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True Story Award 2023

Wir nicht

Ein junger Russe, der vor dem Dienst an der Waffe flieht. Ein junger Ukrainer, der seine Heimat nicht verteidigen will. Über Moral und Gewissen in Zeiten des Krieges

Maksim Gaidukov gehen die Männer vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB an der russisch-finnischen Grenze nicht aus dem Sinn. »Man sieht den Tod in ihren Augen«, sagt er. Gaidukov hat einen Stuhl an das Fenster seines Zimmers in Berlin-Wedding gestellt und dreht sich eine Zigarette. Es ist Anfang Juni, von draußen dringt warme Luft herein. Das Zimmer ist klein, die Wände kahl, eine graue Ausziehcouch, eine Kleiderstange, ein Spiegel. Gaidukov kommt aus Smolensk in Westrussland und ist 20, das ideale Alter für die russische Armee, vor der er im März geflohen ist. 
»Ich will nicht zum Militär, das ist Betrug an der jungen Generation. Ich will nicht gegen die Ukraine kämpfen. Ich will gegen niemanden kämpfen!« Gaidukov ist gegen die Politik seines Landes, gegen den Krieg. Er streicht sich seine braunen Haare aus dem Gesicht, sie reichen ihm bis zu den Schultern. Sein Körper ist schmal, die schwarze Hose, die er trägt, schlackert um seine Beine, er hat fast feminin wirkende Gesichtszüge. Maksim Gaidukov sieht nicht aus wie ein Krieger. Und er fühlt sich auch nicht wie einer. Aber vor zwei Tagen ist sein Visum für die Schengen-Staaten abgelaufen. 
Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und zeigt eine Vorladung zum Militärkommissariat in Smolensk für den 26. April. Gaidukovs Vater hat den Brief abfotografiert und seinem Sohn geschickt. Zurück in seine Heimat mag Maksim Gaidukov im Augenblick auf keinen Fall. 
Als Ilja Owtscharenko im Dezember vergangenen Jahres die Ukraine verließ und in Gárdony eintraf, einer Kleinstadt in Ungarn, um in einer Fabrik für Dieselfilter zu arbeiten, gab es schon Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg. Aber Owtscharenko hielt es wie so viele nicht für möglich, dass Russland tatsächlich sein Land überfallen würde. 
An einem sehr heißen Tag in diesem Sommer wartet Ilja Owtscharenko am Bahnhof von Gárdony. Auch er ist sehr schlank, trägt Jeans, kurze braune Haare, eine Brille. Und er ist 36, ein Alter, in dem Männer die Ukraine momentan nicht verlassen dürfen, ein Alter, in dem viele seiner Landsleute nun für ihre Heimat kämpfen. Owtscharenko schlägt vor, sich in einem Park in den Schatten zu setzen. Er stammt aus der Großstadt Krywyj Rih in der Zentralukraine und hat die vergangenen Jahre in einem Ort in der Nähe von Krywyj Rih gewohnt. 
Eine Woche nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Owtscharenko in Ungarn ein TikTok-Video aufgenommen. Darin fordert er Präsident Wolodymyr Selenskyj auf, mit Russland zu verhandeln und ukrainische Territorien abzutreten, um Leben zu retten. Er verurteilt den Beschluss seiner Regierung, Männer unter 60 Jahren nicht aus der Ukraine ausreisen zu lassen. »Pazifisten oder Christen, die nach dem Grundsatz ›Du sollst nicht töten‹ leben, müssen das Recht haben, die Kriegsgebiete zu verlassen. Das ist ein Menschenrecht«, sagt er in dem Clip. »Meine Position ist: Jeder Mensch, der einen anderen tötet, ist schuldig vor Gott. Es gibt keine Ausnahme, in keinem Fall.« Populär ist diese Meinung in der Ukraine nicht. Selbst Teile seiner Familie halten Owtscharenko nun für einen Verräter. 
Wenn er in die Ukraine heimkehren würde, könnte es sein, dass er irgendwann an die Front müsste. Oder ins Gefängnis. Zurück in seine Heimat mag Ilja Owtscharenko im Augenblick auf keinen Fall. 
Maksim Gaidukov und Ilja Owtscharenko – zwei junge Männer, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Und das in einer Zeit, in der in Russland Regierung und Staatsmedien verbreiten, die Ukraine müsse mithilfe russischer Waffen von »Faschisten« befreit und im Donbass ein »Genozid« an Millionen Zivilisten verhindert werden. In einer Zeit, in der in der Ukraine das Oberhaupt der orthodoxen Kirche den Schutz des Landes mit der Waffe in der Hand zur Bürgerpflicht erklärt. In einer Zeit, in der in Butscha, Irpin und vielen anderen Orten Zivilisten grausam getötet werden. In einer Zeit, in der Wolodymyr Selenskyj sich mit den Worten »Wir brauchen euch jetzt!« an alle Ukrainer im Ausland wendet und die Welt um Waffen anfleht. In einer Zeit, in der es auch in Deutschland heißt: Schickt mehr Waffen in die Ukraine! 
Aber was ist mit denen, die die Waffen bedienen sollen? Mit den jungen Männern, die ihre Zukunft nicht auf dem Schlachtfeld sehen? Unabhängig davon, ob es für eine richtige oder eine falsche Sache ist. 
Es gibt Menschen, die es generell ablehnen, eine Waffe zu tragen und zu kämpfen – klassische Wehrdienstverweigerer. Andere legen die Waffen nieder, wenn sie schon Teil einer Armee sind – Deserteure, Fahnenflüchtige. Der 24. Februar war erst wenige Wochen her, da mehrten sich Meldungen über Soldaten, die Befehle verweigert oder sich versteckt haben sollen. Ende März berichtete der britische Geheimdienstchef Jeremy Fleming von Angehörigen der russischen Armee, die ihre eigene Ausrüstung zerstört haben sollen, um nicht an die Front zu müssen. Wenig später sprachen Reporter der Washington Post mit Mitgliedern einer ukrainischen Freiwilligen-Truppe im Donbass. Die Männer waren so hungrig und erschöpft, dass sie die Front verließen und sich in ein Hotel retteten. 
Wieder andere waren zu Beginn des Kriegs im Ausland, wie der Ukrainer Ilja Owtscharenko, oder flohen kurz danach, wie der Russe Maksim Gaidukov. Wie viele Männer genau sich auf die ein oder andere Weise dem Dienst an der Waffe entzogen haben, ist schwer zu sagen. Schätzungen zufolge sind zwischen 200.000 und 500.000 Oppositionelle aus Russland geflohen, oft in die Türkei und nach Georgien, viele davon Männer. Der ukrainische Grenzschutz wiederum hat seit Ende Februar um die 6400 wehrpflichtige Ukrainer beim Versuch gefasst, dem Krieg zu entkommen. Nicht wenige werden es geschafft haben. Es gibt Telegram-Gruppen mit Tausenden Mitgliedern, die jungen Männern aus der Ukraine Ratschläge bieten, wie sie aus dem Land ausreisen können, etwa mit gefälschten Immatrikulationsbescheinigungen ausländischer Universitäten. Am rumänisch-ukrainischen Grenzfluss Theiß sollen Schleuser Ukrainer im wehrfähigen Alter ans rumänische Ufer bringen. Auch in Deutschland leben nun einige Ukrainer, die nicht kämpfen wollen. 
In beiden Ländern, in Russland und der Ukraine, kann man nach dem Gesetz den Wehrdienst verweigern. In der Ukraine wird dies allerdings nur Angehörigen von zehn kleineren religiösen Gemeinschaften zugestanden, zum Beispiel den Zeugen Jehovas. Allen anderen Verweigerern drohen mehrere Jahre Haft. Die Zahl der Fälle, in denen gegen Ukrainer ermittelt wurde, die sich dem Dienst in der Armee entziehen wollen, lag von Januar bis Juli 2022 nach Angaben der Strafverfolgungsbehörden deutlich höher als sonst. Unerlaubte Entfernung von der Militäreinheit: 1813 Fälle. Desertion: 1551 Fälle. Selbstverstümmelung: 115 Fälle. Sie sind eine Minderheit. Aber es gibt sie. 
Wer in Russland den Wehrdienst verweigert, muss erheblichen psychischen Druck aushalten. Die Militärkommissariate entscheiden darüber, ob sie dem Antrag stattgeben oder nicht. Ein langwieriger Prozess mit völlig unklarem Ausgang. 
Bisher hat die russische Regierung auf eine Generalmobilmachung verzichtet. Derzeit werden offenbar nur Berufssoldaten in die Ukraine geschickt, zumindest am Anfang der Invasion sind allerdings auch Wehrpflichtige im Kriegsgebiet gelandet. Gaidukov fürchtet, das könnte in Zukunft wieder geschehen. 
Ilja Owtscharenko und Maksim Gaidukov sind auf verschiedenen Wegen und aus verschiedenen Gründen zu ihren Überzeugungen gelangt. Und natürlich ist die Ukraine in einer anderen Lage als Russland: Sie wurde angegriffen, es geht um ihre Existenz. Während der Russe Gaidukov für seine Haltung im Westen als oppositioneller Held gilt, wird der Ukrainer Owtscharenko vermutlich nicht nur von vielen seiner Landsleute verachtet. Doch die grundsätzliche Frage bleibt dieselbe: Soll ein Staat junge Männer zum Militärdienst zwingen, obwohl sie es nicht wollen? 
Maksim Gaidukov steht in seiner Berliner Küche und kocht Kaffee, er teilt sich die Wohnung mit drei Mitbewohnern. Er erzählt, dass schon in der Schule jedes Jahr Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg eingeladen worden seien, um den Schülern von ihren ruhmreichen Taten zu berichten, als Teil der Propaganda für die Streitkräfte. Obwohl Russland diesen Krieg verloren hat. 
Mit 16 wurde Gaidukov das erste Mal gemustert. Seine Klassenkameraden hätten möglichst stark wirken wollen, um in bessere Militäreinheiten zu kommen, er habe versucht, krank auszusehen. Schon als Kind habe er Konflikte stets mit Gesprächen lösen wollen. Gaidukovs Abscheu davor, eine Waffe in die Hand zu nehmen, rührt einerseits aus seiner Abneigung gegen das repressive russische System, ist aber auch grundsätzlicher Natur. Nach seiner Schulzeit wurde er mehrmals zum Militärkommissariat bestellt. Mal meldete er sich krank. Mal war er im Ausland, so wie auch jetzt wieder, im April. Er sagt, nachdem der Termin dieser vorerst letzten Vorladung verstrichen war, habe er Anrufe von unbekannten russischen Nummern auf seinem Handy gesehen. »Man kann denen nicht trauen.« Mit »denen« meint er seine eigene Regierung. 
Etwa 320.000 Menschen leben in Smolensk. Als Gaidukov einige Tage nach dem 24. Februar an einem spontanen Protest gegen den Krieg teilnahm, fanden sich nur um die 60 Menschen ein, erzählt er. »Da habe ich verstanden, die Russen wollen nicht protestieren. Und ich bin kein Nawalny. Ich bin kein Märtyrer.« Also blieb nur das Exil. Er hatte damals noch ein Visum für die EU. Maksim Gaidukov arbeitet als Fotomodell, er hat eine russische, eine italienische, eine französische und seit Kurzem auch eine deutsche Agentur, die ihn vertreten. 
Wenn man ihn fragt, wie er sich von seiner Freundin, seiner Familie verabschiedete, wird er still. Er redet nicht gern darüber. Gaidukov stieg am 8. März frühmorgens in St. Petersburg in den Zug nach Helsinki. Die Männer vom FSB, die ihm dort begegnet seien, hätten ihm Fragen gestellt und sein Telefon nach verdächtigen Posts und Nachrichten durchsucht. Gaidukov hatte Glück. Seine Legende, er wolle nur ein paar Tage im Ausland arbeiten, klang glaubwürdig. 
Inzwischen ist es Nachmittag in Berlin, Gaidukov will noch zu seiner Model-Agentur. Er hat für die Mitarbeiter eine Zitronentarte gebacken. Er bekommt gerade die ersten Jobs in Deutschland. Doch da ist noch die Sache mit seinem Visum, das seit zwei Tagen ungültig ist. Er hat sich jetzt einen Anwalt für Aufenthaltsrecht genommen und überlegt, es zu verlängern oder ein neues zu beantragen. Dafür müsste er aber nach Russland in die deutsche Botschaft. Oder er bittet um politisches Asyl in Deutschland. Doch das dauert. Er dürfte in dieser Zeit zunächst nicht arbeiten, und der Ausgang wäre ungewiss. 
Was passieren würde, wenn Gaidukov nach Russland zurückginge, weiß er nicht. Und mit Gesprächen wie diesem mit der ZEIT schneidet er sich den Rückweg ab. Da hat er keine Zweifel. Gaidukovs Vater hat seinen Sohn gebeten: Komm nicht zurück! »Nach Russland deportieren kann man mich nicht, oder?«, fragt Gaidukov. 
Wenig später läuft er in Berlin-Mitte über die Straße, in den Händen die Zitronentarte. Seine Agentur Izaio sitzt in einem Neubau. Als er seinen »Booker«, wie das in der Modewelt heißt, begrüßt, lächelt Gaidukov. Der Booker ist nur etwas älter als er selbst, trägt kurze Haare und schwarz lackierte Fingernägel. Die beiden setzen sich an einen weißen Hochtisch. 
In der Agentur ist Gaidukovs Geschichte bekannt, alle wissen, dass er auf der Flucht vor der russischen Armee ist. Auch in der Modebranche hat der russische Angriffskrieg eingeschlagen. Zehn bis zwanzig Prozent der Models bei Izaio stammen aus der Ukraine oder Russland. »Der eher raue osteuropäische Look war sehr modern in den letzten Jahren«, sagt der Booker. Er schaut zu Gaidukov: »Ich hätte dasselbe gemacht wie er.« Die Agentur ist sogar bereit, einen Unterstützungsbrief an die deutschen Behörden zu schreiben. 
Während Gaidukov die Zitronentarte auspackt, sagt er: »Die ukrainischen Männer dürfen ihr Land nicht verlassen. Wenn sie nicht in den Krieg wollen, ist das furchtbar für sie.« 
Jeden Tag sterben Hunderte junge Männer in diesem Krieg. Auf beiden Seiten. An der Front schießen Russen und Ukrainer aufeinander, in Deutschland haben diejenigen, die sich daran nicht beteiligen wollen, denselben Ansprechpartner: Sie rufen bei Rudi Friedrich an, dem Mitbegründer und Geschäftsführer von Connection e. V. in Offenbach, einem deutschen Verein, der sich international für Kriegsdienstverweigerer einsetzt. Gemeinsam mit Pro Asyl hat der Verein eine Beratungshotline eingerichtet. 
Im Mai hat das deutsche Innenministerium russischen Deserteuren zugesagt, dass sie auf ein erfolgreiches Asylverfahren hoffen dürfen. Gemeint sind lediglich Soldaten, die aus der Armee fliehen, aber nicht Männer wie Maksim Gaidukov, die erst gar nicht zum Militär wollen. Noch komplizierter ist die Lage für Männer aus der Ukraine. Als möglicher Asylgrund gilt die Flucht aus einer Armee nur dann, wenn sie einen Soldaten davor bewahrt, sich an einem völkerrechtswidrigen Angriff zu beteiligen – das ist in der Ukraine, die sich ja gegen einen Angriff verteidigen muss, nicht der Fall. Allerdings genießen Ukrainer derzeit einen vorübergehenden Schutz aus humanitären Gründen in der EU. Nicht nur Frauen und Kinder, sondern auch alle ankommenden Männer dürfen bleiben. 
»Das Stigma für Ukrainer, die nicht kämpfen wollen, ist sehr groß«, sagt Rudi Friedrich. Meist riefen Verwandte oder Freunde für sie bei der Hotline an. Öffentlich darüber reden, warum sie ihr Land nicht mit der Waffe verteidigen möchten – dazu sind nur die wenigsten bereit, vor allem dann nicht, wenn sie noch in der Ukraine wohnen. 
Ilja Owtscharenko hat seine Heimat verlassen, er traut sich zu sprechen. Als er auf der Parkbank in der ungarischen Stadt Gárdony sitzt, laufen Familien mit Luftmatratzen und Badetüchern unterm Arm an ihm vorbei. Sie kehren an diesem Samstagabend vom Strand zurück, Gárdony ist ein Ferienort am Velencer See. Owtscharenko hat bis zum Nachmittag gearbeitet. Inzwischen ist er in einem Betrieb, der Geldautomaten herstellt. Ein Bus holt ihn und die anderen Arbeiter morgens um Viertel vor fünf ab, um sechs beginnt die Schicht. Owtscharenko bekommt 600 Dollar im Monat und teilt sich ein Zimmer mit zwei anderen ukrainischen Männern in einem Wohnheim nicht weit vom Park. 
Wenn man Owtscharenko fragt, was er gefühlt habe, als er im Februar von der Invasion erfuhr, schweigt er lange. »Es war ein kleiner Schock«, sagt er dann, »ich habe Druck im ganzen Körper gespürt.« Zu diesem Zeitpunkt waren auch seine Mutter und deren Freund in Gárdony zum Arbeiten. Ihr ganzer Hass habe sich gegen Russland gerichtet. »Ich habe versucht, die beiden zu beruhigen.« Ohne großen Erfolg. Zu seinem Vater hat Owtscharenko seit Jahren keinen Kontakt mehr, seine Eltern haben sich früh getrennt. 
Owtscharenko ist kein Freund der russischen Regierungspolitik. Im Gegenteil. »Ich habe verstanden, dass Putin ein kompromissloser, grausamer, brutaler Mensch ist.« Owtscharenko spricht bewundernd über die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die nach ihrer kritischen Berichterstattung über den Tschetschenien-Krieg umgebracht wurde. Sie habe sich nicht gefürchtet, öffentlich ihre Meinung zu sagen. »Das hat mich bestärkt, auch mutig zu sein und meine Ansichten zu vertreten.« Egal, wie wenig akzeptiert die sind, im Augenblick. 
Seine Haltung zu Krieg und Wehrdienst scheint das Ergebnis eines Prozesses zu sein, der im Studium begann. Owtscharenko studierte Computerwissenschaften, er wollte Programmierer werden. Er besuchte eine Hochschule in der Nähe seiner Heimatstadt Krywyj Rih, zwei andere Universitäten hatten ihn nicht angenommen. Das stürzte Owtscharenko in eine Art Lebenskrise, er sagt, es sei eine Depression gewesen. »Ich wusste nicht mehr, warum ich lebe. Was der Sinn des Lebens ist. Und dann habe ich mich mit Philosophie beschäftigt.« 
Man kann sagen, er hat sich nicht nur damit beschäftigt, sie beherrscht ihn inzwischen vollkommen. Er begann, Dostojewski zu lesen, Tolstoi, Descartes, Kant, Platon, buddhistische Werke. Die Lektüre habe dazu geführt, dass er sich immer mehr Fragen stellte – über Schuld und Sühne, Gut und Böse. Aus ihnen formte sich in Owtscharenko ein pazifistisches Gedanken- und Weltideal. Demnach sind alle Menschen Brüder. »Patriotismus halte ich grundsätzlich für eine gefährliche Ideologie«, sagt er. »Es gibt keinen guten Patriotismus.« 
Als ab 2013 seine Landsleute auf dem Maidan in Kiew für die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU demonstrierten, verfolgte Owtscharenko die Proteste in den Nachrichten und im Internet. Er fand sie am Ende zu aggressiv, zu gewalttätig, er blieb ein Zuschauer. Er habe durchaus eine Annäherung der Ukraine an den Westen unterstützt. »Das würde mehr Freiheit bedeuten als eine stärkere Anbindung an Russland. Aber dafür kämpfen würde ich nicht.« 
Als Russland dann die Krim annektierte, befürwortete Owtscharenko, dass die Ukraine nicht versuchte, sie zurückzugewinnen. »Sonst wäre viel Blut vergossen worden.« 
Der Krieg im Donbass begann. Zu jener Zeit lebte Owtscharenko in einem Wohnheim, dorthin kam das Militär mit einem Einberufungsbefehl. Owtscharenko sagt, er habe sich verleugnen lassen. Nachdem er seiner ersten Einberufung entgehen konnte, kaufte er sich später, wie viele andere auch, bei einer medizinischen Untersuchung vom Dienst an der Waffe frei. Obwohl das illegal ist. 
Damals, 2015, sah er ein Video: Der ukrainische Journalist Ruslan Kozaba verkündete darin, dass er sich seiner Einberufung widersetzen werde, und rief zu einem Boykott gegen die militärische Teilmobilmachung auf. Kozaba ist in der Ukraine eine höchst umstrittene Figur. Er arbeitete für einen TV-Sender, dem vorgeworfen wurde, prorussisch zu sein, und bezeichnete den Krieg im Donbass als »Bürgerkrieg«, in der Sprache der Kreml-Propaganda. Nach dem Video wurde Kozaba verhaftet und wegen »Behinderung der rechtmäßigen Aktivitäten der Streitkräfte« zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde später aufgehoben, derzeit läuft das Wiederaufnahmeverfahren, und Kozaba steht seit diesem Juli erneut vor Gericht. 
Ruslan Kozaba ist der Mitgründer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, der auch Ilja Owtscharenko in diesem Januar, kurz vor der russischen Invasion, beigetreten ist. Wegen seiner Parteinahme gegen den Krieg sollte Kozaba 2019 den Aachener Friedenspreis erhalten, der Menschen und Gruppierungen ehrt, die sich für Frieden und Verständigung einsetzen. Als jedoch frühere antisemitische Äußerungen Kozabas auftauchten, bekam er den Preis nicht. Owtscharenko sagt, er könne sich nicht vorstellen, dass Kozaba antisemitisch sei. Er habe sich der Gruppierung angeschlossen, weil es nicht viele gebe, die offen pazifistische Meinungen vertreten. Er habe vor allem Gleichgesinnte gesucht. Die Ukrainische Pazifistische Bewegung hat gerade einmal ein paar Dutzend Mitglieder. 
Einigen Ukraine-Experten, mit denen man für diesen Text spricht, kommen Kozaba und die Pazifistische Bewegung verdächtig vor. Sie halten es für möglich, dass es in Wahrheit darum geht, prorussische Positionen zu propagieren. Die Mitglieder, also auch Owtscharenko, wurden auf Facebook von einer ukrainischen Politikerin bezichtigt, »russische Agenten« zu sein. Eine Anfrage der ZEIT beim ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU blieb unbeantwortet. In der momentanen Situation erscheint jeder, der gegen den bewaffneten Kampf ist, als Feind, ob berechtigt oder unberechtigt. 
Der renommierte Menschenrechtler Evgen Sacharow, Direktor der Menschenrechtsgruppe Charkiw, kennt Kozaba und die Pazifistische Bewegung schon lange. Sacharow nennt Kozaba einen »Provokateur«, aber er glaube nicht, dass Kozaba ein Agent Russlands sei. Die Positionen der Pazifisten seien in der jetzigen Lage egoistisch: Sacharow meint, alle Ukrainer müssten entweder aktiv gegen die russische Armee kämpfen oder zumindest dabei helfen, sie zu bekämpfen. Den Zwang zum Kriegsdienst allerdings hält auch er für falsch. 
Es ist schwer zu differenzieren, wer aus wirklicher Überzeugung pazifistische Ansichten vertritt und wer verdeckt mit Russland sympathisiert. Auch Ilja Owtscharenkos Positionen wirken manchmal widersprüchlich. Er bewundert die ermordete Regimekritikerin Anna Politkowskaja. Und sagt gleichzeitig Dinge, die als prorussisch verstanden werden können. 
Im Februar 2015 nahm er sein erstes Video auf und lud es bei YouTube hoch. Auf der Parkbank in Gárdony spielt er es von seinem Handy ab. Darin sitzt er in einem Zimmer mit vergilbter Blümchentapete, im Hintergrund hängen Kleidungsstücke: ein Mann Ende 20 mit schwachem Schnurrbart und ernster Stimme. »Ich lehne die Mobilmachung ab und rufe alle Ukrainer auf, sich ihr zu widersetzen. (...) Ich werbe dafür, lieber ins Gefängnis zu gehen als zur Armee. Es ist unmoralisch, andere Menschen umzubringen, um unsere Frauen und Kinder zu schützen. Es ist grausam und dumm, Menschen zu töten, um Gebiete zu verteidigen.« 
Fast 180.000 Menschen sahen damals diesen Clip. Danach hätten ihn Männer des Geheimdienstes SBU befragt, erzählt Owtscharenko. Sie hätten ihn aufgefordert, ein neues Video aufzunehmen, in dem er seine Ansichten widerruft. »Das habe ich abgelehnt.« Sie hätten sein Equipment konfisziert, gesagt, sie würden ihn wieder anrufen und er solle das Land nicht verlassen. Dann hätten sie ihn gehen lassen. Er habe von da an darauf gewartet, dass er verhaftet werden würde, aber bis zu seiner Ausreise nach Ungarn kurz vor Kriegsbeginn sei nichts geschehen. Das ist Owtscharenkos Version. 
Sie wird von seinem Freund Iwan Dryha bestätigt. Der lebt noch immer in der Ukraine und hat mit Owtscharenko zusammen studiert. Am Telefon erzählt Dryha, ein Mann vom SBU habe ihn 2015 besucht und über Ilja ausgefragt. Der Mann habe wissen wollen, ob sein Freund tatsächlich von seinen pazifistischen Positionen überzeugt sei, ob er eine Gefahr für die Ukraine darstelle und ob er gar von Russland bezahlt werde. Die beiden letzteren Punkte verneinte Dryha. Den ersten nicht. 
Iwan Dryha hat Owtscharenkos Entwicklung zum Pazifisten an der Universität persönlich miterlebt. Politisch stimmen sie nicht überein. »Ich denke nicht, dass es Frieden mit Russland gibt ohne Widerstand«, sagt Dryha. Ihre Freundschaft sei nicht in Gefahr, aber Owtscharenkos TikTok-Video nach Beginn der russischen Invasion konnte er sich nicht ansehen. Er hätte es nicht ertragen. Alle zwei Wochen telefonieren die beiden Freunde miteinander. »Wir können momentan nicht viel diskutieren. Unsere Heimat wird zerstört.« Dryha hört jeden Tag den Luftalarm, die Raketen fliegen über die Stadt, in der auch Ilja Owtscharenko lange wohnte, die Front ist in der Nähe. Iwan und Ilja leben gerade in zwei sehr unterschiedlichen Realitäten. Dryha sagt, er warte jeden Tag auf seine Einberufung. 
Im Grundgesetz der Bundesrepublik steht der Satz: »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« Er ist auch eine Konsequenz aus den Erfahrungen während der Nazi-Zeit, als 30.000 deutsche Männer wegen Verweigerung oder Fahnenflucht zum Tode verurteilt wurden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 2011 fest: Es gibt ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Auch die EU-Grundrechtecharta, die für alle EU-Mitgliedsstaaten verbindlich ist, erkennt »das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen« an. Dieses Grundrecht gilt in Friedens- wie in Kriegszeiten. Das bedeutet: Als eine Voraussetzung für den Eintritt in die EU, den die Ukraine anstrebt, müsste das Land Menschen wie Owtscharenko akzeptieren. Wenngleich das angesichts einer existenziellen Bedrohung schmerzhaft sein mag. 
Auf der Parkbank in Gárdony klingelt Owtscharenkos Handy. Seine Mutter. Sie lebt inzwischen wieder in der Ukraine. »Ist alles okay?«, fragt Owtscharenko und bittet sie, später noch mal anzurufen. 
Dann sagt er, auch zu ihr seien die Sicherheitsbehörden in diesem Frühjahr nach seinem TikTok-Video gekommen und hätten sie nach ihm gefragt. Danach habe sie ihn weinend in Ungarn angerufen und ihn gebeten, seine Meinung zu ändern. Sie will nicht, dass ihr Sohn in den Krieg zieht. Aber sie will auch nicht, dass er sich für seine Ideale opfert. »Bei diesen existenziellen Fragen gibt es für mich keine Kompromisse«, sagt er und lächelt. Owtscharenko lächelt viel, auch wenn nichts lustig ist. Es wirkt ein bisschen unsicher. Gern würde man mit seiner Mutter sprechen, aber sie will nicht reden. 
Owtscharenko weiß, wofür manche Ukrainer ihn halten. Er kann die Kommentare unter seinen Videos lesen: »Hau ab, solange du noch Zeit hast!« Oder: »Ich denke, Freundchen, man ist schon zu dir unterwegs!« Andere schreiben: »Die Heimat zu verteidigen ist die heilige Bürgerpflicht«, oder schlicht: »Ruhm der Ukraine!« 
Sosehr Owtscharenko aggressive Positionen ablehnt, trifft er für sich selbst durchaus radikale Entscheidungen. Um seine ganze Kraft der Philosophie zu widmen, wolle er auf Karriere, Familie und Kinder verzichten. Eine Freundin hat er auch nicht, das lenke nur davon ab, Antworten auf die wichtigen moralischen Fragen zu finden, sagt er. Dann lächelt er wieder. Als betrachte er sich selbst aus einer Art Distanz. Fragt man ihn nach den Verbrechen von Butscha und Irpin, ändert sich sein Verhalten nicht. »Ich versuche, das nicht emotional, sondern philosophisch zu sehen. Als Eskalationsetappen des Konfliktes.« Natürlich lehnt er auch die Lieferung schwerer Waffen aus westlichen Staaten ab. »Das lässt den Krieg noch mehr eskalieren.« 
Die Sonne geht langsam unter. Owtscharenko verlässt die Bank, läuft durch den Park in Richtung seines Wohnheimes. Unterwegs fragt er: »Würden Sie 100 Menschen töten, wenn Sie damit die gesamte Menschheit retten könnten? Oder auch nur einen?« Er beantwortet sich diese Fragen sogleich selbst: Nein. Und nein. So geht es den ganzen Weg weiter. Man ahnt, dass er solche Fragen sehr oft im Kopf durchspielt. Ein junger Mann, der geradezu süchtig danach erscheint, sein Gewissen zu ergründen. 
In Berlin ist Maksim Gaidukov an einem Mittwochmorgen im Juni unterwegs zu einem Fotoshooting. Er ist spät dran. In China musste er für jede Verspätung Strafe zahlen. Gaidukov hat nicht nur viel in Europa, sondern auch in Asien gearbeitet – China, Korea, Thailand, Japan. Er gehört zu den jungen Russen, die mit Reisen, Mode, der Meinungsvielfalt des Internets aufgewachsen sind. Die Englisch sprechen, global denken. Für Gaidukov ist es, als ob sein Land plötzlich die Schlüssel für die Zukunft weggeworfen hat. Also muss er seine Zukunft woanders suchen. 
In einer ruhigen Straße in Berlin-Tempelhof betritt Gaidukov eine Fabriketage, das Modelabel Ivy Oak hat dort ein Studio gemietet. Die PR-Frau des Unternehmens und eine Mitarbeiterin warten schon auf ihn. Sie wollen mit Gaidukov und einem weiblichen Model Aufnahmen für eine Social-Media-Kampagne machen. »Ich habe Maksim ausgesucht«, sagt die Mitarbeiterin. »Er ist ein interessanter Typ: bisschen unisex, zwischen weiblich und männlich.« In Zeiten, in denen die Geschlechter fluide sind, erscheint Gaidukov als die ideale Wahl. Sein Typ ist modern. Im Westen. 
Gaidukov wird geschminkt, Haarklammern stecken in seinem Haar. Dann verschwindet er auf die Toilette, um sich umzuziehen. Er erscheint wieder in einem langen gestreiften Hemdkleid, seine Turnschuhe behält er an. Der Fotograf stellt ihn und seine Model-Kollegin vor die Kamera. Gaidukov posiert, der Fotograf ruft »Nice!« und »Cute!«. Gaidukov lehnt sich mit dem Rücken an seine Partnerin. Die PR-Mitarbeiterin ist begeistert. »Wir müssen aufpassen, dass wir ihm nicht nur Kleider anziehen«, sagt sie. Am Ende trägt Gaidukov bei sieben verschiedenen Outfits fünfmal ein Kleid. In einer Pause sagt er: »Wenn ich in meiner Heimatstadt ein Kleid tragen würde, weiß ich nicht, was passieren würde.« 
An diesem Tag wirkt Maksim Gaidukov fast wie ein Klischee dessen, wovor die russische Propaganda ihre Landsleute stets warnt – ein junger Mann, der seine Heimat verlässt, der nicht kämpfen will, der Kleider trägt und dabei fotografiert wird. Putins größter Albtraum. 
Für einen Job wie diesen bekommt er um die 1000 Euro am Tag. Er braucht keine Sozialleistungen, kein Deutscher muss für ihn bezahlen. Das ist ihm wichtig zu betonen. 
900 Kilometer von Berlin entfernt öffnet Ilja Owtscharenko mit einem Code das Türschloss zu seinem Wohnheim, einem ehemaligen Hostel direkt am Velencer See. Gäste darf er eigentlich nicht empfangen. Aber die Rezeption ist verwaist. Owtscharenko steigt die Treppen in den ersten Stock hoch, die abgetretene Auslegware schimmert gräulich-grün, im Flur kleben zwischen den Fensterscheiben tote Insekten. Er stoppt vor Zimmer Nummer 109, die Ziffer Eins ist abgefallen und hat einen Schatten auf der Tür hinterlassen. 
Hinter der Tür stehen drei Betten dicht an dicht, nur durch Koffer und Nachttische voneinander getrennt. Owtscharenko schläft rechts an der Wand, das Landschaftsbild über seiner Liege hat er geschenkt bekommen. Gegenüber hängt eine kleine Ukraina-Flagge. Sie stammt von einem der beiden Mitbewohner. Die beiden denken nicht wie er, sagt Owtscharenko – sie streiten sich öfter mit ihm über seine pazifistischen Ansichten. Aber auch sie kehren nicht in ihre Heimat zurück, um zu kämpfen. Sie seien im Ausland, weil sie das Geld bräuchten. Der eine nenne ihn, Owtscharenko, »Separatist«. Es soll ein Scherz sein. Vielleicht. 
Er schaut zum Fenster, die Balkontür steht offen, vom See dringt Stimmengewirr herein. Zu Ungarn hat er keinen Kontakt, er lebt in Gárdony wie auf einer ukrainischen Insel. Englisch spricht er kaum, nur Russisch und Ukrainisch. In der Schule hatte er ein wenig Deutsch: »Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du ...«, rezitiert er ein Gedicht von Goethe und bricht ab. Von den Büchern, die er liest, kommt er auf seine Schwester. Sie habe ihm öfter Lektüre empfohlen, zum Beispiel ein Werk von Osho, dem indischen Begründer der Bhagwan-Bewegung. Owtscharenkos Schwester starb 2016 mit 33 an Blutkrebs. Er schaut auf seine Hände, schweigt kurz. Einen Teil des Geldes, das er in Ungarn verdient, schickt er in die Ukraine, zur Familie seiner Schwester. 
Von seinen Freunden haben sich einige freiwillig bei Kriegsbeginn zum Militär gemeldet, zwei seien an der Front, die anderen wie Iwan Dryha zu Hause in der Ukraine. Sie warteten auf ihre Einberufung. 
Owtscharenko setzt sich auf sein Bett, darunter liegt sein Laptop. Darauf verfolgt er täglich die Nachrichten. An diesem Morgen haben russische Raketen Kiew getroffen. Owtscharenko sagt, er versuche, nicht darüber nachzudenken, wie man Putin stoppen könnte. Dass seine kämpfenden Landsleute auch ein bestimmtes Gesellschaftssystem verteidigen, weiß er. Redet man länger mit ihm, steht man irgendwann vor der Frage, was aus der Gewissensfreiheit, die er für sich in Anspruch nimmt, im Fall eines russischen Sieges werden würde. Müssten Männer wie Owtscharenko dann nicht in einer verbrecherischen Angriffsarmee dienen? Soll man sich als Pazifist dem Kampf verweigern, wenn dies dazu führen kann, dass man sich in einem Staat wiederfindet, für den Krieg ein probates Mittel der Politik ist? 
Auf diese Fragen lässt sich Owtscharenko nicht wirklich ein. »Dass ich selbst vielleicht schlechter leben werde und dass das Regime Menschen töten wird, gibt mir noch lange nicht das Recht zu töten.« Die europäischen Regierungen sollten eindeutig erklären: »Entweder die Ukraine setzt sich an den Verhandlungstisch, oder sie soll für sich selbst kämpfen.« Manchmal wirkt Owtscharenkos moralischer Rigorismus auch grausam. 
Ob Maksim Gaidukov für die Ukraine kämpfen würde, wenn er an Owtscharenkos Stelle wäre? Gaidukov überlegt lange. Schließlich sagt er, er würde eher versuchen, Lebensmittel und warme Kleidung zu verteilen oder mental zu helfen. »Ich möchte nicht erfahren, wie es ist, jemand anderem das Leben zu nehmen.« Darin stimmen der junge Russe und der junge Ukrainer überein, auch wenn sie sich nie begegnet sind und sich vermutlich auch nie begegnen werden. 
Gaidukov steigt an einem Freitagmorgen Ende Juni aus der S-Bahn in Berlin-Mitte. Unter seinen Augen liegen graue Täler, vergangene Nacht war er das erste Mal in der Stadt lange aus. Und gleich hat er einen Termin bei seinem Anwalt Daniel Weber. Im ersten Stock eines Neubaus überreicht er Weber den ausgefüllten Antrag auf Erteilung eines »Aufenthaltstitels«. Das Schengen-Visum zu verlängern hat nicht geklappt. Weber hat Gaidukov nun geraten, sich um eine Aufenthaltserlaubnis zur freiberuflichen Tätigkeit zu bemühen. Die deutschen Behörden hätten einen Ermessensspielraum, sagt der Anwalt. »Wie mit Männern wie Gaidukov umgegangen werden soll, muss politisch entschieden werden.« Mit dieser Aufenthaltserlaubnis könnte Gaidukov arbeiten und reisen. 
Gaidukov erzählt dem Anwalt von seinem Traum, legal in Deutschland zu wohnen und auf die Ingenieurschule für Textilwesen zu gehen, auf der auch die Designerin Jil Sander war. Er will die Kleider nicht nur zeigen, sondern sie auch entwerfen. Aber noch immer befindet sich Gaidukov juristisch in einer Grauzone. 
»Was sage ich, falls ich auf der Straße angehalten werde?«, fragt er seinen Anwalt. 
»Du zeigst deine Meldeadresse, meine Visitenkarte und sagst, dass du mit der Einwanderungsbehörde in Kontakt bist.« 
Nach dem Termin setzt sich Gaidukov in ein Café vor dem Anwaltsbüro und raucht. Er raucht viel in diesen Tagen. Er bereut das lange Ausgehen von letzter Nacht. »Ich will keine Party. Ich habe nichts zu feiern momentan. Es herrscht Krieg.« Mit seiner Freundin, die in Russland geblieben ist, redet er ab und zu am Telefon. Vielleicht könnte er sie einmal in der Türkei treffen, wenn er in Deutschland bleiben darf. Auch mit seinen Eltern spricht er oft. Wann er sie wiedersehen wird, weiß er nicht. Manche aus seinem Umfeld in Russland denken nun, er unterstütze die »Faschisten«. Gaidukov nennt sie »brainwashed« von der russischen Propaganda. Gehirngewaschen. 
Im Café erzählt Gaidukov auch, er habe in der Nacht zuvor nicht einschlafen können. Wach habe er in seinem Zimmer gelegen und darüber nachgedacht, wie es möglich sei, dass er keine Sehnsucht nach Russland, sondern oft sogar Hass gegenüber seinem Land verspüre. »Es gibt so viel, was ich verabscheue. Russland ist meine Heimat, aber ich will nicht zurück.« Vielleicht niemals. 
Ende Juli bekommt Maksim Gaidukov die Nachricht vom Berliner Landesamt für Einwanderung: Er erhält eine Aufenthaltserlaubnis zur freiberuflichen Tätigkeit in Deutschland. Er hat es geschafft, er lebt nun legal im Land. 
Ilja Owtscharenko plant, noch bis Herbst in Ungarn zu bleiben. Er überlegt, danach nach Deutschland oder Kanada zu gehen. Er sagt, seine Mutter versuche immer noch, ihn davon zu überzeugen, seine politischen Aktivitäten aufzugeben. Ihre Tochter ist tot. Nun fürchtet sie, allein ohne Kinder in der Ukraine zu bleiben. Sie wolle die Hoffnung bewahren, dass ihr Sohn eines Tages wiederkehrt, sagt Owtscharenko. »Ich hoffe das auch.« Aber wie es sich dann tatsächlich anfühlen wird, in ein versehrtes Land zurückzukommen, wie sich Heimkehrer und Dagebliebene, Verweigerer und Kämpfer begegnen sollen, kann er sich nicht vorstellen. In gewissem Sinne haben Owtscharenko und Gaidukov beide ihre Heimat verloren.