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True Story Award 2023

Das Wandergericht

Ein Mann aus Sierra Leone wird in Finnland angeklagt. Ihm werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Für den Prozess zieht das finnische Gericht für mehrere Monate nach Westafrika. Kommt man der Wahrheit näher, wenn man ihr hinterherreist?

Vor dem Gerichtssaal schimmert das Meer in der Ferne. Die Wellen des Atlantiks rollen heran mit weißen Schaumkronen. Durch das Fenster sieht man die Bungalows einer Ferienanlage, einen Infinity-Pool, Sonnenschirme aus Palmenwedeln. Am Strand ist früh am Morgen noch kein Mensch. Es ist der 17. März 2021 in Paynesville, einem Vorort von Monrovia, der Hauptstadt von Liberia an der Westküste Afrikas.
In dem zum Gerichtssaal umfunktionierten Tagungsraum eines Hotels erzählt eine Frau, wie ihr Sohn ermordet wurde, vor etwa 20 Jahren. Sie trägt Flipflops, einen lila Rock, ein pinkes Kopftuch. Sie wippt mit ihrem Bein, ihr Fuß schlägt auf den Steinboden, klatsch, klatsch, klatsch. Um die Zeugin herum sitzen Fremde, Weiße: zwei finnische Richter und zwei finnische Richterinnen, zwei finnische Staatsanwälte, der finnische Anwalt des Angeklagten und drei Übersetzer. Die Männer tragen Anzüge und makellos gebügelte Hemden, die Frauen dunkle Blazer, trotz der Hitze draußen.
»Als ich das Haus meiner Eltern erreichte, kamen Soldaten mit vorgehaltener Waffe auf mich zu«, sagt die Zeugin. »Die Soldaten sagten: Stopp! Keinen Schritt weiter.« Sie beschreibt, wie die Soldaten alles, was ihr Vater besaß, aus dem Haus schleppten, ihren Sohn fesselten, das ganze Dorf in Brand steckten. Ihre Stimme wird leise und gepresst. »Sie schossen, und mein Sohn war tot.« Sie beginnt zu weinen. Aus ihrer Tasche zieht sie ein kleines Taschentuch, mit dem sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. Die Sitzung wird unterbrochen.
Nach einer Viertelstunde geht es weiter. Einer der beiden finnischen Staatsanwälte fragt:
»Wissen Sie, wie der Kommandant hieß?«
»Ja, ich erinnere mich gut.«
»Wie war sein Name?«
»Angel Gabriel Massaquoi.« Angel Gabriel, wie der Erzengel Gottes, vermengt mit dem Nachnamen des Angeklagten: Massaquoi.
Gibril Massaquoi, so sein offizieller Name, war vor mehr als 20 Jahren ein Warlord im Bürgerkrieg im westafrikanischen Sierra Leone. Nach Kriegsende wurde dort ein Sondergerichtshof der Vereinten Nationen eingerichtet, um über die schwersten Verbrechen zu urteilen. Massaquoi sagte als Kronzeuge aus, im Gegenzug wurde ihm Straffreiheit für seine Taten in Sierra Leone zugesichert. 2008 ging er nach Finnland, wo er mehr als ein Jahrzehnt unbehelligt lebte. Dann holte ihn seine Vergangenheit ein. Eine Menschenrechtsorganisation in Liberia hatte Beweise gesammelt. Der Vorwurf: Massaquoi soll auch Verbrechen im Nachbarland Liberia begangen haben, wo damals ebenfalls ein Bürgerkrieg tobte. Es geht um Mord, Folter, Vergewaltigung. Da Massaquoi in Finnland lebt, wurde er vor einem finnischen Gericht angeklagt.
Viele Staaten haben in den vergangenen Jahren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip verfolgt. Demnach ist es egal, in welchen Ländern diese Verbrechen stattgefunden haben. Es ist auch egal, ob die mutmaßlichen Täter diese Länder längst verlassen haben. Sie werden dort angeklagt, wo sie jetzt leben.
Deutschland hat Verfahren gegen Folterer des Assad-Regimes in Syrien eingeleitet und gegen Kämpfer des »Islamischen Staates«, Frankreich hat Völkermörder aus Ruanda verurteilt, der Senegal hat den ehemaligen Präsident des Tschad vor Gericht gestellt und Schweden einen iranischen Henker. Vermutlich wird auch der Angriffskrieg gegen die Ukraine bald vor einem ausländischen Gericht verhandelt.
Dass die Juristen eines finnischen Distriktgerichts nun 7000 Kilometer entfernt von zu Hause eine Frau nach den traumatischsten Momenten ihres Lebens befragen, war die Idee der Finnen. Normalerweise arbeiten die Juristen in einem Backsteingebäude im Zentrum von Tampere, der drittgrößten Stadt Finnlands. Ihr Ansatz wird im internationalen Strafrecht als »finnischer Weg« gefeiert: Juristen verhandeln über Verbrechen, die auf einem anderen Erdteil begangen wurden, und reisen diesen Verbrechen hinterher. Sie fahren dorthin, wo die Zeugen der Gräueltaten leben, sie besichtigen die Schauplätze. Die Hoffnung ist, dass sie dadurch der Wahrheit näher kommen.
Im Frühjahr 2022 wird das finnische Gericht das Urteil gegen Gibril Massaquoi verkünden. Es wird anders ausfallen als erwartet.

Juhani Paiho, 55, ist der Mann, der das Verfahren leitet. Er ist groß, sein Kopf wirkt wie aus Granit gehauen. Im März 2021 sitzt Paiho am Pool des Hotels in Monrovia und erzählt, wie er zum Vorsitzenden Richter in diesem Prozess wurde: Als der größte Kriegsverbrecherprozess der finnischen Geschichte an sein Gericht überwiesen wurde, seien die anderen Richter entsetzt gewesen. Paiho aber googelte Liberia auf seinem Handy und dachte sich: »So einen Fall bekommst du nie wieder.«
Paiho ist eigentlich Richter für Zivilstreitigkeiten. Seine Themen sind Unterhaltszahlungen, Sorgerechtskonflikte, unbezahlte Handwerkerrechnungen. Er ist aber auch einer der wenigen Richter in Tampere mit internationaler Erfahrung. Vor Jahren hat Paiho für die Europäische Union im Kosovo gearbeitet. Also bekam er den Vorsitz.
Er hat viel erlebt seither: Paiho ist drei Tage lang durch das liberianische Hinterland gefahren, um sich Tatorte anzuschauen. Er hat gesehen, wie sich die unbefestigte Straße in einem Unwetter auflöste. Er hat in einem Hotel übernachtet, in dem es morgens einen Eimer Brunnenwasser zum Duschen gab. Er hat eine nächtliche Termiten-Invasion ertragen. Jetzt ist er zurück in Monrovia und hat immer noch Schwierigkeiten, nachzuvollziehen, was genau in Liberia vor 20 Jahren passiert ist. »Wir sind uns oft unsicher, ob zwei Zeugen wirklich über den gleichen Vorgang reden – oder ob es zwei komplett verschiedene Taten sind«, sagt Paiho. Er erzählt, einige Dorfbewohner aus dem Landesinneren seien verängstigt gewesen, als sie das Meer vor dem Hotel sahen. Sie glaubten, dass im Ozean böse Geister wohnen.
Es ist für die Finnen manchmal schwer zu sagen, ob ein Zeuge lügt – oder ob die kulturelle Distanz es unmöglich macht, den Aussagen zu folgen.

Das Gefängnis von Akaa in Finnland liegt 40 Autominuten von Tampere entfernt, an einem See, umringt von Birken und Kiefern. 127 Menschen sind hier inhaftiert. Einer davon ist der Angeklagte Gibril Massaquoi. In Liberia konnten die Finnen für seine Sicherheit nicht garantieren, deshalb ist er in Finnland geblieben. Seinen Prozess verfolgt er größtenteils per Videoübertragung in einem kleinen Raum im Erdgeschoss des Gefängnisses.
Massaquoi kommt in Rollkragenpullover, Trainingshose und Schlappen in den Besucherraum. Seit zwei Jahren ist er schon hier. Die Augenringe sind tiefer, das Gesicht ist etwas hagerer als in den Videoaufnahmen aus dem Krieg. Aber er sieht immer noch zehn Jahre jünger aus, als er ist. Er ist 52 Jahre alt.
Massaquoi war Sprecher der Revolutionary United Front, kurz RUF, aus Sierra Leone. Die Rebellengruppe begann 1991 einen brutalen Bürgerkrieg, der elf Jahre andauerte und Schätzungen zufolge zwischen 30.000 und 50.000 Menschen das Leben kostete. Die RUF hackte Tausenden Männern, Frauen und Kindern die Arme ab. Vorher stellten die Kämpfer ihrem Opfer oft die zynische Frage: »Long sleeve or short sleeve?« Langärmelig oder kurzärmelig?
Die Bürgerkriege in Sierra Leone und Liberia sind eng miteinander verflochten. Viele Soldaten kämpften auf beiden Seiten der Grenze. Die RUF lieferte Diamanten aus den Minen Sierra Leones an den liberianischen Präsidenten Charles Taylor. Als Gegenleistung erhielt sie Waffen. Wenn man Massaquoi Fragen stellt, muss man seine Antworten mit Vorsicht behandeln. Massaquoi ist ein Medienprofi. Als Sprecher der RUF hat er Ende der Neunzigerjahre regelmäßig ausländischen Journalisten Interviews gegeben. Er hat abgelenkt, geleugnet, die Schuld auf andere geschoben. Als die RUF im Jahr 2000 mehrere Hundert Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen entführte, stellte sich Massaquoi vor die Weltpresse und suggerierte, die Soldaten hätten sich womöglich im Wald verirrt. Er bot an, einen Suchtrupp loszuschicken.
Kurz nach dem Krieg, im Jahr 2002, nahm in Sierra Leone eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre Arbeit auf. In deren Abschlussbericht heißt es, Massaquoi sei »einzigartig in der RUF« gewesen, da er sogar vielen Kämpfern, die ihm sehr nahestanden, ein Mysterium geblieben sei.
»Herr Massaquoi, die anderen Kämpfer sagten nach dem Krieg, dass Sie ihnen ein Rätsel waren. Warum, glauben Sie, war das so?«
»Weil sie eifersüchtig waren.«
Massaquoi wird im Gespräch nie laut oder aggressiv, selbst wenn man ihn mit schwersten Vorwürfen konfrontiert. Er bedankt sich lieber für die Frage.

Im Gerichtssaal in Monrovia berichtet ein Mann, wie seine Frau und seine Schwester ermordet wurden, als sie im Wald Palmöl herstellten. Wie ihre Leichen gefunden wurden, seine Schwester noch mit dem Baby auf dem Rücken, das überlebt hatte. Ein anderer Mann beschreibt, wie er die halb verwesten Körper seiner Nachbarn begrub. Die Zeugen erzählen mit großer emotionaler Wucht von dem, was ihnen passiert ist. Sie zeigen den Richtern die Narben auf ihren Körpern.
Die Zweifel an Massaquois Schuld beginnen mit etwas Kleinlichem angesichts des sichtbaren Leids: den Zeitangaben, die die Zeugen machen. Für viele Liberianer ist Zeit etwas, das sie nicht in Monaten und Jahren messen. Die Analphabetenrate liegt bei 51,7 Prozent. Viele Menschen können ihr eigenes Alter nur schätzen.
Vor Gericht aber bedrängt Massaquois finnischer Anwalt, Kaarle Gummerus, jeden einzelnen Zeugen wieder und wieder mit der Frage: Wann ist das passiert? Im Jahr 2001 oder womöglich erst später, im Jahr 2003? Gummerus sitzt an seinem Tisch, 57 Jahre alt, ein starres Gesicht wie ein Pokerspieler, und fragt so lange, bis das pedantische Nachhaken fast grausam wirkt. Ein ehemaliger liberianischer Soldat sagt irgendwann entnervt: »Ich kann mich nicht an alles erinnern. Mein Gehirn ist kein Computer.«
Der Grund für die Nachfragen? Massaquoi hat ein Alibi für den gesamten Zeitraum nach dem 10. März 2003.
Den finnischen Behörden hat Massaquoi nie verschwiegen, wer er war. Sie wussten, wen sie sich ins Land holten. Als nach dem Ende des Bürgerkriegs in Sierra Leone der Sondergerichtshof der Vereinten Nationen seine Arbeit aufnahm, begriff Massaquoi schneller als andere, was die Stunde geschlagen hatte. Er bot seine Hilfe als Kronzeuge an. Die Protokolle seiner Vernehmungen sind 1735 Seiten lang. Dank ihm konnten mehrere Kriegsverbrecher verhaftet und verurteilt werden. Massaquoi wurde nicht nur Straffreiheit für seine Verbrechen in Sierra Leone garantiert, er wurde auch ins Zeugenschutzprogramm des Gerichts aufgenommen. Die Ermittler vermuteten, früher oder später werde sich in Sierra Leone herumsprechen, dass er der Verräter war. Massaquoi bekam rund um die Uhr bewaffnete Sicherheitsleute an die Seite gestellt. Bis 2008 lebte er in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones. Dann bot Finnland, das die Einrichtung des Sondergerichts sehr unterstützt hatte, an, Massaquoi aufzunehmen.
Zwölf Jahre lang führte er ein unauffälliges Leben in Tampere. Massaquoi wohnte mit seiner Familie in einem Sozialbau am Stadtrand. Er putzte das Eishockey- stadion, trug Zeitungen aus in eisigen Nächten. Die finnische Polizei ließ ihn in Ruhe.
Bis zu jenem Tag, als die Finnen von dem Verdacht erfuhren, Massaquoi habe nicht nur in Sierra Leone, sondern auch in Liberia Kriegsverbrechen begangen. Für diese Taten hatte ihm niemand Straffreiheit versprochen. Im Mai 2020 nahm ihn die finnische Polizei fest, es war noch Nacht, er kam gerade von seiner Zeitungsrunde zurück. Die Polizisten waren erstaunt, wie ungerührt Massaquoi nach seiner Verhaftung war. Er legte sich in seiner Zelle hin und schlief ein.
Wieso blieb er so ruhig?
Wenn man ihn fragt, sagt er: »Ich habe gut geschlafen, weil ich unschuldig bin.«
»Aber was ist mit all den Zeugen?«
»Sie lügen. Alle 91 Zeugen.«

Der finnische Prozess gegen Massaquoi ist der erste Kriegsverbrecherprozess in Liberia. Anders als in Sierra Leone blieben in Liberia entscheidende Akteure des Krieges nach dessen Ende in bedeutsamen Positionen. So konnten sie Strafverfahren verhindern. Allein der ehemalige liberianische Präsident Charles Taylor wurde im niederländischen Den Haag vor Gericht gestellt. Ansonsten ist keiner der Warlords, Generale, Henker im Land belangt worden. Und das, obwohl der Krieg in Liberia noch grausamer war als der in Sierra Leone. 250.000 Tote gab es nach Schätzungen zwischen 1989 und 2003. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung kamen ums Leben.
Die Täter sitzen heute im Parlament. Sie sind Präsidentschaftskandidaten. Man trifft sie im Hauptquartier der alten Partei von Charles Taylor, der National Patriotic Party, die heute wieder Teil der Regierungskoalition ist. Sie wohnen in großen Häusern unweit des Hotels, in dem der Prozess stattfindet. Die Finnen haben sich in eine Welt begeben, in der die Vergangenheit unter der Oberfläche weiterlebt.
Der Polizeikommissar Thomas Elfgren hat im Vorfeld des Prozesses so viel Zeit in Liberia verbracht, dass sein Fahrer ihm extra ein Nummernschild für den Geländewagen organisiert hat: Tuffe1. Tuffe ist Elfgrens Spitzname. Die finnische Polizei war fünfmal mehrere Wochen lang in Liberia. Elfgren, 67, ist braun gebrannt, schlank. Er läuft in Monrovia grundsätzlich in kurzärmligen Hemden, Dreiviertelhosen und Sandalen herum.
An einem Morgen im März 2021 fährt der Kommissar durch das enge Water- side-Marktviertel in Monrovia. Einer der drei Tatorte, an denen Massaquoi Menschen getötet oder gefoltert haben soll. Der Geländewagen kriecht durch den Stau. Die Gassen des Marktes sind eng, brechend voll, in großen Haufen liegen Schuhe mit Stiletto-Absätzen und pinke BHs herum, es gibt Schubkarren voller T-Shirts, Toilettenpapier, Mangos und Stachelannonen, einer Frucht, die aussieht wie ein grünes, stacheliges Herz.
An einer Kreuzung zeigt Elfgren nach rechts und sagt: »Hier lagen damals die Toten auf der Straße.« Heute bietet hier ein Laden Hunderte Kochlöffel an.
Wenige Meter die Straße hinauf war das Geschäft, in das damals hungrige Menschen einbrachen, um Essen zu stehlen. Kurz darauf kamen Soldaten und eröffneten das Feuer. Ein Zeuge sagt vor Gericht, er habe gesehen, wie Gibril Massaquoi Menschen mit einer Pistole erschoss. Ein anderer behauptet, Massaquoi habe ein Messer gehabt und damit einem Mann die Kehle durchgeschnitten. Wieder andere sagen, er habe nicht eigenhändig getötet, sondern die Befehle erteilt. Die Versionen sind so unterschiedlich, dass kein klares Bild davon entsteht, was an jenem Tag passiert ist. Auch können die Zeugen nicht sagen, wann genau es geschah, sie können den Morden kein Datum geben.
In einem Punkt sind sie sich allerdings einig: Der Kampf um Monrovia hatte bereits begonnen. Der Krieg war in der Hauptstadt angekommen. Und das definiert ein präzises Zeitfenster für die Morde: Der Kampf um Monrovia begann im Juni 2003 und endete zwei Monate später.
Massaquoi hat für diese Zeit ein Alibi. Er war in Sierra Leone, wo der Krieg bereits vorbei war, die Arbeit des Sondergerichtshofs schon begonnen hatte. Massaquoi wurde 24 Stunden am Tag von den Sicherheitsleuten des Gerichts bewacht. Trotzdem erklären nun zahlreiche Zeugen, sie hätten ihn in Monrovia gesehen.
Irgendetwas stimmt nicht.

Das Gewitter kommt vom Meer, schnell und ohne Vorwarnung. Der Regen prasselt auf die Wellblechdächer. Es klingt wie das Grummeln eines riesigen Ungeheuers. Und dann kommt der Donner, so laut, dass der Staatsanwalt Tom Laitinen zusammenfährt. Als der nächste Blitz über dem Atlantik zuckt, hält er sich die Ohren zu, wie ein Kind.
Der 52-jährige Laitinen ist ein leiser Staatsanwalt. Im Gespräch macht er oft lange Pausen, als müsse er seine Gedanken sortieren. Der Druck auf ihn ist groß. Es ist ein teures Verfahren. Laitinen war es, der vorschlug, den Prozess nach Liberia zu verlagern. Er glaubt, man verstehe Dinge besser, wenn man sie vor sich sieht. »Wir müssen den ganzen Menschen bewerten, seine Mimik, seine Gestik, wie er spricht. Das geht auf Videoaufnahmen nicht annähernd so gut, wie wenn man im gleichen Raum ist.«
Laitinen gibt zu, die Zeugenbefragungen seien für ihn dennoch oft unvorhersehbar. »Es ist mir immer noch nicht klar, welche Fragen ich stellen muss, um ihre wichtigsten Erinnerungen hervorzuholen.«
Auf wenigen Gebieten moderner Politik ist der Fortschrittsglaube so stark wie im internationalen Strafrecht. Der Traum ist eine Welt, in der die menschliche Neigung zu organisierter, massenhafter Grausamkeit durch das Recht gebannt wird. Eine Zukunft, in der der Gedanke an eine Gefängniszelle mögliche Schlächter davon abhält, ihre Marodeure loszuschicken.
In der Realität kriecht das Recht der Gewalt mit quälender Langsamkeit hinterher, oft mit Jahren oder Jahrzehnten Verspätung. Das Geschäft der Gerechtigkeit ist aufwendig, oft undankbar und nicht selten vergeblich.
Als die finnische Polizei Massaquoi festnahm, fand sie auf seinem Rechner ein Buchmanuskript, 372 Seiten, Titel: The Secret Behind the Gun. Das Geheimnis hinter dem Gewehr. Massaquoi sagt, er habe vor mehr als zwei Jahrzehnten angefangen, es zu schreiben, noch während er in der RUF war, es ist eine Mischung aus Biografie und politischer Abhandlung.
Darin erzählt Massaquoi, seine Familie sei so arm gewesen, dass er oft nur eine Mahlzeit am Tag bekam. Als die RUF ihn zwangsrekrutierte, war er Anfang zwanzig und Mathematiklehrer an einer katholischen Schule in Pujehun, im Süden von Sierra Leone, an der Grenze zu Liberia. »Eigentlich wäre ich gerne Buchhalter geworden«, sagt er.
Massaquoi berichtet in dem Text von seinem ersten Treffen mit dem Anführer der RUF, Foday Sankoh, in einem Ausbildungslager. Voller Ehrfurcht schreibt Massaquoi: »Wir joggten neben ihm. Es war ein elektrisierender Moment.« Später machte Sankoh den jungen Massaquoi zu seinem persönlichen Assistenten. In der brutalsten Szene des Buches beschreibt Massaquoi, wie Sankoh, der den Bürgerkrieg nicht überleben sollte, eine Frau umbringen ließ. Sankoh befahl seinen Soldaten, sie mit heißem Palmöl zu überschütten und danach mit den Füßen an einen Baum zu binden, »wo sie hing, bis sie starb«, wie Massaquoi schreibt. Im Interview nennt er - Sankoh einen »liebevollen Mann«.

Die Finnen sind in Monrovia freundliche und zurückhaltende Gäste mit einem merkwürdigen zweigeteilten Alltag. Vom Morgen bis in den Nachmittag sind sie Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Polizist. Abends legen sie ihre Rollen für ein paar Stunden ab. Da sitzen dann der Verteidiger Gummerus und der Staatsanwalt Laitinen zusammen und essen gemeinsam Spaghetti bolognese in der feuchten Nachthitze. Paiho, der Richter, unterhält sich am Pool mit Elfgren, dem Polizisten. Sie reden über ihre Kinder, ihre Hobbys, über Magenverstimmungen. Sie sind hier nicht nur dichter an den Zeugen, sondern auch dichter beieinander, als sie es in Finnland je wären. Am Ende werden sie 16 Wochen miteinander in Westafrika verbracht haben. Vor Gericht wird schnell klar, dass der Staatsanwalt Laitinen gegen Massaquois Alibi für die Morde in Monrovia nicht ankommt. Aber es gibt noch zwei weitere mutmaßliche Tatorte. Massaquoi soll auch für Verbrechen im Landesinneren verantwortlich sein, die sich früher ereigneten, irgendwann im Jahr 2001, lange bevor Massaquoi Kronzeuge wurde.

Lofa County ist schön und arm. Die Landschaft ist hügelig. Am Wegrand stehen Kapokbäume, 70 Meter hoch, die ältesten standen schon hier, als die Sklavenhändler vor 250 Jahren Menschen aus der Gegend auf ihre Schiffe schleppten. Über den Wäldern steigen Rauchfahnen empor. Bauern roden Land für die Reisfelder. Das Dorf Kamatahun Hassala liegt auf einer Anhöhe. Die Häuser sind aus Lehmziegeln, die Dächer aus Wellblech. Es gibt eine kleine Moschee. Die Zeugen vor Gericht haben dieses Dorf beschrieben. In ihren Erinnerungen erschien es als Höllenort. Während des Krieges wurden Hunderte Menschen aus dem Umland hier zusammengetrieben. Dutzende wurden bei lebendigem Leib in Hütten verbrannt.
Die Zeugen haben vor Gericht angegeben, ein Soldat, der sich Angel Gabriel nannte, habe die Befehle erteilt. Ein Mann sagte, dieser Kommandeur habe ihn mit Elektroschocks gefoltert und anschließend in seinen Mund uriniert. Ein anderer erzählte, Angel Gabriel habe einen Mann umbringen lassen, um aus ihm Suppe zu kochen. In den Erzählungen vor Gericht ist er die entscheidende Figur des Massakers.
Doch wenn man als Reporter allein, ohne Richter und Staatsanwalt, nach Kamatahun Hassala fährt, um vor Ort mit Überlebenden zu sprechen, entsteht ein anderes Bild.
Varfee Konneh lebt in einem kleinen Haus, zwei Räume, im Schlafzimmer hängt ein Poster der amerikanischen Sängerin Alicia Keys. Konneh baut Reis an, auf gerodeten Feldern, etwas außerhalb des Ortes. Als die Soldaten kamen, war er 12 oder 13 Jahre alt.
Er sagt, er habe alles mit angesehen. Wie die Menschen in eines der Häuser getrieben wurden, junge Männer und alte, Frauen und Kinder. Das Feuer. Die Toten.
Er habe nur überlebt, weil die Soldaten ihn als Laufburschen benutzt hätten, sagt Konneh, er habe Essen gekocht und Wasser geholt. Beim Wasserholen sei er dann geflohen.
Wer war der Kommandeur der Soldaten? Konneh sagt nur ein Wort: »Zigzag.«
Joseph »Zigzag« Marzah war ein berüchtigter Kommandeur in Charles Taylors Armee, ein Mann, der noch nach dem Krieg damit prahlte, Menschen gegessen zu haben. Kaum ein Name hat in Liberia derart viel Schrecken verbreitet. Marzah lebt bis heute frei und unbehelligt im Land.
Drei weitere Männer im Ort, die sagen, sie seien Augenzeuge des Massakers gewesen, nennen gegenüber diesem Medium diesen Namen. Sie alle sagen, Joseph Marzah habe die Befehle gegeben.
Konneh erzählt, es seien auch Kämpfer aus Sierra Leone dabei gewesen beim Morden in Kamatahun Hassala. Aber an einen Mann, der sich »Angel Gabriel« nannte oder Gibril Massaquoi, kann sich weder Konneh noch einer der anderen Männer erinnern. Keinen von ihnen hat das finnische Gericht angehört.
Als Konneh nach mehr als einem Jahr auf der Flucht mit einer kleinen Gruppe zurückkam ins Dorf, war alles leer und überwachsen mit Pflanzen. »In den ersten Nächten«, sagt er, »hörten wir Stimmen in der Dunkelheit.« Das seien Geister gewesen.
Was haben sie gesagt?
»Alilor e va ngor? Zizamazza lov e par ngor.«
Wer hat mich getötet? Zigzag Marzah hat mich getötet.

Kaarle Gummerus, Massaquois Verteidiger, sitzt in einem Polohemd und einer kurzen Sporthose in seinem Hotelzimmer in Monrovia und zeigt auf den Bildschirm seines Laptops. Er hat dort alle von der finnischen Polizei befragten Zeugen aufgelistet. Die meisten bekamen eine Fotoauswahl gezeigt mit zwölf Gesichtern, eines davon zeigte Massaquoi. Die Zeugen sollten ihn identifizieren.
Der Anwalt hat in der Excel-Tabelle die Zeugen nach Ort und Befragungsdatum geordnet. Wenn jemand das Bild von Massaquoi gewählt hat, ist die Kachel dunkelgrün. Diejenigen, die Massaquoi nicht identifiziert haben, tauchen als blaue Kachel auf, diejenigen, die sich nicht sicher waren, als graue.
Gummerus zeigt auf den Block mit den Zeugen aus Lofa County: Es ist fast alles blau, mit ein paar grauen Blöcken zwischendrin. Keine einzige Kachel ist grün. Nicht ein einziger der Zeugen aus Kamatahun Hassala oder den umliegenden Dörfern hat Gibril Massaquoi als Täter erkannt. 71 der insgesamt 91 Zeugen hat man die Fotos gezeigt, nur acht haben Massaquoi identifiziert. Sie kamen alle aus der Hauptstadt Monrovia. Für alle ihre Vorwürfe hat Massaquoi ein Alibi.
»Merkwürdig, oder?«, sagt Gummerus.

Der Mann, mit dem dieser Fall begann, sitzt auf der Dachterrasse des Boulevard Palace Hotel in Monrovia. Hier oben ist die Stadt nur ein fernes Rauschen und Hupen. Hassan Bility zeigt seine Narben, eine in jeder Armbeuge. »Das ist das Zeichen, das er zurückgelassen hat.« Er meint Massaquoi. Dort habe das Seil hineingeschnitten. Bility ist ein kleiner Mann mit etwas abstehenden Ohren, der bekannteste Menschenrechtsaktivist in Liberia.
Die Narben, die er zeigt, sind das Resultat einer verbreiteten Foltermethode während des liberianischen Bürgerkrieges: Die Arme werden so eng hinter den Rücken geschnürt, dass sich die Ellenbogenspitzen berühren. Es ist ungemein schmerzhaft. Innerhalb von Minuten verliert man jedes Gefühl in den Armen. Bility sagt, es sei Massaquoi gewesen, der ihn so gefesselt habe, im Jahr 2002, in einem Folterkeller des Taylor-Regimes in Klay Junction, 35 Kilometer nördlich von Monrovia. Es ist der dritte mutmaßliche Tatort. Die finnische Staatsanwaltschaft hat Massaquoi aufgrund von Bilitys Beschreibung wegen Folter angeklagt.
Bility war Journalist, einer der wenigen, die es wagten, kritisch über Charles Taylor zu schreiben. Mehrfach haben Taylors Sicherheitskräfte ihn verhaftet, gefoltert, schließlich hat man ihn des Landes verwiesen. Bility ging in die USA. Nach dem Krieg kam er zurück und gründete eine Nichtregierungsorganisation, das Global Justice and Research Project (GJRP). Bilitys Organisation sammelt Beweise gegen liberianische Kriegsverbrecher, die im Ausland leben, und leitet sie an europäische und amerikanische Staatsanwaltschaften weiter. Mehrere Kriegsverbrecher sitzen aufgrund seiner Arbeit bereits im Gefängnis, unter anderem in der Schweiz und den USA.
Im Jahr 2009 trat Bility im Verfahren gegen Charles Taylor in Den Haag als Zeuge auf. Er erwähnte, dass Massaquoi ihn gefoltert habe. Bility erinnerte sich so: »Er fragte mich, ob ich wisse, was der Name Gibril bedeute, und ich sagte Ja, weil ich Arabisch spreche. Ich sagte, es heißt Gabriel. Er sagte: Okay, ich bin dein Engel Gabriel.«
Damals hat diese Aussage niemanden interessiert. Es ging um Taylor, nicht um Massaquoi. Erst Jahre später sammelte Bilitys Organisation weitere Belege für Massaquois Schuld – und löste damit dessen Verhaftung in Finnland aus.
Das Seltsame ist: Bility war der Einzige, der je erwähnte, dass Massaquoi sich »Angel Gabriel« genannt habe. In keinem der vielen Texte über die RUF, in keinem Interview, keiner anderen Quelle – nicht einmal im mehrere Tausend Seiten langen Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Sierra Leone – wird dieser Kampfname verwendet.
Bis zu dem finnischen Gerichtsverfahren. Da sagte plötzlich die große Mehrzahl der Zeugen, Massaquoi habe sich »Angel Gabriel« genannt.
Wie passt das alles zusammen?
Womöglich liegt die Erklärung darin, dass die finnischen Polizisten um Elfgren Hilfe benötigten, als sie für ihre Ermittlungen nach Liberia kamen. Sie brauchten jemanden, der sich vor Ort auskannte, der Zeugen finden und Interviews übersetzen konnte. Sie brauchten einen sogenannten Fixer.
Wer so wenig von einem Land weiß wie die Finnen von Liberia, ist den lokalen Hilfskräften ausgeliefert. Die Übersetzer steuern, was die Fremden verstehen und was nicht. Die Finnen stellten einen Mann namens Albert Kollie an. Kollie ist einer von 14 Mitarbeitern von Hassan Bilitys NGO. Die Finnen liehen ihn dort für mehrere Monate aus. Sie bezahlten sein Gehalt in dieser Zeit. Kollie war für die Finnen absolut unverzichtbar. Er hat nahezu alle Zeugen in Monrovia und Lofa County gefunden, die vor Gericht gegen Massaquoi aussagten.
Kollie sollte potenzielle Zeugen nicht selbst interviewen, sondern nur an die finnische Polizei weiterleiten, die das Gespräch dann führen würde. Das war wichtig: Erinnerungen lassen sich leicht manipulieren. Schon die Nennung eines Verdächtigen kann dazu führen, dass Zeugen glauben, in ihm den Täter zu erkennen. Die Opfer müssen von selbst auf den Namen kommen.
Kollie beschrieb sein Vorgehen vor Gericht so: »Ich fragte die Zeugen, ob sie bereit wären, über die Aktivitäten der RUF zu sprechen. Einen Namen habe ich nicht genannt. Ich sagte ihnen, dass sie der Polizei einfach erzählen sollten, was sie erlebt hatten. Einige wollten dann noch mehr Informationen, aber ich sagte ihnen: Nein.«
Wer so vorgeht, wird in viele Sackgassen laufen, zahlreiche Gespräche führen mit Menschen, die sich zwar an den Krieg erinnern, an Morde, aber nicht an die Morde, um die es hier geht, nicht an diesen Verdächtigen. Er wird viel Zeit vergeuden.
Doch das passierte nicht.
In nur dreieinhalb Monaten fand Kollie Dutzende Zeugen, die Massaquoi unzählige Verbrechen in Monrovia und Lofa County zur Last legten. Das ist erstaunlich. Als Kollie vor Gericht erklären soll, wie ihm dies gelungen ist, sagt er, er sei einfach durch die Stadt gezogen. Er gibt ein Beispiel: »Ich gehe in die Ataya-Shops« – Lokale im Zentrum von Monrovia, in denen grüner Tee mit Minze serviert wird. Andere Zeugen habe er in öffentlichen Verkehrsmitteln gefunden, in Bussen und Sammeltaxis. Einen Mann entdeckte er beim Seifekaufen. Jedes Mal habe er zufällig Gespräche der Menschen über den Krieg mitgehört. Kollie sagt, er habe nie explizit nach Massaquoi gefragt.
Massaquois Anwalt hält das für unglaubwürdig. Er fragt, wieso sich jeder einzelne Zeuge, den Kollie fand, ausgerechnet an Massaquoi erinnern konnte.
»Keine Ahnung, ich habe einfach akzeptiert, was sie mir erzählt haben«, sagte Kollie.
Ob er darauf gedrungen habe, dass die Zeugen Massaquoi erwähnen?
»Nein, gar nicht.«
Albert Kollie sagt, er sei an jeder Ecke auf Gibril Massaquoi gestoßen. Dass das nicht stimmen kann, wird klar, wenn man noch einmal einen Blick in den Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Liberia aus dem Jahr 2009 wirft. Mehr als 17.000 Zeugenaussagen aus dem Krieg hat die Kommission aufgenommen. Aber weder Gibril Massaquoi noch »Angel Gabriel« werden je erwähnt. Wenn Massaquoi in Liberia Kriegsverbrechen begangen hat, dann im Verborgenen. Es kann nicht viele Menschen geben, die davon erzählen können.
Wieso ist den finnischen Ermittlern nicht aufgefallen, dass hier etwas nicht stimmt?
Einmal während der Verhandlung merkt der Vorsitzende Richter Juhani Paiho an, dass Menschen dazu tendieren, Geschichten zu glätten, nach Kohärenz zu suchen, Lücken zu schließen. Besonders in der Fremde bleibe einem oft nichts anderes übrig.
Albert Kollie hat den Ermittlern der finnischen Polizei gegeben, was sie wollten: einen Schuldigen. Sie haben das Geschenk bereitwillig angenommen.
Das finnische Gericht hat dabei unabsichtlich selbst einen Anreiz geliefert, der es leicht machte, Zeugen zu manipulieren: Jeder, der in dem Verfahren aussagte, bekam ein Reisegeld, das nach finnischen Maßstäben klein, nach liberianischen aber riesig war. Die meisten Zeugen gingen mit Beträgen um die 100 Dollar nach Hause, einige, die sagten, dass sie von weit her kamen, mit bis zu 500 Dollar. Es gab eine Tagespauschale von 20 Dollar.
Juhani Paiho, der Vorsitzende Richter, sagt, er könne sich nicht vorstellen, dass dies die Zeugen massiv beeinflusst habe. Die Finnen scheinen manchmal nicht ganz zu verstehen, wie arm die Menschen sind, die da vor ihnen saßen: Das mittlere Tageseinkommen in Liberia liegt bei zwei Dollar. Viele der Zeugen nahmen genug Geld mit nach Hause, um ihre Familien mehrere Monate zu ernähren.

Es gibt keine Garantie, dass man durch physische Nähe der Wahrheit näher kommt. Man kann ganz nah dran sein und doch nur das Falsche sehen. Man kann weit reisen und doch alles missverstehen. Gleichzeitig ist der Gerichtssaal ein gutes Korrektiv. Im Kreuzverhör zerfallen Erfindungen oft. Kriegsverbrecherprozesse müssen die Möglichkeit eines Freispruchs lassen. Sie müssen demonstrieren, dass die Abwägung von Beweisen im Rechtsstaat offen ist. Selbst jemand wie Gibril Massaquoi, der tief verstrickt war in einen der grausamsten Kriege der letzten Jahrzehnte, muss darauf hoffen können, am Ende als freier Mann nach Hause zu gehen, wenn es nicht möglich ist, ihm die Verbrechen, derentwegen er angeklagt ist, nachzuweisen. Auch der Freispruch eines schlechten Mannes kann richtig sein.
Es ist ein kalter, regnerischer Tag im November 2021 in Tampere. Alle Zeugen in Liberia sind befragt, die mutmaßlichen Tatorte besichtigt worden. Das Gericht ist zurück in Finnland, und Massaquoi wird ein zweites und letztes Mal befragt. Er trägt eine schwarze Bomberjacke und einen grauen Rollkragenpullover. Sein Verteidiger fragt ihn: »Wie oft sind Sie im Frühjahr und Sommer 2003 zum Sondergericht gefahren?«
»Mehrere Male, wann immer sie mich brauchten.«
»Ist es je passiert, dass die Ermittler Sie sehen wollten, und Sie waren nicht da?«
»Nein, niemals.«
Massaquoi gibt an diesem Tag von 9.30 bis 18 Uhr konzentriert Auskunft. Er bleibt ruhig, er macht sich Notizen, alles, was er anführt, klingt plausibel. Am Ende sagt er: »Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde tun, was die Staatsanwaltschaft mir vorwirft.« Niemand würde aus der Sicherheit eines Zeugenschutzprogramms in ein Kriegsgebiet fahren, zu einem größenwahnsinnigen Diktator, der seine Vertrauten reihenweise umbringen ließ, weil er sie des Verrats verdächtigte.
Für die Morde in Monrovia hat Massaquoi ein Alibi. Von den vermeintlichen Zeugen in Lofa County kann ihn niemand identifizieren. Und bei der Folter in Klay Junction steht Aussage gegen Aussage. »Ich war nie da«, sagt Massaquoi.
All dies bedeutet nicht, dass Massaquoi unschuldig ist. Vielleicht hat er doch in Liberia gemordet, vielleicht hat er wirklich Hassan Bility gefoltert. Aber es lässt sich nicht beweisen.
Das Urteil ergeht am 29. April 2022, schriftlich verkündet, per E-Mail versandt: »Der Angeklagte Gibril Massaquoi wird in allen Anklagepunkten freigesprochen«, heißt es auf Seite 31 von 850 Seiten.
Kaarle Gummerus, der Verteidiger von Massaquoi, sagt am Telefon, er werde für seinen Mandanten eine Entschädigung von mehreren Hunderttausend Euro für die lange Zeit in Haft fordern.
Tom Laitinen, der Staatsanwalt, legt Anfang dieser Woche Berufung gegen das Urteil ein. Massaquoi selbst sagt, er würde gerne eine Doktorarbeit schreiben – über seinen eigenen Prozess.