Show Menu
True Story Award 2023

Mein Leben als Frau (im Reich der Mullahs)

Es geht um die persönlichen Repressionen und Denkverbote, die Parsua Bashi als Frau in mittleren Jahren seit 1979, also seitdem sie eine junge Studentin war, tagtäglich zu spüren bekam. Leider ist sie, wenngleich nicht jede Iranerin sich als Alleinstehende durchschlagen muss, kein Einzelfall in der Islamischen Republik Iran, sondern teilt ihren Alltagskampf gegen die Männerherrschaft mit all ihren Geschlechtsgenossinnen.

Das Magazin– 30. April 2021, Seite: 19

Mein Leben als Frau (im Reich der Mullahs)
Fast mein ganzes Leben lang wurde ich im Iran von Männern unterdrückt. Was hat das mit mir gemacht?

TEXT & BILD PARSUA BASHI

Ich bin mit dem mittleren Alter zufrieden. Diese Jahre meines Lebens sind für mich bislang die interessantesten. Vielleicht war ich nur in meiner Kindheit, bis ich zwölf, dreizehn wurde, ähnlich zufrieden, wie ich es heute bin. Die «asexuelle» Existenz eines Kindes vor der Pubertät ähnelt der geschlechtslosen Existenz nach den Wechseljahren, zumindest kommt es mir so vor.

Es ist die beste Zeit meines Lebens als «Mensch»: Mein weiblicher Körper steht nicht mehr im Vordergrund, in der Gefahrenzone. Das Erste, was er preisgibt, ist nicht länger mein Geschlecht. Ich atme freier. Ich bin leichter unterwegs, in der Menge, überall. Deshalb liebe ich meine grauen Haare. Die Fältchen um meine Augen. Ich mag die zwei tiefen Linien auf beiden Seiten meines Mundes. Ich mag meine Brille und meine kurzsichtigen Augen. Ich liebe meine nackten, unmanikürten Finger und schütze sie mit keiner Creme. Sie sind meine natürlichen Panzerungen.

Denn jetzt muss ich keine schweren, kalten Rüstungen und Masken mehr tragen. Jetzt schützen die Falten in meiner Haut und meine grauen Haare mein Wesen, meine Gedanken, Ideen, Überzeugungen, Gefühle und meine Kunst.

Jahrelang habe ich Ketten geschmiedet, Ring für Ring, um Rüstungen für meinen weiblichen Körper herzustellen. Viel Energie habe ich dafür aufgewendet und komplizierte Berechnungen zu ihrer Wirksamkeit angestellt: wie exakt diese für alle möglichen Situationen taugen könnten; wie sie mir auf der Strasse Schutz vor männlichen Passanten böten, damit diese mich nicht mit aufdringlichen Blicken oder Worten oder sogar Berührungen verletzen könnten. Mein Ziel war es, unnahbar zu erscheinen, ich durfte niemandes Blick streifen. Mein Gesicht musste zu einer undurchdringlichen Maske werden, zu einer kühlen Fassade der Abschreckung. Damit ich in der Schule, auf der Universität und im Arbeitskontext in meiner Weiblichkeit neutralisiert würde für die Augen männlicher Klassenkameraden und Lehrer, für die Augen der Moralwächter und -wächterinnen des iranischen Regimes. Auf alle Fälle musste ich verhindern, irgendwelche Gefühle zu offenbaren, damit ich nicht der Schamlosigkeit, etwa des Flirtens, beschuldigt würde.

Unter Verwandten und im Freundeskreis musste ich meine Alltagsrüstung mit einem Unschuldsgesicht veredeln, um den Ausdruck eines guten braven Mädchens oder einer anständigen Frau ergänzen, die von anderen Frauen akzeptiert wurde – die keine Bedrohung für deren Ehemänner und die anderen Männer ihrer Familien darstellte.

Die Männer wiederum sollten mir den Umgang mit ihren Frauen und Töchtern gestatten; das aber taten sie nur, sofern ich kein «rebellisches» Vorbild war.

Wenn ich heute, nach vielen Jahren, über die Höhen und Tiefen meines Lebens nachdenke, bin ich verblüfft über all die Schwierigkeiten, die ich im täglichen Kampf mit der Regierung und der Männergesellschaft erduldet habe – erstaunt auch darüber, dass ich mich der Rolle, die sie mir aufbürden wollten, so hartnäckig widersetzte. Über die Kluft, die sich zwischen meinem wahren Gesicht, meiner eigentlichen Existenz, und der nach aussen getragenen Maske aufgetan hatte.

Als Teenager nahm ich die diktierten Auflagen für Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft auf mich, ich hatte noch gar keinen Begriff davon. Das war die Zeit kurz nach der Iranischen Revolution, als die Gesellschaft vom Krieg zerrissen war: Die künstliche dünne Schicht der westlichen Moderne unter dem Schah schien damals wie Eis in der Hitze des Tages dahingeschmolzen zu sein.

Ich war ein Teenager, der in einer intellektuellen, kunst- und kulturliebenden Familie aufwuchs. Ich hatte keine Vorstellung von der frauenfeindlichen Wirklichkeit der iranischen Gesellschaft. Mein Leben und das meiner Familie, wie das vieler Menschen der gebildeten Mittelschicht in Teheran, fand auf einer abgelegenen, sonnigen Insel statt.

Mein Vater war Schriftsteller, Übersetzer, Journalist und Kolumnist, der regelmässig Kritiken zu Musik, Ballett und Oper schrieb, ausserdem war er Amateurmusiker und ein ehemaliger linker Aktivist. Sein politisches Engagement hatte er bereits zu Schahzeiten mit Gefängnis und dem Verlust seiner Arbeitsstelle bezahlt.

Meine Mutter war Hausfrau, interessiert an Poesie und Literatur, eine schöne, moderne Frau.

Ich war kaum dreizehn, als sich die Revolution im Iran ereignete. Alles veränderte sich. Ich hatte nicht das Glück, meine Jugend während des Schah-Regimes zu erleben und die relativen Freiheiten auszukosten, die es für Frauen damals gab. Ich genoss weder Freiheiten in der Schule, noch hatte ich Gelegenheit, freundschaftliches Miteinander mit Jungen zu üben. Später erst begriff ich, dass es auch zur Zeit des Schahs eine Geschlechterdiskriminierung gegeben hatte und dass seine Regierungszeit lediglich von einer Glasur der Modernität und Gleichheit überzogen war.

Jugend mit Scharia-Regeln
Nein, meine Kindheit und Jugend spielten sich hauptsächlich in der Islamischen Republik ab, mit ihren vielen geschlechtsspezifischen Gesetzen. Die Kleidervorschriften für Frauen inklusive ihrer speziellen Einschränkungen und Definitionen seitens der Regierung haben verhindert, dass ich einen eigenen Stil entwickelte. Die Trennung von Frauen und Männern verschloss für mich viele Türen. Die Wahl des Studien- und Berufsfeldes etwa war für uns Mädchen begrenzt. Das Schlimmste aber war, dass die Scharia-Regeln für die Beziehungen zwischen den Geschlechtern meine privaten Verhältnisse und mein persönliches Gebaren, das ich in der Kindheit noch als unabhängig vom Geschlecht erlebt hatte, in den Narrativen der Islamischen Republik transformierten: Mein Verhalten wurde für durch und durch inakzeptabel erklärt.

Alles, was ich zu Hause gelernt hatte, musste ich wegwerfen und mir neu aneignen. Was ich in der gemischten Grundschule, in meinen Kindheitsspielen mit Brüdern, Cousins und Cousinen gelernt hatte, mit Klassenkameraden und Kindern von nebenan.

Mit meinen Eltern und den beiden Brüdern fand ich mich in diesem Sturm wieder, erstaunt und ungläubig; es nahm uns den Atem. Mein Vater verlor erneut den Job und auch die Liebe zu seinem Metier; es hiess, er sei links gewesen – nicht aber ein Revolutionär der richtigen Revolution. Keine Arbeit, keine Ersparnisse – und das kurz vor fünfzig. So begann unsere familiäre Armut. Und die Verzweiflung meines bis anhin leidenschaftlichen Vaters.

Mein älterer Bruder brach die Schule ab. Die Musikschule nämlich schloss, Musik war ab sofort verboten: haram. Der Krieg begann. Und mein Bruder, neunzehn Jahre alt, musste zur Armee. Meine Mutter war nicht länger eine liebe, lebhafte Frau: Ihr erster Sohn war nun Soldat inmitten des Kriegs, er konnte jeden Moment an die Front geschickt und getötet werden. Ihr anderer Sohn war fast sechzehn und würde innerhalb der nächsten zwei Jahre eingezogen werden. Die Universitäten wurden geschlossen. Kulturrevolution. Dieser geniale Junge, den die Wissenschaft faszinierte, hatte nicht die Möglichkeit, an die Universität zu gehen und vom Militärdienst befreit zu werden. Meine Mutter wurde zu einem nervösen, sorgenvollen Geschöpf.

Also durchlebte ich meine Pubertätsrevolution zur Zeit der gesellschaftlichen Revolution mutterseelenallein. Meine Mutter war mit ihren eigenen Nöten beschäftigt. Ihre Gedanken waren meilenweit von denen ihrer Tochter entfernt.

Fortan lebte ich mein Leben gegen den Uhrzeigersinn – ich lebte mein Leben rückwärts.

Um meinen Eintritt ins Erwachsenenalter zu markieren, engagierte ich mich mit dreizehn, vierzehn Jahren politisch, anstatt mich bei dem typischen Teenagertreiben zu amüsieren. So gefährlich es auch war. In Wahrheit konnte ich überhaupt nicht abschätzen, wie gefährlich es werden konnte. Das hätte militärische Disziplin und Weitsicht vorausgesetzt. In dieser Phase meines Lebens fühlte ich mich, als wäre ich dreissig Jahre alt.

Während meines Studiums, als Grafikdesign-Studentin an der Universität Teheran, an der Fakultät für Bildende Kunst, erlebte ich zahlreiche Einschränkungen, wie zum Beispiel die Aufspaltung in Mädchen und Jungen. Zudem waren ausschliesslich jene Bücher zu Fotografie, Malerei und Skulptur zugänglich, die die Zensur genehmigt hatte. Aber am schwersten von allem waren die politischen Drohungen zu ertragen: Beim kleinsten Anzeichen von Opposition gegen die islamische kulturelle und politische Revolution, das machte man uns klar, würden wir nach dem permanenten Ausschluss von Bildung schlussendlich im Gefängnis landen.

Dann, mit dreiundzwanzig Jahren, traf ich eine falsche Entscheidung: Ich heiratete. Einen Mann, den ich nicht wirklich kannte.

Der falsche Ehemann
Dieser Mann, der auf den ersten Blick so künstlerisch und vernünftig gewirkt hatte, entpuppte sich als gewalttätig. Jahre später, in einem Gespräch mit einem Schweizer Freund über meine fatale Ehe mit diesem Mann – vor allem über das katastrophale Ende dieser Ehe, das zur Trennung von meiner fünfeinhalbjährigen Tochter führte –, stellte dieser Freund mir eine einfache Frage: «Wie konntest du als kluge Person nur solch einen Fehler machen?»

Wir hatten keine Ahnung von nichts; in der Islamischen Republik der 1980er-Jahre durften wir vor der Heirat keine Beziehung mit unserem potenziellen künftigen Partner führen. Wir durften vor der Ehe nicht miteinander reden, reisen oder die Familie des anderen kennen lernen, geschweige denn den Körper und die Seele des anderen für uns entdecken.

Aber wir hatten ja ohnehin genug damit zu tun, unsere Niedergeschlagenheit loszuwerden. Der Mann jedoch, den ich mir als Freund und Begleiter gewählt hatte, um diese Anstrengung gemeinsam zu bewältigen, war ein Opfer seiner eigenen Illusionen, emotional höchst instabil. So wurde mein Ehemann zu meinem Gefängniswärter.

Im Alter von vierundzwanzig Jahren, als ich mein Neugeborenes in den Armen hielt, fühlte ich mich wie fünfzig oder sechzig. Ich verbüsste meine Haftstrafe in einem Gefängnis namens Ehe. Mein Verbrechen bestand in der Wahl des «falschen» Mannes. Dafür verurteilte ich mich selbst, ich dachte, es sei mein Fehlverhalten, wofür ich bezahlte, nicht das irgendeines anderen.

Mit dreissig wurde ich geschieden. Ich schickte mich in alle Katastrophen, die darauf folgten, und glaubte weiterhin, dass ich für meine falsche Wahl allein zu büssen hatte.

Ehescheidungen waren in Teheran damals noch ein Tabu. Eine Scheidung betrachtete man als einen Akt der Schande. Niemand vermietete eine Wohnung an eine dreissigjährige alleinstehende Frau, schon gar nicht an eine «geschiedene Frau». Man vermutete, männliche Besucher würden sich dort die Klinke in die Hand geben und dadurch stehe die «Ehre» der gesamten Nachbarschaft auf dem Spiel. Ausserdem war es ein Ding der Unmöglichkeit, einen Arbeitgeber zu finden, der, neben den beruflichen, nicht auch sexuelle Ansprüche an eine junge alleinstehende oder geschiedene Frau stellte.

Der Richter ist ein Mullah
Einige Mitglieder meiner entfernten Verwandtschaft, die das Land noch nicht verlassen hatten, schreckten davor zurück, in Familienstreitigkeiten verwickelt zu werden, und zögerten deshalb, mir zu helfen – mein Exmann sollte nicht als unehrenhaft gebrandmarkt werden.

Mein Vater starb viele Jahre vor diesen Ereignissen. Meine beiden Brüder waren zehn Jahre zuvor schon nach Amerika ausgewandert. Der einzige Mensch, der die Last jener Tage mit mir hätte tragen können, war meine Mutter – die aber versank in Passivität und Schwäche, ausserdem weilte sie für längere Zeit bei meinen Brüdern in der Ferne.

Ich blieb zurück: eine gebrochene junge Frau, einsam und traurig – ohne meine Tochter. Denn ohne finanzielle Unterstützung, ohne Anwalt oder auch nur einen männlichen Begleiter wie den Vater oder Bruder hatte ich allein vor Gericht nichts für mich als Mutter ausrichten können. Dabei wog für den Richter am schwersten, dass ich die Scheidung gewollt hatte, nicht der Ehemann.

Aus der Sicht eines Scheidungsrichters – eines gläubigen Muslims also, für den die Überlegenheit des Mannes ausser Zweifel stand – war ich eine verantwortungslose, rechtlose Frau, die sich weigerte, zu leiden und in ihrer Ehe auszuharren. Gleich, ob mein Mann mich schlug und einsperrte und mich mit Gewalt daran hinderte, jemanden zu treffen, sogar Kontakt zu dem einzigen Familienmitglied zu haben, das mir geblieben war, zu meiner Mutter. In den Augen dieses Richters, eines Mullahs, verband sich mit meiner Mutterschaft das Gebot, mich als Mensch selbst aufzugeben. Egal, wie sehr ich meine Ehe als echte Hölle empfinden mochte – ich hatte schlicht Mutter zu sein und gegenüber meinem Mann Gehorsam zu zeigen.

Ich hatte alle beruflichen Ambitionen in den Wind zu schlagen, und ich sollte ja nicht glauben, dass das Leben mir jemals eine zweite Chance einräumen könnte. Man verlangte von mir, mein ganzes Wissen, meine Bildung, die mich zu einem Menschen des 20. Jahrhunderts gemacht hatte, ad acta zu legen. Jedes Ziel, das ich je verfolgt hatte, zu negieren. Mich von allem zu verabschieden, was die Welt weit und schön macht, von Kunst, Musik, Literatur. Von Filmen, die ich noch nicht gesehen hatte, von Menschen, denen ich noch nicht begegnet war, von Orten, die ich noch nicht aufgesucht hatte. Man zwang mich, für immer Abschied zu nehmen von der Aussicht auf tausend magische Dinge auf diesem unendlichen Planeten, die darauf warteten, von mir entdeckt zu werden.

Dieser Richter, mein Mann und die Mullahs forderten mich in jenem elenden Jahr dazu auf, mich nicht nur der ehelichen Gewalt zu beugen, sondern auch die Hoffnungslosigkeit zu akzeptieren: das Faktum, dass es für mich keinen anderen Weg im Leben mehr geben würde.

Umgekehrt wollten sie nicht anerkennen, dass jeder einzelne Moment nackter Gewalt einer zu viel ist. Vor dem Richter wollte ich meinem Mann ins Gesicht brüllen: Ich habe Angst vor dir, vor dem Geräusch deiner Schritte, wenn du den Schlüssel im Schloss drehst und die Wohnung betrittst. Deine Gewalt löst Panik bei mir aus, deine Kontrolle über mich, deine Wut, dein Misstrauen oder dein kaltes Schweigen erzeugen in mir pure Verzweiflung. Deine Gewalt bedeutet meinen Tod – wenn du mich für nichts schlägst, erniedrigst und beschimpfst, nur weil du stärker bist und paranoid. Diese Gewalt ist eine absolute: mir zu drohen, dass ich nie wieder studieren, arbeiten, reisen, mein Kind bei mir haben werde, nie wieder meine Mutter sehen darf. Angst und Gewalt werden eins, fliessen ineinander. Die Angst, überhaupt am Leben zu sein; die Angst davor, mit dir zu leben und keinen Ausweg aus dieser Misere zu sehen.

Der Richter hätte mich anhören sollen: Ein Gesetz, das mich zwingt, mit einem Mann zu leben, dessen Stimme mich schon zittern lässt, bedeutet Gewaltanwendung. Über diese Gewalt nicht sprechen zu dürfen, weil eine «gute» Frau sich opfern sollte, für den guten Ruf der Familie und der Kinder, das heisst Gewalt. Wie es auch Gewalt ist, dass ich mich Gesetzen beugen muss, die mich grundsätzlich als rechtlos bezeichnen statt meinen Mann als gewalttätig – nur weil er männlich ist und ich weiblich bin. Das alles ist Gewalt.

Im Jahre 1996 habe ich mich also scheiden lassen und zugleich das Sorgerecht für meine fünfjährige Tochter verloren – die sah ich erst sieben Jahre später wieder. Trotz meines eingeschränkten Alltags als geschiedene Frau und trotz des Schmerzes, nicht bei meinem Kind zu sein, fühlte ich mich nun, als wäre ich sechzehn Jahre alt: dabei, das Leben zu entdecken.

Mit zweiunddressig verliebte ich mich in einen Mann, einen Designer, der bald danach mein zweiter Ehemann wurde – eigentlich viel zu früh, aber das islamische Recht erlaubte es abermals nicht, sich ausserhalb einer Ehe erst einmal besser kennen zu lernen. Nun fühlte ich mich wie achtzehn.

Mit unglaublicher Begeisterung, ermutigt durch die Liebe und Kameradschaft meines neuen Partners, begann ich, Literatur, Musik, Kino und vor allem das Zeichnen und Malen wiederzuentdecken und auszukosten.

Doch kurz gefasst: Das zutiefst traditionelle Machismo-Denken, das mein zweiter Mann verinnerlicht hatte, liess ihn befürchten, er könnte sich in mir eine Konkurrentin an seiner Seite heranziehen. Eine berufliche Rivalin. Und jede Sicherheit, alles Glück schwand damit.

Mit vierunddreissig Jahren, als ich meine zweite Ehe beendete, meinte ich, hundert Jahre alt zu sein und in meiner Brust ein kaltes Herz aus Stein zu tragen.

Rettung in Europa
Die Ungerechtigkeit und Engstirnigkeit der Männergesellschaft und der immense Hass, der hervorbrach, zerstörten mich. Von da an misstraute ich mir – und der Gesellschaft. Das Misstrauen war so allumfassend, wurzelte so tief, dass es mich den grössten Teil meiner Lebensenergie kostete, wieder davon abzulassen. Und es dauerte lange, bis mir klar wurde, dass mich die tägliche Indoktrination einer patriarchalischen Gesellschaft davon abgehalten hatte, mir selbst Glauben zu schenken.

Als ich dreissig Jahre war, hatte mir die männliche Gesellschaft meine Mutterschaft gestohlen, nachdem ich gegen Gewalt und Demütigung aufbegehrt hatte. Jetzt, mit vierunddreissig, setzte dieselbe Gesellschaft alles daran, mich auch all meiner persönlichen Überzeugungen, Neigungen, Talente, meines Fachwissens zu berauben.

Erst als ich nach Europa – nach Zürich – zog, gewann ich ganz langsam wieder Vertrauen in meine berufliche Eignung; Schritt für Schritt wendete ich viel Zeit und Kraft dafür auf. Längst war ich davon überzeugt, keine Ahnung von meinem Gewerbe zu haben. Dass es nur dem Glück zu verdanken war, einen naiven Kunden gefunden zu haben, der mir einen Auftrag geben wollte. Ich bildete mir ein, dass ich es nicht verdiente, mich eine Expertin zu nennen. Ich war sicher, dass die Gesellschaft recht hatte und es einzig meiner «Weiblichkeit» geschuldet war, wenn ich in der Schweiz einen Job finden würde und ein neues Leben.

Diese Indoktrinierung war so hartnäckig, dass sie meine Logik und meine analytische Kraft lähmte – selbst in der Schweiz betrachtete ich mich lange Zeit als ein weibliches exotisches Wesen. Gab man mir einen Auftrag als Illustratorin oder Autorin, dachte ich, dies liege in erster Linie daran, dass ich eine Frau aus einem fremden Land war. Mit meinen Fähigkeiten hatte das nichts zu tun.

Auch früher im Iran hatte ich nicht gesehen, welche Art von sexueller Waffe ich einsetzte, ich war doch bloss ich selbst. Ich kleidete mich ja anständig, schminkte mich nicht, versuchte keinen Kunden mit weiblichen Reizen zu umgarnen. Alles, was ich tat, war, Tag und Nacht zu arbeiten.

Warum kapierte ich das alles nicht? Immerhin hatte ich auch einige Auftraggeberinnen. Auch im Iran gewannen weiblich geführte Verlage langsam an Boden, und ich arbeitete so viel wie möglich für wenig Geld. Weshalb erkannte ich diesen Widerspruch dennoch nicht? Warum hatte ich mich nicht darauf hin befragt?

Vielleicht, weil sonst auch niemand auf eine Antwort brannte?

Es herrschte eine stille Übereinkunft darüber, dass Frauen, insbesondere junge, geschiedene oder alleinstehende unabhängige Frauen, Karriere nur aufgrund ihres Geschlechts machen würden, und das war es auch schon. Die Mehrheit, sowohl Männer wie Frauen, glaubte an diese Prämisse. Wer war ich, auf eine Frage zu antworten, die nie offen gestellt wurde? Und war nicht die Antwort auf die nicht gestellte Frage sowieso der Grund, warum ich schuldig war?

Suizidgedanken
War das Beharren auf meine intellektuelle und berufliche Unabhängigkeit es wert gewesen? Hätte ich nicht besser akzeptieren sollen, dass meine verhängnisvollen Fehler in meinem Beziehungsleben – vor allem die Trennung von meinem Kind – nur das Resultat meiner Bestrebungen waren?

Als ich mit Entwürfen für die erste Buchdesign-Ausstellung Teherans im Jahr 2000 deren Wettbewerb gewann, konnte ich es nicht fassen. Obwohl doch die Veranstalter mein Geschlecht gar nicht kannten, als ich meine Entwürfe einreichte. Mein Name ist ein sehr seltener persischer Name. Und als ich bei der Preisverleihung als Siegerin ausgerufen wurde, da sprachen sie von «Herr». Als ich dann aufs Podium stieg, entschuldigte sich der Laudator dafür – überrascht und verlegen. Von dort blickte ich auf ein Publikum, das sich hauptsächlich aus meinen männlichen Kollegen zusammensetzte; ich kam mir vor wie eine Angeklagte, die schliesslich freigesprochen worden war. Da oben wollte ich den Triumph hinausschreien: Seht! Meine Arbeit hat gesiegt, nicht mein Geschlecht! Aber ich sagte nichts.

Glaubenssätze zu ändern ist viel, viel schwieriger, als man denkt. Nie hatte ich geahnt, dass ich einer solchen männlichen Indoktrination so gar nichts entgegenzusetzen hatte, dass ich es vorziehen würde, mich selbst zu vernichten, damit ich nur ja nicht aus der Menschheit hinausfiel.

Der Gedanke an Suizid lauerte viele Jahre in meinem Kopf. Jahrelang kämpfte ich gegen ihn an. Schwäche war mir verhasst. Ich musste doch schon allein für jenen Tag am Leben bleiben, der ganz sicher kommen würde – für jenen Tag, an dem ich meine Tochter wiedersehen sollte.

Stattdessen kam der Tag, an dem ich mich in diesem Kampf ergab. Die Verwandlung meiner wahren Natur, angetrieben durch die Gender Bias Society, war vollzogen: Ich war zu der zweimal Geschiedenen, zu der schuldigen Mutter, zu der fragwürdigen Frau geworden, als die man mich hingestellt hatte. Diese Deutung meiner Person hatte meine eigene Stimme übertönt.

An diesem Punkt stand für mich fest: Alle Verfehlungen in meinem Leben, die Qualen meines Kindes, meine eigenen, das Leiden meiner Ehepartner und meiner engsten Familie, waren einzig und allein die unglückliche Summe meiner falschen Entscheidungen. Und der Urheber dieser Entscheide bestand lediglich in einer Partei, und das war ich. Unterm Strich hiess das: Ich war schuld, kein anderer war dafür verantwortlich, nicht die Umstände und nicht die Gesellschaft.

In den letzten Stunden eines Frühlingsabends 2001, gerade fünfunddreissig Jahre alt, deponierte ich ein Blatt Papier auf meinen Schreibtisch, an dem ich seit dem frühen Morgen an den Entwürfen für Buchumschläge sass. Ich hatte einen Abschiedsbrief geschrieben. Ich beschloss, ihn genau dort auf dem Schreibtisch zu lassen, mich auf meinem Bett auszustrecken und die Tabletten zu schlucken, deren finale Wirksamkeit ich über Monate der Recherche sichergestellt hatte. Mich schlafen zu legen und nie wieder aufzuwachen.

Ich hatte mich vergewissert, dass die Medikamentenkombination mich einschläfern und ich dadurch zu einem schmerzlosen Tod gelangen würde. Ich fürchtete Schmerz und Überlebenskampf, und natürlich fürchtete ich mich vor meiner eigenen Schwäche und meinem Zweifel.

Diesen Abschiedsbrief habe ich bis heute.

Damals war ich von den grossartigen Romanen des US-amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut beeinflusst, ich war ein Fan seiner Bücher und von seinem schwarzen Humor fasziniert. Erst kurz zuvor hatte ich die Cover für die Übersetzungen seiner beiden Bücher «Mutter Nacht» und «Schlachthof 5» entworfen.

So begann ich meinen Abschiedsbrief:

«Ich (vollständiger Name, Geburtsdatum) bestrafe mich streng, indem ich mich selbst töte. Ich habe mir und dem Leben meines Kindes Unrecht angetan, indem ich falsche Wege und Entscheidungen im Leben gewählt habe. Ich habe mich selbst verraten, niemand sonst. Daher erkläre ich mich selbst in meinem persönlichen Gericht als Richter für schuldig und verurteile mich zum Tode. Das Urteil tritt mit diesem Moment in Kraft.

PS 1: Ich entschuldige mich bei Herrn Vonnegut für dieses offensichtliche Plagiat. Und das, obwohl wir das Urheberrecht im Iran nicht als Gesetz anerkennen.

PS 2: Im Anhang befindet sich der Name der Datei, die den Entwurf für die Todesanzeigeunddas Grabsteindesign auf meinem Computer enthält.»

Unnötig zu erwähnen, dass das Urteil nicht vollstreckt wurde. Tatsächlich verdanke ich mein Leben dem lieben verstorbenen Mr. Kurt Vonnegut, denn nachdem ich diese Notiz geschrieben und erneut gelesen hatte, musste ich lachen – fortan war ich zutiefst von der Sinnlosigkeit des Selbstmords überzeugt.

Heute bin ich fünfundfünfzig Jahre alt, nach wie vor lebendig – vor allem aber fühle ich mich wie eine Fünfundfünfzigjährige. Alle Jahre, die meinem dreissigsten Geburtstag folgten, hatte ich versucht, mein biologisches Alter mit meinem emotionalen Alter in Einklang zu bringen, und anscheinend ist es mir zu guter Letzt tatsächlich gelungen. Heute bin ich der ruhigste, zufriedenste Mensch auf Erden. In Frieden mit mir. Und bereit, allen zu antworten, die fragen, wie ich so viele offensichtliche Fehler in meinem Leben machen konnte. Heute weiss ich, dass ich – wenn eines Tages eine alleinstehende, unabhängige Frau im Iran nicht mehr automatisch als verworfene Frau, als Prostituierte gilt – eine kleine Rolle in diesem Prozess gespielt haben werde.

Endlich angekommen
Wenn eine Scheidung nichts Verdammenswertes mehr ist, was einer Frau zur Last gelegt wird; wenn der Wunsch von Frauen nach einem unabhängigen Leben jenseits des Hauses ihrer Väter oder Ehemänner als natürlich gewertet werden wird; wenn eine Wiederverheiratung oder das Zusammenleben der Geschlechter ohne Trauschein zur Selbstverständlichkeit geworden ist – dann wird der Augenblick da sein, in dem ich mir nützlich vorkommen werde. Selbst wenn mein Anteil an dieser Entwicklung ein winzig kleiner ist und ich teuer dafür bezahlt habe, mit enormen Einbussen an Seelenheil und beruflichem Prestige. Dabei war und ist mein Beruf mein inneres Kapital. Er hält immer noch die Glieder meines Lebens zusammen, eins nach dem anderen, wie eine starke Rosenkranzkette, Perle für Perle.

Wie gern möchte ich glauben, dass ich meinen kleinen Beitrag zu den grossen Veränderungen geleistet habe. Denn freier von manchen Fesseln sind Iranerinnen inzwischen zu sozialen Aktivistinnen geworden. Heute werden sie weniger auf die reine Erfüllung ihrer traditionell weiblichen Pflichten reduziert als meine Generation. Sie denken jetzt vernehmbar über allgemeine Menschenrechte nach, über Minderheitenrechte, Kinderrechte, Frauenrechte, LGBT-Rechte, über das Recht auf Kleidungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Umwelt, Gemeinwohl, Demokratie und Selbstbestimmungsrecht. Und besonders wichtig: Sie haben die iranische # MeToo-Bewegung begründet.

Dafür riskieren sie sogar ihren gesellschaftlichen Ruf, ihre Freiheit, ihre Gesundheit, selbst ihr Leben. Immer noch müssen sie sich gegen eine versteinerte, männlich regierte Welt zur Wehr setzen, die sich nach wie vor keinen Deut von ihrer Machtlinie wegbewegen will. Der Unterschied zwischen den jungen Iranerinnen von heute und mir und meiner Generation besteht darin, dass die Jungen sich wenigstens nicht mehr jeden Tag in ständigen Gefechten mit ihren Männern, Vätern, Brüdern, Kollegen, Arbeitgebern und Fremden auf der Strasse aufreiben. Und selbst wenn sie sich nicht immer erfolgreich wehren können, sind sie doch weit erfolgreicher als wir Frauen vor ihnen.

Auf vielen Ebenen der patriarchalischen iranischen Gesellschaft werden Iraner und Iranerinnen noch Korrekturen durchsetzen müssen. Der Aufstieg ist noch lang und steil, aber erste Schritte sind gemacht. Und keine Kraft kann den Gang mehr umkehren. Ich bin stolz auf mich, weil ich eine der ersten Wanderinnen auf diesem felsigen Weg war. Bei all den Verlusten und Gewinnen habe ich es geschafft, den Lauf der Zeit in die verkehrte Richtung zu berichtigen. Heute bin ich in dem Alter angekommen, das ich laut meiner Geburtsurkunde habe, und ich bin glücklich.

Aus dem Englischen von ANUSCHKA ROSHANI

Die Autorin und Illustratorin PARSUA BASHI zog 2010 nach sechs Jahren in der Schweiz wieder zurück in den Iran, wo sie heute im Norden auf dem Land lebt. Ihre Erfahrungen in Zürich verarbeitete sie in der Graphic Novel «Nylon Road». redaktion@dasmagazin.ch

(Selbstporträt von Parsua Bashi.)