Deutschland sage ihm nichts, sagt Vincent, auch sei er niemandes Antoinette. Vielleicht aber sein Nachbar. Oder irgendein anderer Mann in Ghana. Das kann man ihm glauben. Denn Tausende Menschen in Westafrika tun, was er tut. Sie arbeiten als globale Heiratsschwindler, moderne Betrüger, sie begehen ein Verbrechen des 21. Jahrhunderts. Sie sind Scammer, der Begriff ist hergeleitet aus dem Verb to scam, betrügen. Vincent benutzt lieber das Wort Sakawa: Geld machen. Seine Opfer nennt er »clients«, Klienten, Kunden. Er belügt Menschen, die sich belügen lassen wollen. So sieht er das. Seine Geschäftsgrundlage sei verblüffend einfach, sagt Vincent: »The white have no one around.« Die Weißen sind einsam. Und Einsamkeit ist die beste Verführerin.
Vincent ist auf Dating-Portalen in Europa und Nordamerika angemeldet. Er liest dort in Gesichtern, Namen und Ortsmarken. Er sagt, er habe gelernt, dass ein durchschnittlicher James älter sei als ein Simon und sich deshalb weniger gut mit Computern auskenne. Er weiß, dass Leute aus der Stadt schwerer zu knacken sind als jemand auf dem Land. Er kennt den irischen Westen, Norwegens Norden und die dünn besiedelten Bundesstaaten der USA. »Farmer in Texas sind die leichtesten Fälle«, sagt er.
Vincent hat fertige Textbausteine auf seinem Handy. My Honey, my Heart, my Love . Er hat Ordner mit Bildern verschiedener Frauen angelegt. Alle Fotos sind aus dem Internet kopiert. Nahezu jeder Mensch hinterlässt dort irgendetwas, auf Instagram, Facebook, Myspace. Am besten, sagt Vincent, funktionierten Bilder und Videoschnipsel von privaten Accounts wenig bekannter Porno-Darstellerinnen. Da finde er alles, was er brauche, von alltäglich bis frivol, von bekleidet bis nackt. Dramaturgisches Eskalationsmaterial.
»Damit musst du deine Geschichte erzählen«, sagt Vincent.
Schon für die Anbahnung gibt es Regeln: Schreib den Männern, du bist eine amerikanische Frau, dann vertrauen sie dir. Überschütte sie mit Liebe. Sag zugleich, dass du ängstlich bist, weil du oft von Männern enttäuscht wurdest oder als Kind vom Vater verlassen. Bitte sie, Freunden und Verwandten nichts von dir zu verraten, die wären nur neidisch. Zieh sie weg vom Dating-Portal, schick ihnen Mails. Find heraus, was sie arbeiten und wo sie wohnen. Google ihre Adresse, schau dir ihre Häuser an und schätz ihr Vermögen, aber frag nicht sofort nach Geld. Zier dich ein wenig, wenn sie deine Brüste sehen wollen, aber dann schick ihnen Bilder.
Neunzig Prozent der Männer auf den Portalen antworten auf seine erste Anfrage, sagt Vincent. Achtzig Prozent fragen nach Nacktfotos, ziemlich schnell. »Manchmal ekle ich mich«, sagt er. Ob auch vor sich selbst, sagt er nicht.
In Deutschland vergehen Tage, Wochen, Monate, mehr als ein Jahr, nachdem Herr K. den Kontakt zu Antoinette verloren hat. Er sieht fern, raucht, geht einkaufen, schreibt anderen Frauen.
Plötzlich ist da eine Mail, im Februar 2016. Die schöne Amerikanerin schreibt wieder. »Hello my dear friend ...« Hallo, mein lieber Freund, lange nicht gesehen, wäre schön, wenn wir doch noch zueinanderfänden, schicke dir neue Fotos, schick mir auch welche.
Auf den neuen Bildern trägt die alte Bekannte Bikini wie ein amerikanisches Pin-up, Stars auf dem Bustier, Stripes auf der Hose. Seltsamerweise heißt sie nicht mehr Antoinette Nivon, sondern Earlie Thomas und wohnt in Texas.
Merkt man zaghaft an, dass man das nicht begreift, wird Herr K. in der Stille seines Esszimmers laut und schreit: »Ich doch auch nicht!«
Es wäre falsch, in dieser Sache den Ehrgeiz zu haben, alles zu durchdringen, jede Wendung herleiten, jedes Handeln rational begründen zu können. Es geht um Gefühle.
Sie schreibt ihm. Er schreibt ihr.
AW: Hello
AW: AW: Hello
AW: AW: AW: Hello
Wieder will sie zu ihm nach Deutschland kommen. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau schickt Herr K. erstmals Geld. 380 Euro. Wofür Earlie die Summe braucht, hat Herr K. heute vergessen. Visum? Pass? »Weiß ich doch nicht mehr!«, sagt Herr K.
Statt auf ein gewöhnliches Bankkonto überweist Herr K. das Geld per Western Union. Einzahlung in bar, Auszahlung in bar, überall auf der Welt, nicht immer gegen Vorlage eines Ausweises. Der Beleg ist noch da, einer von hundert Zetteln auf seinem Tisch. Auf dem Papier steht unter Zahlungsempfänger: EARLIE THOMAS, Waco, Texas. Keine Passnummer, keine Adresse, nichts.
Sobald es dunkel wird in Offinso, Ghana, gegen sechs Uhr abends, tut sich auf beiden Seiten der Nationalstraße 10 Erstaunliches. Das kalte Blau von Handydisplays leuchtet auf. Unter ausladenden Bäumen sammeln sich Gruppen von Scammern wie Vincent. Jungen und Mädchen schauen ihnen zu, so wie Kinder Männern beim Angeln zusehen. Eine Art Angeln ist es ja auch.
Wenn die Uhren in Westafrika abends auf sechs springen, ist es in Mitteleuropa bereits acht. An der Ostküste der Vereinigten Staaten naht der Nachmittag. In Offinso beginnt die Kernarbeitszeit. »Wir machen hier Nachtschicht«, sagt Vincent, »ich arbeite bis morgens um fünf.«
Weit mehr als eine Milliarde Dollar werden Jahr für Jahr mit Scamming bewegt. Allein bei der amerikanischen Bundespolizei FBI gehen etwa 20.000 Anzeigen jährlich ein, die Schadenssummen dort belaufen sich auf rund 500 Millionen Dollar. Und das sind nur die bekannten Fälle.
Die Methode ist älter als das Internet. Schon vor Jahrzehnten suchten vermeintliche Ölhändler per Brief Geschäftspartner und verschwanden mit deren Vorschüssen. Dann versandten falsche Minenbesitzer massenhaft Spammails, vor allem aus Nigeria. Sie versprachen Rohstoffe und Reichtum. Schließlich entwickelten die Betrüger ein neues Geschäftsmodell, die Liebe. Je dichter die Welt ihr World Wide Web wob, desto gezielter konnten sie mit Vereinsamten in Verbindung treten.
Nigeria geriet in Verruf, Bankverbindungen wurden gekappt, Banden zerschlagen. Die Scammer zogen einfach weiter nach Ghana. Wie in Nigeria spricht man auch dort Englisch, die Weltwirtschaftssprache, die Sprache der »Klienten« im Norden. Als einer von wenigen Staaten der Region ist Ghana direkt an ein Tiefsee-Kommunikationskabel zwischen Kapstadt und London angebunden, die leistungsstärkste Internetverbindung zwischen Afrika und Europa. Die Mobilfunkabdeckung im Land liegt bei über achtzig Prozent, überall stellen Bautrupps chinesischer Firmen weitere Sendemasten auf, riesige Turbinen am aufgestauten Volta-Fluss liefern Strom. Deshalb leuchten nachts in Offinso die Displays.
Ghana ist eine der am besten entwickelten Nationen Westafrikas, global gesehen trotzdem arm. Laut Human Development Index liegt das Land im weltweiten Vergleich auf Rang 138, noch hinter Bangladesch. Ein Schulabschluss verspricht noch keinen Job. Für den Abbau von Bodenschätzen – Gold, Gas, Öl, Mangan – werden verhältnismäßig wenig Arbeitskräfte benötigt. Außerhalb der Metropolen Accra und Kumasi gibt es kaum Industrie. Das Land ist stark verschuldet. In den vergangenen Jahren schlossen sich frustrierte Jugendliche aus Ghanas Norden Islamisten in der Sahelzone an. Wenn am Ortseingang von Offinso auf der Nationalstraße 10 Lastwagen und Autos ausnahmsweise einmal abbremsen, stürzen von beiden Seiten Frauen und Männer herbei und klopfen an die Scheiben, um Plastikschlappen und Kochbananen zu verkaufen.
Vielleicht sollte man einem hauptberuflichen Lügner wie Vincent nicht vertrauen. Zuhören kann man ihm dennoch. Er behauptet, seine Mutter sei früh gestorben. Er sei 34 Jahre alt, habe eine Frau, zwei Söhne und eine Tochter. Seine Frau lasse sich zur Arzthelferin ausbilden, das koste. Dazu müsse er Schulbücher, Schuluniformen, Schulgeld der Kinder bezahlen. Er schickt sie auf eine Privatschule.
»Ich bin ein guter Vater«, sagt Vincent. Neulich habe er 22.000 Dollar verdient, Geld gemacht, Sakawa.
Nach seiner Darstellung ist es zehn Jahre her, dass er sich im Ort einen Lehrer suchte. Er hörte drei Wörter aus der Sprache seines Volkes, der Aschanti, die das Wesen der Menschen im Norden beschrieben. Pesemenkomenya , adufrupe, akonobone . Egoistisch, gierig, geil. Das gelte es zu bedienen, zu spiegeln, erfuhr er. »Wenn du ihnen gibst, was sie wollen, geben sie dir, was du willst«, sagt Vincent.
Er lernte auch, wie man weitermacht, wenn hinter dem Horizont jemand angebissen hat: Falls du keinen Komplizen in Amerika hast, erweck zumindest den Eindruck, das erste Geld fließe in die Vereinigten Staaten. Dann lass die Frau, die du spielst, nach Ghana reisen, damit die Männer nicht auf die Idee kommen, dich zu besuchen. Nach Afrika trauen sie sich nicht. Aber sie werden alles tun, um dich da rauszuholen. Der Ortswechsel ist heikel, die Bruchstelle der Beziehung. Schweig für einige Tage. Schreib dann: »Etwas Schlimmes ist passiert, melde mich morgen.« Schweig noch eine Nacht. Berichte schließlich von einem Unglück, das ihr Bild von Afrika bestätigt.
Herr K. plant über Monate den Umzug seiner Freundin, die er in Amerika verortet, zu sich nach Deutschland. Earlie mailt ihm ihren Pass, eine eingescannte Kopie. Earlie flutet sein Postfach: »If I could describe the love I have for you ...« Wenn ich meine Liebe zu Dir doch nur in Worte fassen könnte!
Im Gegensatz zu Antoinette will Earlie von Herrn K. kein Geld für den Flug geschickt bekommen. Sie empfiehlt ihm eine Reiseagentur in Texas, bei der er ein Ticket buchen könne. Die Agentur schlägt Herrn K. vor, dass er vorab nur die Hälfte des Flugpreises zahlt, 300 Euro, und erst nach Earlies Ankunft den Rest. »For this attitude we thank you very much«, schreibt Herr K., für dieses Verhalten danken wir Ihnen sehr.
Erneut kommt etwas dazwischen. Earlie mailt Herrn K., ihr Stiefvater sei gestorben, in Ghana. Sie schickt ihm einen Totenschein voller Stempel und Signaturen: Wilson Bernard Thomas, Geschäftsmann, Nierenversagen. Das Dokument wurde ausgestellt vom Achimota Hospital in Accra. Das Krankenhaus ist hervorgegangen aus einem alten, wikipediaberühmten College der britischen Kolonialherren. Sie müsse erst einmal nach Afrika, schreibt Earlie, sie habe dort ein Erbe anzutreten. Herr K. zahlt etwa 500 Euro für ein neues Flugticket. Earlie verspricht, alle Schulden bei ihm zu begleichen. Sie ist jetzt ja Erbin, wovon auch immer.
Es sind die letzten Tage des Jahres 2016. Eine Weile hört Herr K. nichts von seiner Freundin. Silvester verbringt er allein, auf Geböller folgt Neujahrsstille. Im Januar 2017 mailt ein Dr. Frimpong aus Accra: »Hello, Mr. K. ...« Earlie habe nach ihrer Ankunft in Afrika einen Autounfall gehabt. Der Fahrer sei tot, »aber Ihre Partnerin hat überlebt, was das Wichtigste ist«. Er sei der behandelnde Arzt. Herr K. bekommt neue Bilder: ein Wrack aus Blech, Earlie im Krankenbett, ihr Gesicht hinter einer Sauerstoffmaske, flehende Augen. Dr. Frimpong hängt auch eine Rechnung über 950 Euro an. Leider fehle der Patientin eine Versicherung, er würde gern mit der Behandlung fortfahren.
Earlie Thomas.
Wilson Bernard Thomas.
Dr. Frimpong.
In Ghana organisiert Vincent die emotionale Geiselnahme seiner Opfer ausschließlich über Handy. So verliert er sie auch nicht aus den Augen, wenn er unterwegs ist. Andauernd vibriert und blinkt das Gerät, meldet Posteingänge in mehreren Mailaccounts, denn Vincent spielt viele Rollen, Frauen, Ärzte, Anwälte. Allein ist er dabei nie.
Wie jedes erfolgreiche Business institutionalisiert sich auch die Szene der Scammer. Nur noch wenige arbeiten für sich. Eine Liebesmafia ist gewachsen, organisiert in Gruppen. Einige treffen sich abends in Häusern voller Computer, wie Bürogemeinschaften. Andere schließen sich aus der Ferne zu digital vernetzten Teams zusammen. Die werden oft angeführt von erfahrenen Nigerianern, die Wachstumsraten und Währungsschwankungen weltweit verfolgen und ihren Leuten melden, es sei Zeit für Kanada, wenn dort der Dollar steigt. Diese Mentoren informieren ihre Leute auch über neueste Apps zur Sprachverfälschung, die aus Männerstimmen Frauenstimmen machen, falls die Opfer sich einen Anruf wünschen. In den Netzwerken stehen Experten für Bildbearbeitung bereit, die mit Programmen wie Photoshop Pässe, Urkunden und Fotos fälschen. Für sie ist es keine große Sache, eine Frau in ein Krankenhausbett zu legen. Oder einen Pass zu basteln. Für die Zwecke der Scammer reicht ja eine immaterielle, zweidimensionale Version, eine PDF-Datei. Sie agieren global, müssen sich aber nie vor einem Grenzer ausweisen.
In seinem Netzwerk bestellt Vincent, was er braucht, und zahlt Provision. Er gehört zu den Außendienstlern: Er sucht die Opfer. Es gibt regionale Zuständigkeiten, Vincents Revier sind derzeit die Vereinigten Staaten. Dort leben die Männer, die er anschreibt. Er schaut Nachrichten und Wetterberichte für Amerika, er kennt sich mit Baseball, Football und Hunderassen aus. Er war nie weg und ist doch weltläufig.
Während Vincent sich ausschließlich um Männer kümmert, nehmen andere sich der Frauen an. Bei denen verspricht den meisten Erfolg, sich als heimwehkranker US- Soldat in irgendeinem verlorenen Land auszugeben. Mit dem Rückzug aus Afghanistan ist aktuell ein großes Geschäftsfeld weggebrochen. Die Mentoren grübeln gerade, was zu tun ist.
Vincent sagt, sein Boss agiere aus Accra. Er nennt ihn den »chairman«, den Vorsitzenden. Den Vorsitzenden fragt er um Rat. Dem Vorsitzenden erstattet er Bericht. Der Vorsitzende bekommt die Hälfte seiner Einnahmen. Der Vorsitzende weiß alles und hat doch keine Ahnung, dass Vincent gerade plaudert. Käme das heraus, würde Vincent verstoßen, mindestens. Warum er trotzdem redet? Auch Kriminelle sind eitel. Auch sie ertragen die Isolation nur schwer, ihre Unsichtbarkeit. Da geht es Scammern und Opfern ähnlich.
So berichtet Vincent in Offinso von seinem digitalen Doppelleben. Seine Kinder wüssten nicht, womit er sein Geld verdiene, sagt er. Er habe von seinen Einnahmen zwei koreanische Kleinwagen gekauft und werde bald Taxi-Unternehmer, sagt er. Er helfe seiner Frau und seine Frau helfe ihm, sagt er. Abends säßen sie Schulter an Schulter auf dem Sofa und überlegten, welche Wendungen seine Lügengeschichten nehmen könnten. Ausgerechnet die Gutgläubigen machen am meisten Arbeit. Für sie denkt er sich immer neue Erzählstränge, Nebenfiguren und Fantasiefirmen aus. Wie der Drehbuchautor einer Fernsehserie, von der das süchtige Publikum nicht genug kriegen kann.
»Es fühlt sich an, als würde ich sie bespucken«, sagt Vincent. »Am Ende breche ich ihnen das Herz.« Mit Worten kann er gut.
Als Earlie nach ihrem Autounfall aus dem Krankenhaus entlassen wird, dankt sie Herrn K. für dessen Hilfe, für den »wonderful support given to me all day and night«.
Endlich hat sie Zeit, sich um das Erbe des verstorbenen Stiefvaters zu kümmern. Es ist gewaltig. Sie schickt Herrn K. ein Testament, laut Briefkopf hinterlegt beim High Court of Justice in Accra. Wilson Bernard Thomas hat mit Rohstoffen gehandelt. Er hinterlässt Earlie exakt 7631 Kilogramm Gold und Diamanten sowie 800 Millionen US-Dollar in bar. Alles verschlossen in Tresoren einer Sicherheitsfirma namens PMS Logistics. Allerdings werde Earlie das Erbe nur ausgehändigt, wenn sie verheiratet sei.
Der Scammer ist offenbar von akonobone zu adufrupe übergegangen, von geil zu gierig.
Herr K. heiratet Earlie in Abwesenheit und überweist dafür 3000 Euro Gebühren an eine Standesbeamtin namens Esther Acquah. In den Zahlungsbitten aus Ghana ist immer von westlichen Währungen die Rede. Herr K. ist mittlerweile bei vierstelligen Summen angelangt. Als Beleg erhält er eine Mail mit Heiratsurkunde im Anhang.
Earlie Thomas.
Wilson Bernard Thomas.
Dr. Frimpong.
Esther Acquah.
Earlie und Herr K. mailen beinahe täglich, es gilt viel Schriftverkehr zu erledigen. Einmal hätten sie auch telefoniert, sagt Herr K., er hörte eine Frauenstimme. Ein anderes Mal gelingt es ihm, eine kurze Videoverbindung aufzubauen. Earlie winkt Herrn K., aber der Ton funktioniert nicht.
Earlie meldet aus Accra, Ghanas Behörden verlangten für die Ausfuhr des Erbes Abgaben in Höhe von 1.015.000 Euro. Zum Glück sei es dem Chef der Sicherheitsfirma, einem Mr. Saw, gelungen, sie auf 26.500 Euro herunterzuhandeln. Kontakte, Korruption, Afrika. Wenn Herr K. ihr die Summe auslege, erhalte er einen Teil des Erbes, verspricht Earlie. Die Tresore wolle sie in Ghana nicht öffnen, sonst werde ihr alles gestohlen. Fortan treffen bei Herrn K. auch Mails vom Sicherheitsmann Saw ein, drängend im Ton, Herr K. müsse sich beeilen, er könne die Leute vor Ort nicht ewig schmieren.
Earlie Thomas.
Wilson Bernard Thomas.
Dr. Frimpong.
Esther Acquah.
Mr. Saw.
Herr K. teilt Earlie mit, er wolle sich bei den Behörden selbst erkundigen. Sie bittet ihn: »I don’t want you to call them ...« Ruf da nicht an. Man hat mich wissen lassen, dass die Leute dort uns betrügen wollen, weil sie wissen, um welche Summen es geht.
Sie müsse schnellstmöglich raus aus dem Land, zu ihm, schreibt Earlie. »Write me quickly ok love.«
Eines Tages klingelt es in Deutschland an Herrn K.s Tür. Der Paketbote. Er übergibt einen gelben Umschlag von DHL. Aufgegeben in Ghana, schwer, prall, rasselnd. Earlie hat Herrn K. die Tresorschlüssel vorgeschickt. Schließlich sei er der Einzige, dem sie vertraue.
Herr K. kratzt seinen Besitz zusammen. Er ist jetzt bei fünfstelligen Beträgen. Er verkauft das Haus einer verstorbenen Angehörigen, ein Erbe. 2017 vergeht, 2018 verstreicht. Pausenlos braucht Earlie Geld, weil sie irgendwelchen Afrikanern vom Gold erzählt hat und die nun bestechen muss. Ihre Mails haben jetzt den Betreff: »Es drängt, mein Lieber.«
AW: It’s urgent love
AW: AW: It’s urgent love
AW: AW: AW: It’s urgent love
Es ist nicht leicht, in die Seele von Herrn K. zu blicken. Mit lauter Kleinigkeiten verstellt er den Blick aufs große Ganze. Manchmal klingt er so, als sei seine Liebe zu Earlie etwas erkaltet: Sie ist dumm, vertraut den falschen Leuten und bereitet ihm immer neue Probleme. Heute stellt Herr K. die Sache so dar, dass er im Lauf der Zeit beschlossen habe, ihr vor allem aus finanziellen Erwägungen die Treue zu halten. Die Tresorschlüssel. Das Gold. All das Geld, das er schon ausgegeben hat. Es war zu spät, um auszusteigen. »Ich musste zahlen, wenn ich meine Ansprüche jemals realisieren wollte«, sagt Herr K. Er hält an ihr fest wie an einer Aktie, die fällt und fällt. Ihn hält die Hoffnung, dass sie wieder steigt.
In Ghana gibt es viele Theorien, warum die Masche funktioniert. Von einer lebt ein Spediteur, der sich beharrlich Joe nennt, als hüte auch er ein Geheimnis. Joe ist verheiratet mit zwei Frauen und Herr über zehn Reisebusse, sämtlich ausgestattet mit Liegesesseln, Bildschirmen, Klimaanlagen und Gardinen. Zu Joes besten Kunden gehören Scammer, Sakawa-Boys. In seinen Bussen lassen sie sich über die Grenze nach Togo und weiter ins französischsprachige Benin fahren, wo die berühmtesten Voodoo-Priester Westafrikas residieren. Die Scammer haben Profilbilder ihrer»clients« dabei, Ausdrucke, die sie auf den Schreinen niederlegen. Die Priester beschwören die Bilder, damit die weißen Männer mehr zahlen. Kräuter werden zerrieben, Suppen gekocht, Tiere geopfert. Die Zeremonie ziehe sich über Tage, sagt Joe. Wenn die Scammer wieder in die Reisebusse steigen, lassen sie die Fotos ihrer Opfer auf den Altären zurück. Offensichtlich lässt jede Kultur Raum für Irrationales.
Ob im Dschungel Benins auch ein Bild von Herrn K. verwittert, lässt sich nicht prüfen. Wegen der Pandemie sind die Grenzen geschlossen. Der Spediteur Joe hat mehr Zeit, als ihm lieb ist. Also redet er. In seinen Bussen sei ab und zu von der Herablassung des Nordens die Rede: Wie können sich diese Greise nur einbilden, eine junge Frau interessiere sich für sie? Wo ist ihre Demut? Haben sie nie gelernt, einen Irrtum einzugestehen? Auch werde die Rache des Südens beschworen: Sakawa bringe zurück, was einst geraubt wurde. An Ghanas Küste stehen noch die Forts, von denen aus die Kolonialherren den Kontinent eroberten, wo sie Gold verluden und Sklaven auf Schiffe zwangen. Bis heute werden Weiße im Land obroni genannt. In dem Begriff sind die Wörter »schlecht« und »Mensch« verschmolzen.
In Ghanas Straßenkiosken werden Sakawa-Filme angeboten, Seifenopern, in denen Arme reich werden. Im Hip-Hop wird Sakawa gepriesen. Die Regierung steckt in einem Zwiespalt. Einerseits fließen Devisen ins Land, junge Menschen haben ein Einkommen. Andererseits brechen sie ihre Ausbildungen ab, und Ghana droht derselbe schlechte Ruf wie Nigeria. Wenn Staaten aus dem Norden Druck machen, wird manchmal jemand festgenommen.
Auf Betreiben des FBI wurden im vorigen Jahr in Dubai zwölf Männer wegen allerlei Arten von Internetbetrug verhaftet. Sie hatten 40 Millionen Dollar in bar bei sich, dazu Festplatten mit Kontaktdaten von zwei Millionen Menschen. Kopf der Bande war ein Nigerianer, der sich »Hushpuppi« nannte und in sozialen Netzwerken allzu offen mit seinem Reichtum und dessen Herkunft geprahlt hatte. Hushpuppi vor Rolls-Royce, Hushpuppi vor Privatjet.
In Offinso ragen seit Neuestem strahlend helle Villen über die Dächer der Stadt. Protzpaläste, die aussehen, als habe sich auch hier jemand an einer Fälschung versucht, des Weißen Hauses in Washington und der Southfork Ranch aus der Fernsehserie Dallas . Der Ort ist voller Gerüchte. Ein Sakawa-Boss soll einen Proficlub aus Ghanas zweiter Fußball-Liga gekauft haben, um sein Geld zu waschen. Vincent schätzt, die Hälfte aller Familien in Offinso sei im Geschäft. Einige Eltern schenken ihren Kindern Smartphones. »Die kosten weniger als ein Platz auf dem College«, sagt Vincent. Andere lassen ihre Töchter und Söhne nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr aus dem Haus. Die schmutzigen Geschäfte bringen eben auch Schmutz mit sich. Die Stadt wird überschwemmt von Drogen, vor allem Kokain. Junge Frauen werden vergewaltigt. Die Lokalzeitung meldet: »Sakawa Boys Invade Offinso«, Sakawa-Boys fallen in Offinso ein. Sie nehmen sich, was sie wollen. Sie geben nichts. Sie sind keine afrikanischen Robin Hoods.
In diesem Frühjahr verschwand im Ort ein vierjähriges Mädchen. Einwohner suchten das Kind. Sie fanden eine Leiche ohne Kopf. Ein junger Mann wurde verhaftet, ein Maurer. Die Polizei soll vermuten, auch er sei ein Scammer. Und ein Voodoo-Priester habe ihn angestiftet, ein Menschenopfer zu bringen. Vor der Polizeiwache brachen Tumulte aus, die Menge wollte den Mann lynchen.
Im August 2019 – sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau, fünf Jahre nachdem Antoinette in sein Leben trat, drei Jahre nachdem sie sich in Earlie verwandelte – schöpft Herr K. noch einmal Hoffnung. Earlie mailt, sie steige in wenigen Tagen ins Flugzeug, an ihrer Seite Sicherheitsmann Mr. Saw, im Rumpf die Tresore. »Baby this is the information of the flights my dear.« Kotoka International Airport Accra – London Heathrow – Dusseldorf.
Man mag es kaum mehr schreiben, aber in London wird Earlie verhaftet. Etwas stimmt nicht mit den Frachtpapieren. Damit Herr K. nicht den Glauben verliert, schickt Earlie ihm ihre Bordkarte von British Airways. Ein Mr. Rodgers von »Heathrow Intelligence« sendet ein Foto, das die Geliebte aus Amerika in einer Zelle zeigt.
Herr K. kauft Earlie frei, durchbricht irgendwann in dieser Zeit die 100.000-Euro-Marke, druckt zu Hause weitere Belege aus und schiebt sie in neue Klarsichtfolien. Earlie wird in die Vereinigten Staaten abgeschoben. Dort vertraut sie ihr Erbe einem Anwalt mit Namen Lance Grover an, der Herrn K. Lagerkosten in Rechnung stellt, Verwaltungsgebühren erhebt und eine Kopie seines Passes schickt. Grau gescheitelter Kantenkopf, weißer Kragen und Krawatte.
Earlie Thomas.
Wilson Bernard Thomas.
Dr. Frimpong.
Esther Acquah.
Mr. Saw.
Mr. Rodgers.
Lance Grover.
Grover schickt freundliche Briefe, während Earlie garstig wird. Herr K. müsse sie endlich zu sich holen, ein allerletztes Mal bezahlen, damit Schatz und Schlüssel zusammenfinden. Aber Herr K. hat kein Geld mehr, 150.000 Euro sind weg. »Wenn wir uns nicht vertrauen, ist es keine wahre Liebe«, schreibt Earlie. Bald kann der Anwalt die Lagerkosten nicht mehr begleichen, die Tresore werden nach New York gebracht, in Earlies Wohnung. Sie ruft ihn mehrmals an, doch immer wenn Herr K. annimmt, bricht die Verbindung ab. »Diebe haben sich an meinem Fenster zu schaffen gemacht«, meldet Earlie, »ich kann unser Eigentum nicht mehr schützen, irgendwann wird jemand kommen und mich töten.«
Herr K. stellt seinen Hausstand auf eBay ein, verkauft Möbel und Autoteile. Sein erwachsenes Kind versucht vergeblich, ihn von Earlie abzubringen, und resigniert schließlich. Herr K. selbst überwirft sich in der Sache mit letzten Freunden. Über die Jahre hat er sich ein zweites Mal an die deutsche Botschaft in Ghana gewandt, ist in seinem Wohnort zur Polizeiwache gegangen und hat ellenlange Mails an amerikanische Behörden geschickt. In einigen Schreiben lässt er Zweifel an der ganzen Geschichte erkennen. Meistens jedoch bittet er darum, seine Frau und ihn beim Transfer der Tresore zu unterstützen. Die Botschaft antwortet, er solle besser den Kontakt abbrechen. Von den meisten Stellen erhält er überhaupt keine Reaktion. Nun hofft Herr K., die Zeitung könnte helfen.
Nach ihrer Abschiebung in die Vereinigten Staaten lernt Earlie in New York neue Männer kennen. Die sind reich, sie ist schön. Sie berichtet Herrn K. von einem Mr. Ernesto aus Panama, sehr wohlhabend.
»Den habe ich verhindert«, sagt Herr K. Auch dazu liegt ein Stapel Korrespondenz auf seinem Tisch.
Aktuell schwärmt sie für einen Geschäftsmann aus dem Mittleren Westen, Mr. Deltch. Sie meldet sich seltener.
»Wo warst du so lange?«, fragt Herr K. in diesem Sommer.
»Mein Schatz, ich habe Mister Deltch besucht. Er hat mir einige Ecken Amerikas gezeigt, die ich noch nicht kannte. Gegenden, in denen er Firmen besitzt.«
Earlie Thomas.
Wilson Bernard Thomas.
Dr. Frimpong.
Esther Acquah.
Mr. Saw.
Mr. Rodgers.
Lance Grover.
Mr. Ernesto.
Mr. Deltch.
Herbst 2021. Im Achimota Hospital in Accra beugt sich die Verwaltungschefin der Klinik über den Totenschein von Earlie Thomas’ Stiefvater. Ein Ventilator an der Decke wälzt die Luft um, die Dame schweigt, schließlich sagt sie: »Unser Wappen sieht anders aus.« Sie ruft im Archiv an. Ein Wilson Bernard Thomas war niemals Patient in diesem Krankenhaus. Der Name des unterzeichnenden Arztes ist unbekannt.
Im zentralen Standesamt der Hauptstadt sagt der Leiter, vor einiger Zeit seien Heiratsurkunden gestohlen worden. Das Dokument sei echt und zugleich ungültig, denn eine Hochzeit in Abwesenheit sei nicht gestattet. »Für die Gebühr hätte der Mann übrigens ein ganzes Dorf heiraten können.«
Am High Court, in einem fensterlosen Büro am Ende eines langen Flures, nimmt ein alter Registrator das Gold-Diamanten-Dollar-Testament entgegen. Er lässt es begutachten und setzt ein Schreiben auf, in dem steht, das Papier stamme nicht aus seinem Haus.
British Airways prüft die Bordkarte, mit der Earlie Thomas von Accra nach London geflogen sein will, und verkündet: »This is not a BA document.«
Das Passbild des grau gescheitelten Anwaltes Lance Grover zeigt einen hochrangigen Soldaten aus den USA, den ehemaligen Navy-Admiral James A. Winnefeld. Der hat einst einen Flugzeugträger kommandiert, jetzt ist er machtlos gegen Identitätsdiebe.
Das Foto, das Earlie in der Zelle in Heathrow zeigen soll, stammt aus der Gefängnisserie Orange Is the New Black. Auf den Kopf der Hauptdarstellerin wurde Earlies Gesicht montiert.
Alle Bilder, auf denen die junge, komplizierte Liebe des Herrn K. lächelt, zwinkert und sich in Betten rekelt, wurden vom Myspace-Account einer Kalifornierin gestohlen. Die drehte eine Zeit lang unter dem Künstlernamen Aria Giovanni lesbische Pornos. Aus ihren Fotos haben zig Betrüger mehrere falsche Profile gebastelt. Die Fantasiefrauen mit dem immer gleichen Gesicht heißen mal Anita Johnson, mal Ashelly Cole, mal Shakira Dale, mal Rachel Aasomani. Und mal Earlie Thomas.
Earlie Thomas ist der Name eines schwarzen Footballspielers, der in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts für die New York Jets auflief.
Die ehemalige Porno-Darstellerin, stellt sich heraus, hat nach dem Ende ihrer ersten Karriere eine zweite begonnen. Als Insektenforscherin, die in Kaliforniens Weinbergen den Schädlingsbefall dokumentiert.
»Das passt überhaupt nicht zusammen« , sagt Herr K. Die Frau auf den Fotos – eine Wissenschaftlerin? »Also, die bestimmt nicht! Die, mit der ich schreibe, hat nicht das Niveau. Das geht aus dem jahrelangen Chatverhalten hervor.«
Was die Wirklichkeit auch bereithält, Herr K. setzt allem etwas entgegen, das seine Version stärkt. Man möchte den alten Mann in seinem Haus durchschütteln, wachrütteln, das Internetkabel kappen. Nichts davon steht einem Besucher zu. Von Selbsthilfegruppen will Herr K. nichts wissen. Als er von all den Erkenntnissen hört, sagt er: »Das kann niemals ein Mann sein.« Man hätte nicht in Ghana nach seiner Earlie suchen sollen, sondern in New York, wo die Tresore lagern. Er hat sich nicht geirrt. Er nicht. Mag sein, dass Earlie von Anfang an nur sein Geld wollte – aber ihre Gier und ihre Naivität bewiesen, dass sie existiere. Eine erfundene Frau wäre doch immer nett zu ihm, sagt Herr K. »Mich überzeugt die Ehrlichkeit der Betrugsabsicht.«
In Offinso, Ghana, hat sich Vincent dieser Tage ein drittes Auto zugelegt, einen Toyota. Er baut ein Haus. »Wenn wir einziehen, höre ich auf«, beteuert Vincent, der Lügner. Dann verschwindet er in den Straßen seiner Stadt.
In Deutschland hat Herr K. seinen Wagen nicht mehr über den TÜV gekriegt. Er sitzt in seinem Haus tief im Westen der alten Bundesrepublik, raucht die Tapeten gelb und hat neulich wieder eine Nachricht an Earlie Thomas geschrieben: »Today only small breakfast 3 very small TOAST BREDS with Butter and Marmelade because I had nothing at home ...« Heute nur ein kleines Frühstück, drei sehr kleine Toastscheiben mit Butter und Marmelade, weil ich nichts zu Hause hatte. Bin dann einkaufen gefahren. Heute Abend werde ich sehr einfach essen, Pommes frites mit Hering in Sahnesoße, das ist alles. Ich wollte vier Kilogramm frische Kartoffeln kaufen, die waren im Angebot, aber ausverkauft.
Earlie reagiert nicht mehr so rasch wie früher. Dafür erhält Herr K. Post von einer neuen Frau. Sie ist Französin und heißt Catherine Morin. Wie eine Schauspielerin, die vor fünfzig Jahren ihre ersten Filme drehte.