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True Story Award 2023

Die zwei Gesichter des Mister Wirecard

Markus Braun stand fast 20 Jahre an der Spitze von Wirecard. Seit dem Absturz seines Konzerns sitzt er im Untersuchungsgefängnis. Nun entscheidet das Oberlandesgericht München über seine Haft. Brauns Anwälte zeichnen das Bild eines betrogenen Visionärs. Weggefährten erzählen eine andere Geschichte.

Seine Hände zittern, alle Farbe weicht aus dem Gesicht von Markus Braun, als er hört, wie viele Mitarbeiter sich vor seinem Büro versammelt haben. In Gruppen stehen sie an diesem 18. Juni 2020 vor den Türen des Vorstandsflurs im vierten Stock der Firmenzentrale in Aschheim bei München, berichten Anwesende.
Um 10.43 Uhr hat Wirecard vermeldet, den Jahresabschluss 2019 nicht vorlegen zu können. In der Bilanz klafft ein Loch von 1,9 Milliarden Euro. Die Mitarbeiter wollen Antworten vom Chef - und Braun hat keine. Ein Augenzeuge: „Es herrschte Lynchstimmung.“
Brauns engste Mitarbeiter verbarrikadieren ihn in seinem Büro. Sicherheitsleute verschließen die Feuerschutztüren zum Treppenhaus und den Aufzügen. Ein Leibwächter weicht Braun nicht mehr von der Seite. Am Abend gibt er eine Erklärung ab. „Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist“, sagt Braun. Später fährt ihn sein Chauffeur nach Hause. Es ist fast Mitternacht, als der Maybach vor Brauns Wohnung im Münchener Nobelstadtteil Bogenhausen ausrollt.
Am nächsten Tag tritt Braun zurück. Es ist keine freiwillige Entscheidung. Sein Aufsichtsrat hat Braun nur eine Alternative genannt: Rausschmiss. Trotzdem scheint er nicht ganz zu begreifen, was gerade passiert. „Ich komme nicht mehr ins System, rufen Sie die IT“, herrscht Braun seine Sekretärin an. Schließlich begleitet ihn der Compliance-Chef in die Tiefgarage, wo Brauns Fahrer wartet.
Am Nachmittag ruft der gefallene Chef Geschäftsfreunde an. Sein Anliegen überrascht die meisten: Braun bittet sie um Geld. Der Aktienkurs sei günstig, er wolle Wirecard übernehmen und als Eigentümer führen. Braun: „Und dann starten wir richtig durch!“
Es kommt anders. Drei Tage später stellt sich Markus Braun der Staatsanwaltschaft München und kommt in Untersuchungshaft. Tags darauf darf Braun gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro auf freien Fuß. Aber schon am 22. Juli 2020 wird er aufgrund eines erweiterten Haftbefehls erneut festgenommen. Ein Kronzeuge hat ausgepackt, die Staatsanwälte werfen Braun nun ein ganzes Sammelsurium von Wirtschaftsstraftaten vor: gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Untreue und Marktmanipulation.
Wirecard ist an diesem Tag nur noch ein Trümmerhaufen. Der Aktienkurs liegt unter zwei Euro - 98 Prozent weniger als beim Höchstkurs im Herbst 2018. Aktionäre haben mehr als 20 Milliarden Euro verloren. Drei Tage später muss der Finanzkonzern Insolvenz anmelden - es ist das erste Dax-Unternehmen, dem das je widerfuhr. Die halbe Republik fragt sich: Was genau ist da bei Wirecard eigentlich passiert? Und wie? Wer war in diesem größten Betrugsfall in der Geschichte der Bundesrepublik Täter, wer Opfer?
Bei all diesen Fragen führt kein Weg an Markus Braun vorbei. Jetzt, ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung, muss entschieden werden, ob er weiter in Haft bleibt. Die Staatsanwaltschaft hat am Donnerstag dafür dem Oberlandesgericht München die Akten zur Haftprüfung vorgelegt.
Brauns juristische Schuld ist nicht erwiesen. Doch der Österreicher war der Schöpfer jener Managementstruktur und Firmenkultur, die den Betrug erst möglich machten. „Es scheint mir schwer vorstellbar, dass ein langjähriger CEO von einem Betrug in diesem Ausmaß nichts mitbekommen haben könnte“, sagt sein Nachfolger, James Freis, im Interview (Seite 50).
Das Handelsblatt hat das System Braun ausgeleuchtet. Vertraute, Mitarbeiter und Freunde haben sich geöffnet. Sie zeichnen das Bild eines extremen Charakters. Etliche der Weggefährten sprachen zum ersten Mal mit Journalisten, viele sind geschockt vom Totalabsturz des Unternehmens. Manche ahnten, dass etwas nicht stimmte, sagen sie heute. Aber niemand kannte das ganze Bild, das ganze System Braun. Bis jetzt.

1. Vom Berater zum Chef
Markus Braun wird am 5. November 1969 in Wien geboren. Sein Vater ist Volkshochschuldirektor, die Mutter Lehrerin. Braun entwickelt ein enges Verhältnis zu seiner Schwester. Sie wird einmal Rechtswissenschaften studieren.
Braun besucht das Gymnasium Fichtnergasse in Wien, beginnt anschließend ein Studium mit Zukunft: Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien. Gabriele Kotsis, die Betreuerin seiner Doktorarbeit, beschreibt ihn als „beeindruckend ehrgeizig“. Seine Dissertation „Graph Based Characterization of Parallel Programms“ schließt er im Januar 2000 ab.
„Es war ein sehr anspruchsvolles Thema, Braun suchte die Herausforderung“, erinnert sich Kotsis, heute Professorin in Linz. Sie beschreibt ihn als angenehmen, zurückhaltenden Kollegen, der sehr auf seine Arbeit fixiert gewesen sei.
Braun hätte in die Wissenschaft gehen können, sagt Kotsis. Doch es zieht ihn in die Wirtschaft, er nimmt eine Stelle bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG an. Ironie der Geschichte: 2020 wird KPMG die Gründe für den Zusammenbruch von Wirecard liefern. 20 Jahre zuvor aber bringt KPMG Braun überhaupt erst mit Wirecard zusammen.
Die Prüfungsgesellschaft schickt ihn als Berater zu einer Vorgängerfirma von Wirecard. Die steckt in Finanznöten, Braun wird vom Berater zum „Chief Technology Officer“. Dann folgt ein Übernahmeversuch mit weitreichenden Konsequenzen. Die Münchener Electronic Business Systems (EBS) will Wirecard, damals Wire Card geschrieben, kaufen. Die Verhandlungen scheitern, Wire Card meldet Insolvenz an, schließlich übernimmt EBS doch.
Ex-Manager werfen Braun später im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ vor, Wire Card erst sturmreif gemacht zu haben. Braun bezeichnet das als Unsinn. 2002 übernimmt er beim Zusammenschluss die Führung als CEO. Aus Markus Braun wird Mister Wirecard.

2. In der Schmuddelecke
Es ist eine Entscheidung Brauns, die sich nicht unbedingt aufdrängt. Wirecard wickelt nun Zahlungsverkehr für Pornoseiten ab, damals per sogenannten Dialern über die Telefonrechnung. Kunden tragen Namen wie Asiasex.com und Sex-luder.de.
Braun hat damit einen Job bei KPMG, einer der vier größten Prüfungsgesellschaften der Welt, gegen eine Schmuddelecke der Wirtschaft getauscht. Es zeigt sich eine erste Konstante im System Braun: Bei der Wahl seiner Geschäftspartner ist er nicht zimperlich.
Die Geschäfte laufen blendend. 2008 liegt Wirecards Umsatz schon bei 200 Millionen Euro, der Aktienkurs erstmals über zehn Euro. Neben Sex verdient Brauns Unternehmen beim Online-Glücksspiel - ein Geschäft mit Fallstricken.
2006 hat der US-Gesetzgeber Banken und Kreditkartenfirmen verboten, Zahlungsaufträge von Online-Glücksspielern abzuwickeln. Die USA sind der größte Glücksspielmarkt der Welt. Doch während einzelne Anbieter nach dem Verbot brutal abstürzen, scheint Wirecard von den gesetzlichen Einschränkungen unberührt.
Früh melden sich deshalb Skeptiker. 2008 äußert im größten deutschen Börsenforum „Wallstreet Online“ ein Nutzer Zweifel an Wirecards Story. Das Unternehmen sei intransparent, Geldflüsse würden falsch kategorisiert. Konkret: Wirecard würde weiter Onlineglücksspiel-Zahlungen in den USA abwickeln, sie aber anders deklarieren. Es wäre zudem fraglich, welche Vermögenswerte Wirecard und welche den Kunden gehörten. Und warum leiht sich Wirecard eigentlich ständig Geld, wo das Unternehmen doch angeblich so profitabel ist?
Die Skeptiker bekommen ein zweites Charakteristikum des Systems Braun zu spüren: hartes Vorgehen gegen Kritiker. Als die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger die Vorwürfe aus dem Internetforum aufnimmt, verklagt Wirecard die Aktionärsschützer auf einen Millionenbetrag. Bei einem der Zweifler taucht ein Wirecard-Anwalt in Begleitung zweier Boxer auf, sie schüchtern ihr Gegenüber ein. Am Ende hat Wirecard Erfolg, auch weil die Kritiker selbst nicht sauber sind: Sie setzten vor der öffentlichen Diskussion auf fallende Kurse von Wirecard.
Heute weiß man: Die Kreditkartennetzwerke Visa und Mastercard belegten Wirecard seinerzeit mit Vertragsstrafen für die mutmaßlich umdeklarierten Geschäfte. Wirecard zahlte eine zweistellige Millionensumme.
Das ist damals viel Geld für Wirecard, der Gewinn liegt 2009 bei 60 Millionen Euro. Die zentrale Geschäftsbeziehung zu den Kreditkartennetzwerken war offensichtlich in Gefahr. Die Öffentlichkeit erfährt vom Ausmaß der Probleme nichts. Braun spielt sie auf der Bilanzpressekonferenz 2010 herunter.

3. Der Chef als Opfer
Braun übt in diesen Jahren eine Rolle ein, die er bis heute beherrscht: die des Opfers. Er habe Vertrauen in die Münchener Staatsanwaltschaft, den Sachverhalt und den Verbleib der „veruntreuten“ Wirecard-Gelder aufzuklären, erklärt Braun im November 2020 vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. Wer die Milliarden veruntreut haben könnte, sagt Braun nicht. Jeder im Raum weiß trotzdem, wen er meint: Jan Marsalek.
Der langjährige Asienvorstand von Wirecard prangt auf Fahndungsplakaten an deutschen Litfaßsäulen, ist auch international zur Fahndung ausgeschrieben. Vielflieger kennen sein Gesicht von den Steckbriefen an den Sicherheitskontrollen. Auch das gab es noch nie: gestern Dax-Vorstand, heute gejagt wie ein RAF-Terrorist.
Nun verdient Marsalek gewiss viel Aufmerksamkeit. Der Manager, der sich mit Geheimdienstkontakten brüstete, soll Bargeldverstecke rund um den Globus angelegt haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er es, der die Wirecard-Bilanzen um Milliarden aufblähte. Doch konnte Marsalek all dies tun, ohne dass sein Chef und enger Vertrauter Markus Braun etwas davon mitbekam? Je näher man sich mit Brauns Charakter und seinem Führungsstil beschäftigt, desto größer werden die Zweifel an dieser These.
Das Bild, das Braun von sich zeichnet, sieht so aus: beruflich Visionär, privat bodenständig. Er kleidet sich wie Steve Jobs, der legendäre Gründer von Apple. Im Rollkragenpullover verkündet Braun immer neue Geschäftsideen, predigt auf Konferenzen vom Bezahlen der Zukunft und dem „nächsten evolutionären Schub“, den die Künstliche Intelligenz bringen werde.
Den schmuddeligen Anfängen des Unternehmens sei Wirecard längst entwachsen, sagt Braun. Glückspiel- und Erotik-Zahlungen würden nur noch einen verschwindend geringen Umsatzanteil ausmachen. Lieber verweist er auf Kunden aus dem deutschen Mittelstand, etwa die Brauerei Schneider Weiße und der Regensburger Senf-Produzent Händlmaier.
Jenseits von Wirecard pflegt Braun das Image der Bescheidenheit. Spät, mit Ende 40, Vater geworden, genieße er das Familienglück mit Frau und Tochter. Seine Frau lernte Braun im Konzern kennen, verheiratet sind die beiden seit den Nullerjahren. Fragt man Menschen, die es gut mit ihm meinen, nennen sie für Braun Eigenschaften wie „bescheiden“ und „nicht an Materiellem interessiert“. Ein enger Bekannter beschreibt ihn als verhaltenen und sensiblen Menschen. „Er lebt eher zurückgezogen, hat einen kleinen Freundeskreis. Die Familie ist ihm sehr wichtig.“ Die österreichische Zeitung „Die Presse“ schrieb noch im Sommer 2020 über Braun: „Keine Jachten, keine Privatjets, keine berauschenden Partys.“
Die Geschichte vom bescheidenen Visionär, der sein Unternehmen aus der Pornoecke des Internets zum führenden Anbieter im seriösen Zahlungsverkehr entwickelt, hat nur ein Problem: Nach Handelsblatt-Recherchen blendet sie große Teile der Realität aus.

4. Luxusmensch Braun
Mitarbeiter berichten von einem anderen Braun. Bald nach seinem Start bei Wirecard tauschte Braun die Anzüge von der Stange gegen feineren Zwirn ein. „Er trug eigentlich nur noch Armani, Eton-Hemden, Dolce & Gabbana mit Namensetikett, teure Uhren“, sagt einer. „Sein Statusbewusstsein ist immer größer geworden.“
In den ersten Jahren als CEO geht Braun oft in den Wiener Volksgarten, später in teurere Lokale der österreichischen Hauptstadt. Im Promitreffpunkt „Zum Schwarzen Kameel“ und im Luxusitaliener „Fabios“ Nähe Stephansdom wird er Stammgast. Hier hält der Wirecard-Chef am Wochenende Hof, bezahlt oft die Rechnung für den ganzen Tisch. Spirituosen für 2000 bis 3000 Euro werden entkorkt, erinnern sich Teilnehmer.
Im Traditionshotel „Zum Hirschen“ am Altaussee feiert Braun das österreichische Oktoberfest, gern in Lederhose und Trachtenjanker im VIP-Bereich. In Kitzbühel besucht er die Ski-Events der Alpenrepublik. Oder er vergnügt sich mitsamt Entourage an der Côte d'Azur.
Auch in Aschheim ist derweil offenbar das Beste gerade gut genug. So etwa bei der Ausstattung der Büros in der Zentrale. Hier engagiert sich vor allem Brauns Ehefrau, die offenbar eine Einrichtung nach Feng-Shui-Prinzipien bevorzugt. „Sie hat Uhren für 500 Euro aufhängen lassen, Vitra-Möbel bestellt, Sitzgruppen für Abertausende Euro. Irgendwann ist sogar von Erffa der Kragen geplatzt“, dem Leiter des Rechnungswesens, erzählt ein Manager. Eine Kollegin erinnert sich, wie Frau Braun regelmäßig durch die Teeküchen gegangen sei und Tupperboxen der Mitarbeiter weggeschmissen habe: „Plastikschüsseln waren ihr ein Dorn im Auge.“
Dies, erzählen Augenzeugen, sei ein weiteres typisches Merkmal im System Braun gewesen: Das Geschäftliche und das Private seien ständig miteinander verflochten.
„Ich will es einmal so sagen: Es gab Mitarbeiterinnen, die einen Dienstwagen bekamen, und solche, die keinen bekamen. Bei gleicher Tätigkeit“, sagt jemand, der Einblick hatte.
Eine von denen, die von Braun offenbar besonders behandelt werden, heißt Sandra B. (Name geändert). Für viele völlig überraschend sollte die Mitarbeiterin Ende 2018 in eine Führungsposition aufsteigen. Interne Mails zeigen, dass Kollegen davor warnten. Sandra B. bringe keine Leistung - Kunden hätten sich bereits beschwert. „Auf dieser Grundlage habe ich klare Bedenken hinsichtlich ihrer Ernennung“, heißt es in einer Mail. „Ich bin besorgt, dass dies negative Auswirkungen auf unsere Abteilung, unsere Wachstumsziele und unseren externen Ruf haben wird.“
Sandra B. wird trotzdem befördert, ihr neues Jahresgehalt beträgt 172.000 Euro, inklusive Bonus und Dienstwagen. „Ich finde dies extrem ungerecht und demotivierend“, schreibt eine Mitarbeiterin an den Finanzvorstand Alexander von Knoop. Es ändert sich nichts. Brauns Anwalt gibt dazu heute auf Nachfrage an, er gehe davon aus, dass das Gehalt angemessen war.
Insider berichten, Braun hätte schon seit Jahren nicht mehr zwischen sich und dem Unternehmen unterschieden. Das interessiert auch die Staatsanwaltschaft. So „gehen wir natürlich jedem Verdacht auf Untreue, zumal wenn sie eigennützig begangen wurde, nach“, erklärt eine Sprecherin. Die Ermittler bezeichnen Wirecard als „streng hierarchisches System, geprägt von Korpsgeist und Treueschwüren gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden.“
„Ob's um Vorstandsbesetzungen ging oder kleinste Ausgaben: Braun hat den Konzern nach Gutsherrenart geführt. Er hat die Firma wie sein Eigentum behandelt“, sagt ein Manager. „Er hat ein Oligarchenleben gelebt. Geld, normale Restriktionen, spielten bei Wirecard überhaupt keine Rolle mehr. Diese Maßlosigkeit war wie von einem anderen Planeten.“

5. Für jeden Zweck ein Haus
Brauns Neigung zum Leben auf großem Fuß zeigt sich schon früh. 2004 überträgt er die Verwaltung seines Geldes an die MB Beteiligungsgesellschaft. 2006 kauft Braun im Wiener Nobelstadtteil Hietzing eine Gründerzeitvilla mit hohen Decken, Stuckfassade und Gartenpool. Das Grundstück verbirgt sich hinter hohen Hecken, geschützt von Überwachungskameras. Hier verbringt Braun die Wochenenden.
Unter der Woche residiert Mister Wirecard in München - erst in einem Nachkriegsbau in der Schumannstraße, dann in einem Jugendstil-Domizil im feinen Bogenhausen, gegenüber der denkmalgeschützten Landesversicherungsanstalt von 1905. Hinter einer messingbeschlagenen Flügeltür führt ein Marmortreppenhaus in den vierten Stock zu Brauns Wohnung mit umlaufenden Balkonen. Im Hochparterre kauft er eine weitere Wohnung für ein mögliches Kindermädchen.
Ein anderes Haus legt sich Braun 2013 im österreichischen Kitzbühel zu, laut Kaufvertrag für 11,7 Millionen Euro. Der Wirecard-Chef fährt gern Ski - sein Ferienrefugium ist das letzte Grundstück am Ende eines Weges, malerisch am Hang gelegen.
Auch in Frankreich wird Braun Immobilienbesitzer. In Ramatuelle am Golf von St. Tropez kauft er ein Anwesen mit Pool und versenkbaren Glaswänden.
Am 10. August 2018 gründet Braun eine zweite, bisher unbekannte Beteiligungsgesellschaft, die SMB Ramatuelle. Laut dem französischen Handelsregister ist diese auf „die Vermietung von Grundstücken und anderen Immobilien“ spezialisiert. Braun ist alleiniger Geschäftsführer. Nach Auskunft seines Anwalts ist die Gesellschaft inaktiv und hielt nie Vermögenswerte. Braun hält zwei Autos in Südfrankreich bereit - ein Mercedes GLC für eigene Fahrten und einen V-Klasse-Bus, mit dem Freunde vom Flughafen abgeholt werden.
Es ist ein Leben, das Braun sich leisten kann - so denn die Zahlen in der Wirecard-Bilanz stimmen. 2014 überspringt der Umsatz die Latte von 600 Millionen Euro. In seiner privaten Beteiligungsgesellschaft bunkert Braun inzwischen ein Anlagevermögen von 34 Millionen Euro, ein Jahr später sind es mehr als 57 Millionen Euro.
Braun besitzt rund sieben Prozent der Aktien von Wirecard. Knapp die Hälfte davon ist 2017 an die Deutsche Bank verpfändet. Die 4,1 Millionen Aktien haben einen Gegenwert von 350 Millionen Euro. Braun nimmt sich von der Deutschen Bank einen Kredit über 150 Millionen Euro. Mit einer weiteren Beteiligungsgesellschaft, genannt „Holy Ghost“, investiert er in Start-ups.
Je höher der Aktienkurs von Wirecard steigt, desto mehr ist sein Anteil wert - und desto kreditwürdiger wird Braun. Steigende Gewinne erhöhen außerdem seine Dividenden - und auch Brauns Vorstandsboni sind an das Konzernwachstum gekoppelt. Diese Systematik ist der Staatsanwaltschaft nicht verborgen geblieben. Sollte Braun die Geschäftszahlen selbst frisiert haben, hätte er sich persönlich bereichert.

6. Wachstum, Wachstum, Wachstum
Spätestens ab 2015, sagt heute die Staatsanwaltschaft, sei den Wirecard-Zahlen nicht mehr zu trauen. Gewinne stammten trotz aller Beteuerungen fast ausschließlich aus dem Geschäft mit Hochrisikobranchen wie Online-Pornografie, - Glücksspiel und - Tradingseiten. Umsätze sollen dramatisch aufgebläht gewesen sein.
„Ich kenne niemanden, der über einen so langen Zeitraum ein so lineares Wachstum gezeigt hat wie Wirecard“, sagt ein ehemaliger Vorstand des Unternehmens.
Er meint das nicht als Kompliment. Niemand habe die ständigen Anstiege bei Umsatz und Ergebnis erklären können.
Je größer Wirecard wird, desto rastloser wird der Chef. Der Drang nach Größe ist eine weitere Konstante im System Braun. Ein langjähriger Mitarbeiter erinnert sich: „Er hat immer an neuen Ideen gesponnen, Leute angerufen, gesagt: 'Wir könnten doch noch Versicherungen anbieten, dies und das, macht euch Gedanken!' Dann hat er aufgelegt - und nach zehn Minuten wieder angerufen: 'Na, habt ihr schon ein Ergebnis?'„
Solch unbändiger Vorwärtsdrang ist ein Kennzeichen vieler Unternehmer. Mitarbeitern allerdings fällt bei Braun ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Während er Wirecard nach außen als hochinnovatives Unternehmen darstellt, basiert das zentrale IT-System der Wirecard Bank bis zum Schluss auf einer jahrzehntealten Lösung des früheren Volksbankendienstleisters GAD.
Der promovierte Wirtschaftsinformatiker Braun zeigt in seinem Managementstil eine seltsame Unwucht: Operatives Geschäft, Technologie und Produktentwicklung interessieren ihn kaum. Geradezu obsessiv kümmert er sich stattdessen ums Finanzielle und um die Außendarstellung.
„Fürs Tagesgeschäft war er schon lange nicht mehr relevant“, sagt ein Topmanager über Braun. Schon in den Nullerjahren habe der Chef einzelnen Abteilungen viel zu viel Freiraum gelassen. „Die Vertriebsseite hat zu Kundenfragen nie Nein gesagt. Die ganzen Sonderwünsche haben die Programmierer völlig überfordert.“ Wie seine Ideen technisch umgesetzt werden sollten, habe Braun eigentlich nie gekümmert.
So wenig der Chef sich für Technik und Prozesse interessiert habe, so tief steckte er im Zahlenwerk. Ein Mitarbeiter: „Regelmäßig rief Braun durchs Vorzimmer, Stephan von Erffa solle kommen. 30 Sekunden später stürmte der Chefbuchhalter mit aufgeklapptem Laptop in sein Büro. Dann haben sie sich stundenlang zurückgezogen und sind die Zahlen durchgegangen.“ Von Erffa sitzt heute ebenfalls in Untersuchungshaft. Ein Insider über Braun: „Wir haben immer gesagt, der hört, wenn in der Firma ein Bleistift runterfällt.“
Ähnlich detailverliebt sei er bei der Imagepflege gewesen. „Pressemeldungen waren ihm wahnsinnig wichtig“, berichtet ein ehemals hochrangiger Angestellter. „Selbst bei kleinsten positiven Nachrichten hakte er nach: Ist schon eine Pressemitteilung fertig?“ Er habe diese Meldungen selbst dann veröffentlichen wollen, wenn etwa neue Geschäftspartner mit den geschlossenen Verträgen eigentlich gar nicht an die Öffentlichkeit wollten. Ein Ex-Vorstand sagt: „Im Grunde war alles darauf ausgerichtet, eine Story für die Kapitalmärkte zu produzieren.“

7. „Absolut gefühlskalt“
Innerhalb des Unternehmens müht sich Braun weniger um sein Image. Geburtstage von engen Mitarbeitern habe er meist vergessen, Geschenke gab es nie. „Ehrliche Herzlichkeit habe ich von ihm nie erlebt. Er ist absolut gefühlskalt“, sagt ein Mitarbeiter. Auf die Frage, wie es ihm gehe, habe Braun immer mit einem Wort geantwortet: „Hervorragend!“ Der vermeintliche Erfolg von Wirecard habe den Chef nicht zum Besseren verändert. Braun sei von Jahr zu Jahr launischer geworden.
So schwierig Braun im persönlichen Umgang auch sei, so wichtig sei ihm sein Ansehen, erzählen enge Mitarbeiter. Besonders in der Wiener Gesellschaft sucht Braun Anerkennung. Stefan Klestil, den Sohn des früheren österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil, holt er in den Wirecard-Aufsichtsrat.
Bei einer Wiener Gartenparty trifft Braun auch Sebastian Kurz, den heutigen österreichischen Bundeskanzler. Braun wird Mitglied in Kurz' Denkfabrik „Think Austria“, die ihn im Wahlkampf berät. Braun spendet eifrig an Parteien. Laut der Zeitung „Der Standard“ erhalten die liberalen Neos zwischen 2014 und 2016 insgesamt 125.000 Euro, 2017 sind es 70.000 Euro für die konservative ÖVP von Kurz.
2018 erkennt der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis den Wirecard-Chef auf dem Wiener Afrikagipfel, begrüßt ihn auf Deutsch mit „Guten Tag, Herr Braun“. So etwas sei für ihn das Größte gewesen, sagt ein Insider. „Es ging immer ums Ego.“

8. Die Attacke
Im Februar 2016 bekommt dieses Ego einen empfindlichen Stoß. Die britische Zeitung „Financial Times“ (FT) berichtet über den sogenannten „Zatarra“-Report, eine Studie mit damals unbekannter Urheberschaft. Sie wirft Wirecard Geldwäsche, Abwicklung illegalen Online-Glücksspiels und Bilanzbetrug vor. Braun, so die Studie, müsse von diesen Geschäften wissen.
Er wusste es aber nicht, sagen heute seine Anwälte. Ihre Darstellung: Braun wurde von seinen Mitarbeitern hintergangen.
Die Verfasser der Studie geben ein Kursziel für die Wirecard-Aktie aus: null Euro. Mehr als vier Jahre vor der tatsächlichen Insolvenz prophezeien sie damit die Pleite von Wirecard. Der Kurs fällt um 25 Prozent, Braun schlägt zurück. Alle Anschuldigungen, so sagt er, seien frei erfunden. Wirecard spricht von einem Komplott, fordert Hilfe von der deutschen Finanzaufsicht Bafin, die beginnt mit Ermittlungen wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. In Sachen Wirecard aktive Short-Seller und Journalisten berichten in der Folge von jahrelang andauernden Hackerattacken - teils auch körperlichen Einschüchterungen. Wirecard streitet eine Beteiligung ab, räumt gegenüber dem Handelsblatt später nur eine Beschattung ein.
Drei Monate später ist der Sturm überstanden. Der Aktienkurs steht dort, wo er vor der „Zatarra“-Attacke war - bei knapp über 40 Euro. Zwischendurch legt Wirecard neue Geschäftszahlen vor. Alles ist wie immer: enormes Wachstum. Allein der Jahresüberschuss steigt um 40 Prozent.

9. Unterwegs mit Lady S.
Braun kann sich entspannen. 2017 folgt, was Wirecard-Mitarbeiter den „Sommer ohne Vorstand“ nennen. Finanzvorstand Burkhard Ley sei wie üblich ausgedehnt im Urlaub gewesen, Braun und Marsalek für ihre Kollegen nicht aufzufinden. Ein Topmanager: „Der Konzern war wochenlang auf Autopilot.“
Wo steckt Braun? Die Antwort findet sich in Schiffsregistern. Brauns Jacht in diesem Sommer heißt „Lady S“, heutiger Name: „Lady E“. 74 Meter lang, Baujahr 2006, mit diversen Extras ausgestattet, darunter einer aufblasbaren Megarutsche. Mietpreis inklusive Besatzung: eine knappe halbe Million Euro pro Woche.
Das Handelsblatt hat die Bewegungen der Jacht im Sommer 2017 verfolgt. Braun fährt demnach die ersten zwei Augustwochen eine Traumroute ab: vom südfranzösischen Antibes nach Èze-Bord-de-Mer, Cannes, der Île Sainte-Marguerite, weiter nach Saint-Tropez, Ramatuelle und zurück. Am 13. August geht Braun laut Insidern in Antibes von Bord, am Quai des Milliardaires.
Zu seinem Domizil in Südfrankreich und zu Geschäftsterminen reist Mister Wirecard in den Jahren vor dem Zusammenbruch fast nur noch per Privatjet. Braun missfallen die Enge und die fremden Menschen in Linienmaschinen, berichten Vertraute. In Wien steht ihm ein eigener Fahrdienst zur Verfügung. Zwischen München und Wien lässt sich Braun von seinem Fahrer im Maybach chauffieren, meist Montagfrüh hin, donnerstagabends zurück.

10. Auf dem Gipfel
War 2017 Brauns Sommer der Abwesenheit, dann ist 2018 sein Herbst des Triumphs. Am 5. September steigt Wirecard in das höchste deutsche Börsensegment auf. „Es gab früher Leute, die ihn ausgelacht haben, weil er mit Wirecard in den Dax wollte“, sagt ein Ex-Vorstand. „Als es so weit war, hat er gesagt: Das ist nur der Anfang.“
Braun ist jetzt ganz oben. Am Tegernsee trifft er CDU-Spitzenmann Friedrich Merz. Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wird Lobbyist von Wirecard, seine Firma erhält „nicht mehr als 760.000 Euro“, sagt er später im Untersuchungsausschuss. Guttenbergs Dienste werden dafür sorgen, dass später sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Chinareise für Wirecard wirbt.
Alle Konstanten, die das System Braun ausmachen, kommen nun zur vollen Entfaltung. War Größe in Brauns Denken schon immer zentrales Ziel, so verspricht er 2018 das Unglaubliche. Er wolle die Marktkapitalisierung von Wirecard in den kommenden Jahren vervierfachen und das Geschäftsvolumen verdreißigfachen. „Wir haben sicherlich das Potenzial, den Börsenwert in den kommenden Jahren auf mehr als 100 Milliarden Euro zu bringen“, sagt Braun. Ein Aktienkurs von 2000 Euro sei durchaus vorstellbar. Braun: „Unser Ziel ist, das größte Dax-Unternehmen zu werden.“
Zweifel haben in diesem Vorhaben keinen Platz. Bei einer montäglichen Vorstandssitzung - Handys sind verboten und Wortprotokolle untersagt - stellt die neue Produktvorständin Susanne Steidl eine Frage an Asienchef Jan Marsalek. Es gebe in seinem Bereich doch ein riesiges Drittpartnergeschäft. Könne er versichern, dass diese Partner keine Zahlungen für Kinderpornografie abwickeln? Marsalek erwidert knapp, das sei ausgeschlossen: Es gebe Geschäfte, die könne er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Man wechselt zum nächsten Tagesordnungspunkt.
Schon im August 2018 ist Wirecard an der Börse mehr wert als die Deutsche Bank. Die klassischen Großbanken stehen für die Finanzwelt von gestern, Wirecard für die Zukunft. „Was honoriert der Markt heute? Wachstum. Das ist der entscheidende Punkt“, sagt Braun 2019 auf dem Handelsblatt-Bankengipfel. Intern gibt er die jährliche Vorgabe von mindestens 30 Prozent aus: 30 Prozent mehr Transaktionsvolumen, mehr Umsatz, mehr Gewinn.
Braun hält an diesen Zukunftsvisionen selbst dann fest, als die Kritiker längst die Gegenwart infrage stellen. Anfang 2019 berichtet die „Financial Times“ über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard in Singapur. Laut einem internen Bericht der Kanzlei Rajah & Tann hat ein Wirecard-Mitarbeiter Bedenken bei der lokalen Rechts- und Compliance-Abteilung geäußert. Die Kanzlei listet „Fälschung von Dokumenten oder Konten, Betrug, Untreue, Korruption und Geldwäsche“ als mögliche Vergehen auf. Wirecards Aktienkurs fällt um 40 Prozent.

11. Braun und Marsalek
Den Kampf gegen seine Kritiker führt das Unternehmen nun mit noch härteren Bandagen. Private Ermittler sind unterwegs, um Redakteure der „Financial Times“ auszuspähen. Die Zeitung hat sich mithilfe von Whistleblowern tief in die Bilanz von Wirecard eingegraben - und schürt ernste Zweifel am Zahlenwerk.
Doch unter Brauns Ägide kann Wirecard erneut die deutsche Finanzaufsicht Bafin davon überzeugen, dass der Konzern nicht Täter ist, sondern Opfer. Die Bafin erlässt ein Leerverkaufsverbot und untersagt damit dem Aktienmarkt, auf fallende Kurse von Wirecard zu setzen. Dann zeigt die Bafin Journalisten der „Financial Times“ bei der Staatsanwaltschaft an.
Unterstützung erhält Braun auch aus seinem engsten Freundeskreis. „Hab ja in der FT gelesen dass du ganz ein Schlimmer bist ;-)“, schreibt Alexander Schütz, Gründer des Investors C-Quadrat und Aufsichtsrat der Deutschen Bank am 17. Februar 2019 an Braun. „Habe übrigens 3x Wirecard-Aktien gekauft letzte Woche, macht diese Zeitung fertig!! :-).“
Auch Freunde, die keine Wirecard-Aktien besitzen, halten 2019 das System Braun für intakt. „Ich kenne ihn seit 20 Jahren“, sagt einer. „Natürlich haben wir über die Firma gesprochen. Aber Markus hat nie den Eindruck vermittelt, dass es irgendwelche Probleme gab. Wenn man ihn nach den Medienberichten fragte, sagte er: 'Ach, irgendwas ist halt immer.'„
Mitten im Sturm steht Braun Seite an Seite mit Jan Marsalek. Ihre Beziehung habe sich über die Jahre verändert, sagen Insider. Früher saßen sie demnach öfter am besten Tisch beim „Käfer“ in München, bestellten Schampus für 350 Euro die Flasche und gaben auch mal 100 Euro Trinkgeld. In den letzten Jahren von Wirecard seien sie nicht mehr privat aus gewesen.
Nie abgerissen sei jedoch das geschäftliche Band. Braun und Marsalek telefonierten häufig miteinander, berichten Mitarbeiter. Wenn der Chef „den Jan“ sprechen will und der nicht abnimmt, lässt Braun seine Sekretärinnen fast minütlich Marsaleks Nummer wählen. Potenziell heikle Telefonate führt Braun mit ihm nie vor seinen Mitarbeitern: „Dann hieß es immer: Ich bin in einer Stunde zu Hause, dann reden wir.“
Es gibt einiges zu besprechen. Braun, so geht aus einer Geldwäscheverdachtsmeldung vom Februar 2019 hervor, leiht Marsalek 50 Millionen Euro. Das Geld hat Braun von der Deutschen Bank im Rahmen seines Darlehensvertrags erhalten. Warum gibt er es an Marsalek weiter? Einen Bezug zu Wirecard jedenfalls bestreitet Brauns Seite.

12. Das letzte Gefecht
Im Sommer 2019 holt Braun zum letzten großen Wurf aus. Er bewegt Softbank zum Einstieg bei Wirecard. Die Nachricht ist Balsam für die Anleger. Der riesige japanische Technologieinvestor ist einer der erfahrensten Geldgeber der Welt - mit einem Anlagevermögen von weit mehr als 100 Milliarden Dollar. Als größter Erfolg zählt die frühe Beteiligung an dem chinesischen Onlinehändler Alibaba. Wenn Softbank in ein Unternehmen investiert, muss alles auf Herz und Nieren geprüft worden sein.
Softbank steigt per Wandelanleihe ein und verspricht Wirecard, zahlreiche Partner aus dem eigenen Beteiligungsportfolio als Kunden zu vermitteln. Angesichts der nicht abreißenden Kritik am Konzern werden die Softbank-Manager jedoch misstrauisch. Im Herbst drängen sie gemeinsam mit dem neuen Aufsichtsrat Thomas Eichelmann darauf, die Zahlen von Wirecard noch einmal untersuchen zu lassen. Die Testate von EY, dem Konzernprüfer, der eine Dekade lang keinen Kratzer an den Wirecard-Bilanzen finden konnte, sind den Japanern nicht genug.
Es beginnt die Sonderprüfung von KPMG. Parallel steht Wirecard unter Dauerfeuer der Medien. Den Druck, den Braun spürt, gibt er nach innen weiter. „Er war ein Tyrann und Egomane“, sagt jemand aus dem beruflichen Umfeld. Eine PR-Verantwortliche von Wirecard soll wegen seiner Tiraden im Herbst 2019 wochenlang ausgefallen sein. Vor allem die Presse- und Investor-Relations-Abteilung hat unter seiner Pedanterie zu leiden: „Er hat uns regelmäßig angeblafft: Könnt ihr nicht mal einen geraden Satz schreiben!?“

13. Geburtstag im Hearthouse
Ahnt Braun, was bald über ihn geschrieben werden wird? Im November 2019 ist ihm nichts anzumerken. Braun begeht seinen 50. Geburtstag im Münchener Schickeria-Treffpunkt Hearthouse. Sechs Monate zuvor haben 160 Beamte hier mit Drogenspürhunden eine Party beendet und 20 Gramm Kokain beschlagnahmt. Braun ist Mitglied des Privatklubs, einer der Besitzer zählt zu seinem Freundeskreis. An der Modefirma von dessen Frau hält Braun 40 Prozent.
Sechs Monate vor der Insolvenz regiert Braun bei Wirecard weiterhin nach Gutsherrenart. Anfang 2020 lässt er sich von der Wirecard-eigenen Banktochter einen Kredit über 35 Millionen Euro auszahlen. Den Aufsichtsrat informiert er erst im Anschluss. Als der neue Chefkontrolleur Thomas Eichelmann davon erfährt, zwingt er Braun, das Geld zurückzuzahlen. Der lässt sich Zeit. Die fälligen Verzugs- und Strafzinsen, auf die der Aufsichtsrat besteht, habe er erst später beglichen, heißt es aus dem Kontrollgremium.
Ende März 2020 gewährt Wirecard der Firma Ocap aus Singapur einen Kredit über 100 Millionen Euro. Dies sei vom Vorstand und Aufsichtsrat so abgesegnet gewesen, sagen Brauns Anwälte auf Nachfrage. Hinter Ocap steckt ein früherer Wirecard-Manager. Ocap soll nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft einen Teil des Geldes an die litauische Firma Ruprecht geschleust haben. Die überwies demnach 35 Millionen Euro an eine Holding, die den Betrag auf Jan Marsaleks Konto bei der Unicredit weiterleitete. Letzterer soll damit den größten Teil des Privatkredits von Braun beglichen haben.
Das Geld, das aus den Kassen von Wirecard stammte, wäre damit letztlich in den Taschen von Braun gelandet. Seine Anwälte sagen, Braun habe nicht gewusst, woher das Geld kam.
Im April ist KPMG noch immer mit der Sonderprüfung beschäftigt. Als Zwischenstand gibt es eine Warnung an den Aufsichtsrat: Ein Großteil der Umsätze in Asien könne nicht verifiziert werden. Für das angebliche Milliardenvermögen, das dort auf Treuhandkonten liegen soll, fänden sich keine ausreichenden Belege. Man könne nicht mit Bestimmtheit sagen, dass es kein Vermögen gibt, teilt KPMG mit. Aber man könne auch nicht sagen, dass es wirklich vorhanden sei.
Wirecard hat versprochen, den Bericht zu veröffentlichen, nun geschieht es. Die Aktie, die sich gerade erst wieder erholt hatte, bricht ein und fällt bis Mitte Mai auf 77 Euro. Mitarbeiter glauben trotzdem, dass alles wieder gut wird. „Wirecard war wie eine Familie“, sagt eine Angestellte. „Wir haben 20 Jahre lang kein Sparprogramm erlebt. Es ging immer nur nach oben.“
Diesmal nicht. Es beginnt Brauns letzter Monat als Mister Wirecard. Die Bafin zeigt ihn und den gesamten Vorstand wegen des Verdachts auf Marktmanipulation an. Lange hatte die Behörde mit dem Unternehmen gekuschelt - jetzt argwöhnen die Aufseher, die Wirecard-Führung habe im Rahmen der KPMG-Prüfung irreführende Angaben gemacht und dadurch den Börsenkurs manipuliert.
Braun empfiehlt noch im Juni den Kauf der Aktie. Viele Geschäftsfreunde und enge Mitarbeiter haben selbst in Wirecard investiert. Als sie Braun fragen, ob es Probleme gebe, winkt der ab. Die Turbulenzen seien nur vorübergehend. Es gebe keinen Grund zur Sorge, bald schon werde der Kurs der Aktie bei 200 Euro liegen.
Auch EY weiß um die Erkenntnisse von KPMG und hat inzwischen eigene Nachforschungen angestellt. EY muss jetzt das mehrmals verschobene Testat formulieren. In den entscheidenden Stunden verhandelt Braun laut Teilnehmern selbst mit den Prüfern. Wiederholt soll Braun auf schwächere Formulierungen gedrungen haben. Doch EY lässt sich diesmal nicht erweichen. Die Prüfer verweigern das Testat. Am 18. Juni fällt der Kurs der Wirecard-Aktie auf 39 Euro.
Brauns kreditgebende Bank ist seit dem Frühjahr nicht mehr die Deutsche Bank, sondern die Oldenburgische Landesbank. Sie drängt Braun vermutlich zum Verkauf der Sicherheiten, um Verluste zu begrenzen. Braun stößt am 18. und 19. Juni mehr als fünf Millionen Wirecard-Aktien ab, erlöst damit 155 Millionen Euro. Sein Durchschnittskurs beim Verkauf liegt bei etwa 30 Euro. Bevor der Monat endet, meldet Wirecard Insolvenz an. Der Aktienkurs fällt auf unter zwei Euro.

14. Umzug nach Augsburg
Am 19. Juni 2020, einem Freitag, tritt Braun auf Druck des Aufsichtsrats als Vorstandschef zurück. Am Montag darauf beantragt die Staatsanwaltschaft München einen Haftbefehl. Noch am Abend stellt sich Braun der Behörde und wird festgenommen.
Einen Tag später hinterlegt Braun fünf Millionen Euro Kaution und darf unter Auflagen das Gefängnis verlassen. Einen Monat später, am 22. Juli, wird Braun wegen eines neuen, erweiterten Haftbefehls zum zweiten Mal festgenommen. Als das Handelsblatt zu Jahresende 2020 vor Brauns Münchener Wohnung recherchiert, fragt ein Nachbar, wen man denn suche. Als er hört, dass es um den langjährigen Wirecard-Chef geht, kommt die spöttische Antwort: „Der ist umgezogen. Nach Augsburg.“
Gemeint ist die Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen. Seit sechs Monaten sitzt Braun hier ein. Sein Vermögen ist weitgehend arrestiert, ob Braun selbst verhaftet bleibt, soll sich nun in einem Haftprüfungstermin entscheiden. Dabei wiegt ein Richter die Argumente von Staatsanwalt und Brauns Anwalt für und gegen einen Verbleib hinter Gittern. Auch Braun selbst darf sprechen. Kann er den Richter nicht überzeugen, bleibt Mister Wirecard dort, wo er ist: in einer 9,2 Quadratmeter großen Gefängniszelle.
Wie bei allen Gefangenen gilt bis zu einer Verurteilung die Unschuldsvermutung. Noch gibt es nicht einmal eine Anklage, Braun bestreitet die Vorwürfe. Doch viele, die erlebt haben, wie sehr Braun sein Unternehmen prägte, können sich nicht vorstellen, wie er all das übersehen haben könnte, was nun strafrechtlich untersucht wird.
Die Ausweisung von Umsätzen, die es wohl gar nicht gab, wertet die Staatsanwaltschaft als Bilanzfälschung und Marktmanipulation. Braun profitierte als Großaktionär persönlich von den steigenden Aktienkursen - die wiederum auf den mutmaßlich falschen Geschäftszahlen basierten.
Viele Beteiligte haben offenbar zusammengewirkt, um die Wirecard-Fassade aufrechtzuerhalten. Ein Verdacht lautet deshalb auf bandenmäßigen Betrug. Und unter anderem die seltsamen Zahlungsströme, bei denen Gelder aus der Firmenkasse auf Brauns Privatkonto landeten, könnten den Tatbestand der Untreue erfüllen. Als Strafe für all diese Vergehen sind zehn Jahre Haft möglich.
Braun wäre nicht Braun, wenn er sich von dieser Aussicht aus dem Konzept bringen ließe. Er bezeichnet sich als unschuldig. Und folgt man Braun, dann war alles, was seit seinem Rücktritt geschah, eigentlich nicht notwendig.
Der Staatsanwaltschaft liegt eine WhatsApp-Nachricht vom Sonntag, dem 21. Juni 2020 vor. Am Abend vor seiner Verhaftung schrieb Braun an seinen Aufsichtsratsvorsitzenden Thomas Eichelmann: „Ich glaube, ich könnte aus meinem Netzwerk kurzfristig 2 Mrd plus 1 bis 2 Mrd für die Finanzierung zusammenstellen. Falls dir das nützt bzw. die Verhandlungen mit den Banken schwierig sind. LG Markus.“