Show Menu
True Story Award 2023

Frau Radix hat die Lösung

Im ganzen Land kündigen Pfleger und Ärztinnen, ausgelaugt und allein gelassen. Doch in den Krankenhäusern von Ulrike Radix bleiben die Leute. So könnte es überall sein.

Ulrike Radix beugt sich auf ihrem Stuhl nach vorne und sieht die junge Frau ihr gegenüber genau an: "Wir halten fest: Heute willst du dich nicht umbringen?" Kopfschütteln. "Dann machen wir jetzt einen Plan."

Ulrike Radix steht auf, geht zur Wand und notiert "Terminservice" auf dem Whiteboard an der Wand. "Wann rufst du da an?", fragt sie.
"Heute", sagt die junge Frau leise. "Heute", notiert Ulrike Radix.

Die junge Frau, die in diesem Text Alice heißen wird, ist Pflegeschülerin, in einem Jahr will sie ihr Examen als Krankenpflegerin machen. Um kurz nach elf gestern Abend rief sie Ulrike Radix an. Alles ist zu viel, alles soll vorbei sein. Ob sie Suizidabsichten habe, fragte Ulrike Radix am Telefon. Wenn ich dir das sage, weist du mich ein, war die Antwort. Dafür hat Ulrike Radix ihr dieses Treffen abgerungen.

Jetzt sitzt Alice an dem kleinen Tisch, auf dem eine Kirschblütentischdecke liegt und ein Glas mit Merci-Schokolade steht. Ihre Finger nesteln an einem benutzten Taschentuch, sie schnieft leise, während Ulrike Radix den Plan notiert. Beim Terminservice der kassenärztlichen Vereinigung anrufen und ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten vereinbaren. Zum Neurologen gehen und ein Rezept für Antidepressiva holen. Mit der Berufsschule sprechen, weil sie im Theorieunterricht zu oft gefehlt hat.

"Darf ich noch arbeiten, wenn ich mich so fühle?", fragt Alice zögerlich.
"Natürlich. Du bist nicht die Erste", sagt Ulrike Radix. Dann setzt sie sich wieder vor sie. "Wenn du tot bist, gibt es kein anderes Leben. Die Schritte machen wir auf jeden Fall. Deal?" Sie geben sich die Hand.

"Ich habe solche Angst, mich krank zu melden", sagt Alice. "Aber ich halte das nicht aus. Diese Station. Die Patienten schellen, damit ich das Fenster öffne. Damit ich ihnen Wasser bringe. Ich bin doch kein Dienstmädchen. Aber ich kann die Kollegen doch auch nicht alleine lassen."
Ulrike Radix greift den Telefonhörer und wählt eine Nummer. "Radix! Alice müsste gleich zur Schicht erscheinen. Sie kommt heute einmal nicht … Ja, schwer belastet … Ja, wirklich nicht gut … Hm … Heißt das, du kriegst keinen zweiten?"
Sie blickt auf und schaut Alice an: "Du musst."
"Alles gut", sagt Alice.
"Ok. Sie kommt gleich." Dann legt Ulrike Radix auf. "Sie sagt, sie hat keinen."
"Alles gut", sagt Alice noch mal.
"Wie geht es dir jetzt?"
"Kaputt."

Alice wirft das Taschentuch in den Müll, blinzelt die letzten Tränen weg und greift sich ihre Handtasche. Zusammen fahren sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, am Raucherpilz neben der Kantine trennen sie sich. Es ist kurz vor 13 Uhr, Alices Spätschicht beginnt gleich. Wenig später, beim Mittagessen bekommt Ulrike Radix eine SMS: Ich habe jemanden. Die Stationsleitung kann Alice doch nach Hause schicken.

Ulrike Radix ist Krankenhausseelsorgerin im evangelischen Krankenhaus in Oberhausen und in Mülheim, acht Kilometer entfernt. 1.100 Betten insgesamt, 1.800 Pflegekräfte. Als sie vor sechs Jahren begann im Krankenhaus zu arbeiten, sollte sie sich vor allem um die Patienten und deren Angehörige kümmern. Sie saß neben der Mutter, deren Kind kurz nach der Geburt auf der Frühchenstation starb oder neben der Frau, die erfuhr, dass die Reanimation ihres 16-jährigen Sohnes nicht erfolgreich war. Sie wartete vor Schockräumen und in der Notaufnahme, sie hörte letzte Worte und sprach letzten Segen. Sie öffnete Fenster, damit die Seele entweichen kann, so nennt sie es. Sie half, wo Ärztinnen und Pfleger nicht helfen konnten. Und merkte, dass man sich in einem Krankenhaus nicht bloß um die Patienten und deren Angehörige kümmern muss, sondern auch um die Menschen, die dort arbeiten.

Krankenhäuser sind eine jener Institutionen, mit denen man nicht in Kontakt kommen will. So wie die Polizei oder die Feuerwehr. Beruhigend, dass es sie gibt, beunruhigend, wenn man sie braucht. Niemand möchte wissen, dass die OP-Krankenschwester, die bei der eigenen Operation dabei ist, seit zehn Stunden steht oder dass die Ärztin aus der Notaufnahme diese Woche schon 50 Stunden gearbeitet hat. Niemand möchte wissen, dass eine einzige Pflegekraft nachts allein für 22 Patienten auf der kardiologischen Station verantwortlich ist.

Eine deutsche Pflegekraft ist laut Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse im Schnitt 22 Tage pro Jahr krankgeschrieben, das sind sechs Tage mehr als in allen anderen Berufen. Der Grund für die meisten Fehltage: eine depressive Episode. Ärzte erkranken viermal so häufig an einer posttraumatischen Belastungsstörung wie der Rest der Bevölkerung. All diese Zahlen waren lange vor der Pandemie bekannt. Auch, dass Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen das Krankenhaus im Schnitt nach zwölf Jahren verlassen. Sie wechseln nicht den Arbeitgeber, sie wechseln den Beruf.

Kaum jemand scheint sich darüber zu wundern. Es wird angenommen, dass man das so hinnehmen muss: ein harter Job, ein hoher Verschleiß. Da kann man nichts machen. Und dann die Pandemie. Nach der Infektionswelle kommt die Kündigungswelle. 5.000 Intensivbetten gibt es heute weniger als im Oktober 2020. Die Betten müssen gesperrt werden, weil die Intensivpflegekräfte fehlen. Allein nach der ersten Welle kündigten laut Bundesagentur für Arbeit über 5.000 Krankenpfleger. Jede dritte Pflegekraft denkt darüber nach, den Job zu wechseln. Alle verstehen das.

Aber kaum jemand versteht: Das hätte nicht passieren müssen.

Auch in den Krankenhäusern, in denen Ulrike Radix arbeitet, fehlen Pflegekräfte. Mehr braucht man immer. Auch hier wurden über 1.000 Patienten mit Covid-19 behandelt. Auch hier war die Belastung höher als je zuvor. Doch es gibt einen Unterschied: Die Kündigungen in den beiden Krankenhäusern sind so gering, dass sie kaum der Rede wert sind. Mehr noch: In den Krankenhäusern von Ulrike Radix arbeiten inzwischen mehr Pflegekräfte als vor der Pandemie.

Es gibt Berufe, in denen passieren traumatische Dinge oft. Lokführer, die in ihrer Laufbahn zwei bis drei Suizide erleben. Soldaten, die in den Krieg ziehen. Polizistinnen, die zu Kindesmissbrauch ermitteln und Feuerwehrleute, die Brandtote bergen. Kaum jemand will wissen, dass solche Dinge auch im Krankenhaus passieren. Ärztinnen, die einen toten Säugling in den Händen halten, Krankenpfleger, die einen Patienten finden, der sich im Bad erhängt hat. Triage. All das gehört dazu und nichts davon ist normal. Berufsrisiko posttraumatische Belastungsstörung.

Heute haben Zoll und GSG 9 eigene Teams, die sich nach traumatischen Einsätzen um die Kollegen kümmern. Nahezu jede Berufsfeuerwehr hat solche Teams, Rettungsdienste auch und seit elf Jahren gibt es auch bei der Bundeswehr einen Beauftragten für posttraumatische Belastungsstörungen. Doch im Krankenhaus gab es, als Ulrike Radix 2015 anfing: nichts.

Das gängigste Konzept der psychosozialen Unterstützung heißt SbE. Das steht für Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen und stammt von Oliver Gengenbach, einem Pfarrer. Nach dem Großbrand am Düsseldorfer Flughafen 1996 begann er Teams aufzubauen, die darin geschult waren, denen zu helfen, die geholfen haben: den Feuerwehrleuten, den Ersthelfern, den Polizistinnen. Psychosoziale Unterstützung nennt sich das und ist der Versuch, der Psychotherapie zuvorzukommen. Die Technik soll helfen, bevor etwas pathologisch wird.

Ulrike Radix’ Ehemann ist auch Pfarrer, er koordiniert die Notfallseelsorge in der westfälischen Kirche. Von ihm erfuhr sie von Gengenbachs Konzept. Mittlerweile hat Oliver Gengenbach über 5.500 Menschen ausgebildet und mehr als 100 Teams, die ihren direkten Kollegen helfen, die aber auch zu Einsätzen gerufen werden können. Das Problem: Diese Teams sind für den Einsatz geschult, nicht für das Krankenhaus. Also machte Ulrike Radix die Ausbildung selbst und bildete ein eigenes Team: Psychotherapeutinnen, die Leiterin der Personalentwicklung, der Stationsleiter der Intensivstation, Ärzte, Pfleger. 20 Menschen arbeiten mit Ulrike Radix daran den eigenen Kollegen zu helfen. Es gibt psychologische Profis, so wie sie, und Peers, Ebenbürtige, denen man nicht erklären muss, was "frustran" bedeutet und die die Erschöpfung kennen, wenn eine Reanimation genau das war: vergeblich.

Ulrike Radix führt eine Liste mit allen Einsätzen nach traumatischen Ereignissen, die es in ihren Krankenhäusern gab:
2017: 5 Einsätze
2018: 3 Einsätze
2019: 8 Einsätze
2020: 10 Einsätze
2021: 18 Einsätze

Sie dokumentiert auch den Einsatzgrund. Angstzustände bei Covid-Patienten-Behandlung. Mitarbeiter verstirbt. Suizid eines Patienten in der Nacht. Angstzustände. Traumatische Geburt. Mitarbeiterin wird gewalttätig durch Covid-Belastung. Zweijähriger verstirbt plötzlich. Plötzlicher Krampfanfall eines Patienten. Plötzlicher Abort in der Zentralen Notaufnahme. Frustrane Reanimation nach Badeunfall eines 16-Jährigen.

Mit diesen Erlebnissen, die es so oder so ähnlich in jedem Krankenhaus gibt, wurden die Menschen dort lange alleingelassen. So wie SbE gibt es noch weitere Vereine, die versuchen, psychologische Unterstützung in den Klinikalltag zu integrieren. Aber egal, wen man fragt, alle sagen: Das haben Krankenhäuser kollektiv ignoriert. Seit 2018 setzt sich die Divi, die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, dafür ein, dass Krankenhäuser psychologische Angebote für Mitarbeiter entwickeln. Da war Ulrike Radix schon ein Jahr damit beschäftigt, ein eigenes Team aufzubauen. Experten schätzen: Heute haben immer noch weniger als zehn Prozent der Krankenhäuser irgendein psychosoziales Angebot für ihre Mitarbeiter.

Im Herbst 2021 ist Ulrike Radix auf dem Weg zum 19. Einsatz des Jahres. Um kurz vor zehn am Morgen parkt sie ihr Auto, kramt in ihrer großen braunen Ledertasche nach ihrer Zigarettenpackung und raucht im Gehen. Die halbe Zigarette drückt sie vor dem Eingang des Krankenhauses in den Aschenbecher.

Vor ihrem Büro wartet Claudia auf sie. Sie ist der heutige Notfall. Auch sie heißt in Wirklichkeit anders, zu ihrem Schutz sind einige Details des Gesprächs verändert. Claudias Hals ist steif. Eigentlich ihr ganzer Rücken. Lachen tut weh, husten auch. Ulrike Radix setzt sich ihr gegenüber an den Tisch und sieht sie an.
"Wir führen jetzt ein strukturiertes Entlastungsgespräch. Was hast du gemacht, bevor es losging?", fragt sie.
"Geschlafen", sagt Claudia. Die Tränen stehen ihr in den Augen, ihre Stimme ist rau und müde.
"Wann stehst du auf?"
"Zwischen 14 und 15 Uhr. Dann habe ich Essen gemacht."
"Und was hast du gemacht, als es vorbei war?"
"Beschlossen, dass mein Arm so wehtut, dass ich doch in die Ambulanz gehe. Und dann habe ich weitergearbeitet."

Ulrike Radix will vor einem solchen Gespräch so wenig wie möglich über den Vorfall selbst wissen. Das helfe ihr, strukturiert zu fragen. Vor zwei Tagen hat Claudia sie angerufen und gesagt, dass sie ein Gespräch braucht. Auch jetzt weiß Ulrike Radix nicht viel mehr, als dass es einen Übergriff während der Nachtschicht gab.

"Dann sprechen wir jetzt über den Vorfall. Erzähl mir genau was passiert ist."
"Ich habe meinen Rundgang gemacht – "
"Wie viel Uhr war es da?"
"Zehn, halb elf. Nach dem Rundgang wollte ich mit Peter –"
"Ihr hattet zusammen Schicht?"
"Genau. Ich habe ein Brüllen gehört. Ein Mann hat gebrüllt. Ich bin in das Zimmer rein, aus dem das Brüllen kam."
"Einbettzimmer?"
"Zweibettzimmer. Und als ich reinkomme, liegt ein Mann auf dem Boden. Einer sitzt auf dem Bett. Blut überall." Mit ihrer Tempopackung zeigt Claudia, wie die Betten standen und wo der Mann lag.

Ulrike Radix unterbricht deswegen so oft, damit Claudia nichts überspringt. Denn nach einem traumatischen Erlebnis erinnern sich die meisten Menschen nur noch an Bruchstücke: das grüne Auto von links, das Geräusch der Explosion, Blut überall. Wer sich ein ganzes Bild verschafft, verhindert Flashbacks und hilft sich selbst, das Geschehene richtig einschätzen zu können.

"Das war wie ein Tatort. Der auf dem Boden guckte so ängstlich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass der andere Mann nach dem Mülleimer greift und ich höre, dass da Glas drin ist. Der wollte damit auf den einschlagen! Ich habe mich dazwischen gestellt und ihm den Mülleimer abgenommen, dann hat er auf mich eingeschlagen. Ich habe seine Hände festgehalten, dann hat er versucht mich zu beißen. Ich habe den Fehler gemacht, eine Hand loszulassen und dann trümmert der auf meinen Nacken und Rücken ein. Peter kommt rein. Wir drücken ihn runter. Er setzt sich auf den Patienten. Ich will vorbei, was aufziehen zur Beruhigung, da tritt er mich und ich knalle gegen die Wand, gegen den Desinfektionsspender."

"Gegen die Hüfte?"
"Ich weiß es gar nicht mehr. Mir ist erst nach Stunden eingefallen, dass ich überhaupt gegen die Wand geknallt bin."
"Das ist ganz normal."
"Ich bin dann raus und hab die Springer angerufen. Hab gesagt: Ich brauche Hilfe. Jetzt! Drei sind gekommen, der blutende Mann lag immer noch am Boden und den anderen haben sie in Bett 1 festgehalten. Wir haben den Mann am Boden dann schnell rausgezogen. Und um ein Uhr saß ich wieder an meinem Schreibtisch." Steif sitzt Claudia da. Tränen fließen über ihre Wangen, während sie redet.
"Von all den Dingen, woran erinnerst du dich noch in 20 Jahren?"
"Der Mülleimer. Als er den hochhob und ich eine Sekunde hatte, den anderen zu schützen. Das ist doch mein Job, Patienten beschützen." Sie schluchzt. "Ich habe so ein schlechtes Gewissen. Dem Patienten geht es sicher schlechter als mir und ich bin krankgeschrieben und muss erklären, was los ist. Ich erinnere mich so sehr an den Patienten und wie leid er mir tat."
"Hast du Dinge an dir festgestellt, die du nicht kennst?"
"Ich schlafe schlecht, bin nicht ausgeruht. Ich bin so drüber. So aggressiv."
"Was du hast, ist eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis", sagt Ulrike Radix.
"Aber andere kippen doch auch nicht so weg."
"Was du hast, ist normal."
"Aber ich habe doch sonst nie Probleme. Warum jetzt?"
"Es war deine siebte Nachtschicht. Manchmal sind wir mehr und manchmal weniger belastbar."

Seit Ulrike Radix sich um die Psyche der Mitarbeiter kümmert, muss sie vor allem überzeugen. Die Ärzte, die glauben, nur der Körper könne sich verletzen. Die Vorgesetzten, die meinen, das ihr Team das nicht brauche. Und nach fünf Jahren immer noch die Stationsleitungen, dass sie doch bitte Bescheid sagen sollen, wenn auf ihren Stationen etwas Ungewöhnliches geschieht.

Der Übergriff, von dem Claudia heute berichtet, ist zwei Wochen her. Erst vor zwei Tagen hat sie angerufen und gesagt, dass sie vielleicht ein Krisengespräch brauche. Eine Kollegin hatte ihr geraten, sich doch mal bei Ulrike Radix zu melden. Und wenn die Menschen dann vor ihr sitzen, muss sie die noch überzeugen, dass sie sich so fühlen dürfen. Dass es okay ist, auch mal auf sich zu achten. Und das ist vielleicht das Schwerste bei Menschen, die arbeiten, um anderen zu helfen.

"Was kannst du tun, damit es dir besser geht?", fragt Ulrike Radix Claudia.
"Mama einladen."
"Was hindert dich?"
"Mein schlechtes Gewissen." Claudia ringt nach Luft. "Ich wollte nicht herkommen. Ich will nicht ins Krankenhaus und erklären, warum mir was wehtut. Die anderen finden das doch nicht so schlimm."
"Draußen wäre das ein Überfall", sagt Ulrike Radix ruhig. "Der Mann würde angeklagt werden."
Claudia sagt: "Hier nicht. Das ist unser Berufsrisiko." Und dann: "Man hätte uns schützen können, wenn er allein gelegen hätte. Es war bekannt, dass er aggressiv ist. Wo ist die Krankenhauspolizei? Warum ist es egal, was uns Schwestern passiert? Schlechtes Gewissen wird uns doch beigebracht."
"Du hast jedes Recht, dich so zu fühlen", sagt Ulrike Radix und die Stunde, die sie für Claudia hat, ist rum.

Ulrike Radix’ Arbeit war bis zur Pandemie so etwas wie die erste Hilfe für die Psyche der Belegschaft. Sie und ihr Team kamen, wenn etwas besonders Schlimmes passiert war. Sie halfen, das Geschehene zu ordnen und damit abzuschließen. Aber seit fast zwei Jahren herrscht eine Situation, die Ulrike Radix Dauertrauma nennt.

"Wir hatten Tage, da wussten wir, dass die Schutzkleidung nur noch bis morgen reichen wird", sagt Ulrike Radix über die erste Corona-Welle. Sie erzählt, wie der Krisenstab des Krankenhauses, dem sie vorsitzt, zusammenkam, um zu planen, wo sie Schlafcontainer aufstellen können und wo sie die Leichen lagern werden. Im Krankenhaus war plötzlich allen klar, dass sie sich noch mehr um die Psyche derer, die hier arbeiten, kümmern müssen.

Dank Ulrike Radix waren sie vorbereitet.

In den ersten Wochen der Pandemie schalten sie als Erstes ein Krisentelefon. Sieben Tage die Woche, acht Stunden am Tag hört sich jemand aus dem 20-köpfigen Team an, was die Mitarbeiter gerade belastet. Bis heute steht die Nummer auf der Startseite des Intranets und hängt in allen Stationen aus. Die Mitarbeiter hören, dass ihre Kollegen einsam sind, weil die Freunde jetzt Menschen aus dem Krankenhaus meiden. Sie hören, dass einer sein Kind als Einziges noch in den Kindergarten bringen muss. Sie hören, dass jemand seine kranke Mutter zu Hause pflegt und Angst hat, sie anzustecken.

Sie können nicht immer etwas tun. Aber als sie hören, dass manche Assistenzärzte niemanden haben, der für sie einkauft, wenn sie in Quarantäne müssen, bieten sie einen Einkaufsservice an. Als sie hören, dass es ihre Kollegen nicht mal mehr in den Supermarkt schaffen, sorgen sie dafür, dass man in der Kantine einmal die Woche jetzt auch frisches Brot kaufen kann.

Ulrike Radix geht zur Klinikleitung und sagt: Sie müssen den Ärzten und Pflegern erklären, was gerade in unseren Häusern passiert. Also schreibt der Geschäftsführer E-Mails und berichtet, wie die Lage gerade ist, bis heute. Wie viele Covid-Patienten sie haben, wie viele freie Betten, wie sie mit der Beschaffung von Schutzkleidung vorankommen oder dass es an Weihnachten für alle Tests geben wird, damit sie sicher zu ihren Familien können. "Sicherheit", sagt Ulrike Radix, "hilft gegen Trauma. Nur wenn wir wissen, was auf uns zukommt, können wir es bewältigen."

Sie weiß, dass es nicht reichen wird, eine Telefonnummer aufzuhängen. Als sie mit ihrer Arbeit anfing, sagte ein leitender Arzt zu ihr: Wer so etwas braucht, ist falsch in diesem Job. Menschen, die so denken, kommen nicht zu Ulrike Radix und fragen nach einem Gespräch. Sie wählen auch nicht die anonyme Krisennummer. Sie zwingen sich selbst über ihre Grenzen, bis es zu spät ist. Wenn Ulrike Radix und ihr Team die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses möglichst gut durch die Pandemie bringen wollen, dann braucht es etwas, das alle mitmachen. Etwas Einfaches, aber Wirksames.

Deswegen entwickelt sie, gemeinsam mit Oliver Gengenbach, ein Ritual, das in ihren Krankenhäusern "Psychosozialer Jour fixe" heißt. Nach jeder Schicht kommt eine Station für 15 Minuten zusammen und spricht über das Vergangene. In der Arbeitszeit, das hat Ulrike Radix erkämpft.

Im März 2021, als die Pandemie ins zweite Jahr geht und Deutschland im ewigen Lockdown ist, veröffentlicht das Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz ein PDF: Covid-19: Psychosoziale Hilfen für Krankenhauspersonal. Dort empfehlen sie drei Angebote: Das bundesweite Krisentelefon des Münchener Vereins PSU-Akut und das der Gesellschaft für Notfallmedizin. Und den Psychosozialen Jour fixe aus Ulrike Radix’ Krankenhäusern.

Das Amt rät in diesem PDF dazu, psychosoziale Unterstützung in Zukunft fest im Klinikalltag zu verankern und schreibt: "Die Krise zeigt: Organisationen, die entsprechende Strukturen bereits vorher aufgebaut hatten, sind jetzt am widerstandsfähigsten." Man kann es noch deutlicher ausdrücken: Gäbe es in jedem Krankenhaus ein Team wie das von Ulrike Radix, wäre die Situation auf den Stationen eine deutlich bessere.

Alle verstehen, dass die Menschen in den Krankenhäusern nicht mehr können. Kaum jemand versteht: Die, die in der Pandemie gegangen sind, holt man nicht mit Geld zurück.

Ulrike Radix sagt: "Für meine Arbeit war Covid positiv." Die Pandemie hat alle im Krankenhaus an ihre Grenzen gezwungen und darüber hinaus. Aber sie hat ihnen auch gezeigt, dass sie überhaupt Grenzen haben. Dass sie nicht jeden Tag arbeiten gehen können, bis sie irgendwann gar nichts mehr können. Die Pandemie hat gezeigt: Das hier ist nicht normal.

Im ersten Jahr der Pandemie kommen 123 Menschen zu Einzelgesprächen zu Ulrike Radix. 150 Menschen bekommen Hilfe im Team, als Station, als gemeinsame Schicht. 128 lassen sich auf den Psychosozialen Jour fixe am Ende ihres Arbeitstages ein. Insgesamt rund 400 Mitarbeiter. "Das ist richtig viel für ein Krankenhaus", sagt Ulrike Radix. "Was wir hier leisten, ist Pionierarbeit. Wir sind das ja nicht gewohnt." Mit "das" meint sie: sich um sich selbst kümmern.

Meist sind es Pflegekräfte, die sich bei ihr melden. "Ärzte kommen eher heimlich", sagt sie. "Oder rücken mit der Sprache heraus, wenn ich bei ihnen vorbeigehe." Deswegen macht auch sie Spätschichten. Wenn es ruhiger ist, läuft sie über die Stationen, hilft Schutzkleidung zu falten oder Medikamente zu verräumen oder sie bietet eine Zigarette an. Manchmal beginnt jemand zu reden.

Eigentlich wollte Ulrike Radix Pfarrerin werden. Sie studierte evangelische Theologie, bis die Kirche ihr sagte, dass sie keine Pfarrerin werden kann, weil sie chronisch krank ist. Seit ihrem siebten Lebensjahr hat sie Rheuma, heute ist sie 56 Jahre alt. Als sie jung war, saß sie eine Zeit im Rollstuhl, bis heute hat sie so starke Schmerzen, dass sie es manchmal nicht bemerkt, wenn sie sich stößt oder in den Finger schneidet. Bald bekommt sie ein neues Knie, bis es so weit ist, schwankt sie leicht, wenn sie Treppen steigt.

Sie ist keine Frau, die viel lächelt. Stattdessen blickt sie die Menschen, die zu ihr kommen, durch ihre Brille mit dem goldenen Rahmen fest an. Manchmal ist der Blick streng, wie der einer Mutter, die herausfinden will, ob das Kind ihr einen Bären aufbindet. Manchmal stark, wie der einer Freundin, die zeigen will: Egal, was du mir erzählst, nichts kann mich erschüttern. Manchmal ist ihr Blick analytisch, wie der einer Statikerin, die Decken und Balken prüft und notiert, wie schwer sie noch tragen.

Ihren Abschluss in Theologie machte sie trotzdem und ging in eine Unternehmensberatung für Non-Profit-Organisationen. Es ging in ihrer Arbeit nicht um Gewinnmaximierung, sondern um Fragen wie: Wie geht evangelische Pflege? Was ist eine gute Corporate Identity für einen gemeinnützigen Verein? Als ihr Sohn auf die Welt kam, verließ sie das Unternehmen. Es folgten zehn Jahre als selbstständige Beraterin, bis sie zusammenbrach. Burn-out, Depressionen, Scheidung. Zwei Jahre arbeitete sie gar nicht. Dann in einer Gemeinde, bis man ihr eine Schwangerschaftsvertretung als Krankenhausseelsorgerin anbot.

Als sie 2015 im Krankenhaus beginnt, weiß sie, was Leiden bedeutet. Und sie weiß, dass es auf Dauer wenig nützt, wenn man sich darin suhlt. Aber sie weiß auch: Wenn man so tut, als gäbe es im Leben keine Lasten, dann begraben sie einen irgendwann.

Im zweiten pandemischen Sommer, als die Impfungen mehr werden und die Zahlen sinken, ist auch in Oberhausen und Mülheim so etwas wie Alltag zurück. Das Krisentelefon existiert noch, aber nur noch Ulrike Radix nimmt die Anrufe an. Es sind weniger geworden. Auch den psychosozialen Jour fixe, die Runden am Schichtende, gibt es weiterhin, bloß nicht mehr jeden Tag.
Nach der Frühschicht ruft Ulrike Radix eine Station zusammen. 13 Pflegekräfte in blauen und weißen Hemden drängen sich in einem Raum. Ulrike Radix sitzt zurückgelehnt, sie scherzt mit einem jungen Pfleger, bis es losgeht. Als alle da sind, sagt sie: "Ich habe euch heute zusammengerufen, weil ich gehört habe, dass die Kacke bei euch richtig am Dampfen ist."

Ulrike Radix hört oft Dinge. "Gut, dass ich dich treffe", ruft ihr ständig jemand entgegen. Dann erzählt man ihr, während sie raucht, dass ein Pflegeschüler zum ersten Mal jemanden sterben sah und das nicht gut aufgenommen hat. Dann erzählt man ihr, während sie an der Kaffeemaschine wartet, dass eine Kollegin letzte Woche weinend in der Teeküche saß. Oder man erzählt ihr, dass die neu zusammengelegte Station mal einen Psychosozialen Jour fixe gebrauchen kann.

Jetzt blickt sie in die Runde und fragt: "Was war bei euch heute richtig gut?"
Alle müssen antworten. Ich bin zufrieden, das reicht. Ich habe alles erledigen können. Die Besetzung war gut. Ein Patient hat mich gelobt. Wir haben gut zusammengearbeitet. Ich bin froh, dass Mitarbeiter eingesprungen sind.

"Und gab es etwas, dass heute eine Beule hinterlässt? Etwas, das euch belastet hat?"
Man kann den Leuten nicht immer so gerecht werden, wie man gern würde. Es gab eine etwas speziellere Patientin. Im Dienstzimmer war es heute extrem laut. Mir hat das Miteinander gefehlt, ich habe den ganzen Tag nur Tabletten gestellt. Der Dienstplan macht mir Sorgen, die Spätschicht ist eingebrochen.

"Und was könnt ihr jetzt nach der Schicht tun, das euch guttut?"
Einer will mit seiner acht Wochen alten Tochter spazieren gehen. Eine macht Mittagsschlaf. Eine geht reiten und eine zum Taekwondo. Eine will shoppen gehen.
"Achte auf dich, dass es nicht zu laut ist", sagt Ulrike Radix zur letzten Frau. "Entlastung passiert im Gegensatz. Wenn ihr den ganzen Tag an den piependen Maschinen standet, wird euch Ruhe helfen. Wenn es einen Toten gab, dann geht doch mal auf die Kinderstation."

Draußen zündet sich Ulrike Radix eine Zigarette an und sagt: "Einfach, oder?" 20 Minuten dauert ein solches Treffen höchstens, die drei Fragen sind immer die gleichen. "Es muss so einfach sein, dass es wirklich jeder anwenden kann." Der Leitfaden ist im Internet für jeden öffentlich einsehbar. Eine Ulrike Radix, die Stationen überzeugt und die Runden leitet, bis sie es selbst können, gibt es nur hier.

"Ich frage bewusst zuerst nach etwas Gutem. Auch wenn sie suchen müssen, irgendwas finden sie immer. Und dann relativiert sich das Schlechte, das an dem Tag passiert ist." Ein Trick, könnte man sagen. "Perspektivwechsel", sagt Ulrike Radix. "Ich kann die Strukturen nicht verändern, aber den Blickwinkel."

Ulrike Radix ist keine gute Fee. Auch ihre Krankenhäuser haben wirtschaftliche Interessen. Aber als sie zum Vorstand ging, um ihm vorzurechnen, dass wochenlang krankgeschriebene Mitarbeiter teurer sind als psychologische Prävention, sagte der zu ihr: "Die Zahlen interessieren mich nicht. Was Sie machen wollen, ist sinnvoll." Radix' Arbeit ist an die Personalentwicklung angebunden. Schon jetzt fehlen in Deutschland gut 200.000 Pflegekräfte. Was sie mit ihrem Team tut, soll die, die schon da sind, halten, und andere bewegen, zu kommen. Oder, wie Ulrike Radix sagt: "Wir müssen gut auf unsere Leute aufpassen."

An einem Donnerstag im Spätsommer fährt Ulrike Radix von Mülheim nach Oberhausen. Auf dem Heck ihres dunkelroten Nissans klebt ein Sticker: I love my job. Sie kann nichts gegen überfüllte Stationen tun, nichts gegen zu wenig Geld oder Patienten, die Krankenpflegerinnen angreifen. Sie hilft dabei, es auszuhalten. "Ich halte mit meiner Arbeit ein todkrankes System am Laufen. Natürlich frage ich mich manchmal, ob es nicht besser wäre, wenn das ganze System zusammenbricht. Aber was dann?" Wenn Lokführer streiken, kommen Menschen nicht zur Arbeit oder in den Urlaub. Wenn Pflegekräfte und Ärzte ihre Arbeit niederlegen, sterben Menschen.

Bald bekommt Ulrike Radix einen Dienstwagen. "Mit großem Sicherheitspaket." Das Auto erkennt dann, wenn sie müde ist, warnt sie vor Sekundenschlaf. Das braucht sie, wenn sie nach zehn Stunden im Krankenhaus noch 40 Kilometer nach Hause fährt. Oder wenn sie nachts ins Krankenhaus gerufen wird. In ihrem Büro steht ein ausklappbarer Sessel, wenn sie es gar nicht nach Hause schafft. Ihr Handy ist immer an. "Es stresst mich mehr, zu wissen, dass mich jetzt keiner erreicht, als das Telefon einfach anzulassen", sagt sie. Sie weiß, sie wird nur angerufen, wenn es wirklich wichtig ist. Allerdings ist es das oft.

Gestern hat Piet sie angerufen. Er brauche dringend einen Termin, hat er ihr am Telefon gesagt. "Sehr belastet, wirklich sehr belastet", sagt Ulrike Radix auf dem Weg zu ihm. Auch Piet heißt eigentlich anders.

Die Gespräche, die sie führt, sind streng vertraulich. Kein Kollege erfährt davon, keine Chefin. Auch ihr Chef, der Vorstand des Trägers, will nicht wissen, was sie bespricht oder was sie den Menschen rät. Sie hat keine vorgegebenen Ziele, wie etwa zehn Kollegen von der Kündigung abzuhalten oder 100 davon, sich krankzumelden. "Ich bin hoch loyal. Aber ich brauche moralische und ethische Freiheit", sagt sie. Manchmal bedeutet diese Freiheit auch, jemanden nach Hause zu schicken.

Piet wartet am Raucherpilz auf sie. Sie kennen sich schon, weil Ulrike Radix die Pflegeschüler im Fach "Trauer, Tod und Sterben" unterrichtet. Er hat seine Ausbildung in diesem Krankenhaus gemacht. Schon als es ihm mit dem Druck des Examens zu viel wurde, rief er sie an. Seit zwei Jahren arbeitet er nun als Krankenpfleger. Er ist auf einer jener Stationen, die während der Hochphasen der Pandemie kaum belegt waren, aber jetzt im Spätsommer dafür umso mehr.

"Ich bin eine dünne Haut", sagt Piet als er in Ulrike Radix’ Büro am Tisch mit der Kirschblütentischdecke sitzt. "Alles nervt mich, alles regt mich auf."

In der Ausbildung lernen die Pflegeschüler, wie perfekte Krankenpflege funktioniert. Sie lernen die komplexen Abläufe auf der Intensivstation, sie lernen, wie man jemanden zu zweit umbettet oder wie man einen sauberen Zugang legt. In der Realität lernt jede Pflegekraft, dass sie nichts davon einhalten kann. Zu viele Patienten, zu wenig Geräte, zu schlechte Ausstattung, zu wenig Zeit, Zeit, Zeit. Sie müssen jemanden klingeln lassen, weil sie woanders gerade nicht wegkönnen. Sie müssen feststellen, dass jemand gestürzt ist und viel zu lange alleine auf dem Boden lag. Sie müssen medizinische Maßnahmen durchführen, weil sie dem Krankenhaus Geld bringen. Sie müssen zusehen, wie jemand zu früh entlassen wird, weil das Krankenhaus sonst Strafe zahlen muss.

Was dann passiert, nennt sich "moralische Verletzung". Die Umstände zwingen die Menschen gegen ihre eigenen moralischen Werte zu handeln. Menschen, die diesen Beruf ergreifen, sind Menschen, die sich gerne kümmern, die anderen helfen wollen, die aus ideellem Antrieb heraus arbeiten, nicht aus materiellem. Pflege in Würde, die Forderung vieler Pflegekräfte an die Politik, bedeutet auch, dass die Menschen, die pflegen, noch in den Spiegel gucken können, wenn sie den Arbeitstag beenden.

Piet erlebt genau das gerade auf seiner Station. Es gab eine Dienstanweisung, die er falsch findet, aber er kann nichts dagegen tun. Er merkt, wie die Älteren mit den Schultern zucken. Kennen sie schon.

"Ich weiß ja, die anderen sind auch nur durchsetzende Kraft. Aber das geht so alles nicht." Piet redet schnell und durcheinander in Ulrike Radix’ Büro. "Es nervt mich so, dass keiner das Maul aufmacht."
"Ich kenn dich ja ein bisschen", sagt sie. "Sonst ist dein Ärger so weichgespült, aber jetzt merke ich ihn sehr. Und ich merke auch, wie hilflos du bist."
Piets Kopf wird röter, dann beginnt er plötzlich zu weinen. "Eigentlich wollte ich doch gar nicht im Krankenhaus arbeiten. Aber jetzt bin eben ich nun mal hier und wenigstens arbeite ich nicht im Lego-Store."
"Du bist richtig alle", sagt sie zu ihm. Ihr Handy klingelt, zum dritten Mal, seit Piet redet.

"Ich sage dir jetzt mal, was ich sehe, höre und fühle: ​​Ich sehe einen verzweifelten Piet. Ich höre, dass du dich total hilflos fühlst und verarscht und dass das kein Gehör findet. Und ich habe das Gefühl, dass dich das auch verletzt."
"Ich habe mir einfach etwas anderes erhofft."
"Und klar kannst du froh sein, nicht im Lego-Store zu arbeiten. Bist du aber nicht. Du bist nicht glücklich. Und wenn du am Ende kündigst, dann finde ich das zwar persönlich schade, aber dann ist das so." Piet lächelt kurz. Dann fährt sie fort: "Wenn jetzt eine Fee käme, dann wüsstest du doch sicher gar nicht – "
"Renteneintrittsalter!", ruft Piet. Sie gucken sich an, kurze Stille und dann fangen beide laut an zu lachen.

"Weißt du, was dir jetzt gut tun würde?" Piet zuckt mit den Schultern.
"Krankenschein, Kollege. Du bist nicht arbeitsfähig. Du lässt dich krankschreiben wegen Erschöpfung. Minimum zwei Wochen und dann treffen wir uns wieder."

Als er weg ist, sagt sie: "Piet war das Paradebeispiel von Verzweiflung." Sie sieht das in den letzten Wochen oft. Ihr Telefon klingelt manchmal achtmal in einer Stunde, jede Woche hat sie zwei bis drei neue Fälle. Der Ausnahmezustand macht in ihren Krankenhäusern noch eine Pause, die vierte Welle steht ihnen noch bevor, aber die Grundbelastung ist die gleiche geblieben und es gab keinen Moment, sich zu erholen. Nach diesem Treffen am Ende des Sommers sagt Ulrike Radix: "Was jetzt kommt, wird schlimmer als Covid." Die Krankmeldungen steigen, die Ängste, die Erschöpfung. Und dann auch die Inzidenzen.

Drei Monate nach dem Gespräch mit Ulrike Radix arbeitet Piet wieder. Er hat sich erst krankschreiben lassen und danach über das Krankenhausportal anonym Beschwerde eingelegt. "Er hat gemerkt, dass er doch etwas tun kann und dass es etwas bringt", sagt Ulrike Radix über ihn. Claudia ist noch krankgeschrieben. Manchmal ruft sie Ulrike Radix an und erzählt von ihrem Ärger. "Ich sage ihr dann: Du hast jedes Recht dich so zu fühlen." Alice hat einen Termin bei einem Therapeuten bekommen und sie nimmt jetzt Medikamente.

Ulrike Radix ist keine gute Fee. Sie kann nicht mehr Menschen einstellen oder mehr Geld zahlen. Sie kann nicht verhindern, dass Menschen sterben oder dass 70 Prozent aller Pflegekräfte im Job angegriffen werden. Sie kann auch nichts daran ändern, dass die Infektionszahlen steigen und dass die Stationen voll belegt sind. Aber dass sie da ist, ändert eine Menge.