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True Story Award 2024

Ich bin jetzt Lino

Die Geschichte eines trans Kindes und seiner Familie.

Es gibt Dinge, die weiss Lino einfach. Dass er gerne Fussball spielt. Dass er Polizist werden will. Dass er sein neues Bett mag, mit den LED-Lämpli, die alle drei Sekunden die Farbe wechseln. Dass seine Familie ihn liebt: Mama Corinne, Papa Stefan, seine dreizehnjährige Schwester Lea, der elfjährige Bruder Yan, die siebenjährige Zwillingsschwester Amia. Und das Wichtigste: dass er ein Junge ist. Er zeigt auf seine Brust. «Hier weiss ich es.» Und wo noch? Ja, innen halt. Überall.

Geschlecht ist für viele Menschen das Selbstverständlichste auf der Welt. Wir werden geboren und jemand schreibt in die Geburtsurkunde, dass wir weiblich oder männlich sind, ausgehend von unseren primären Geschlechtsmerkmalen. Penis für Jungs, Vulva für Mädchen. Wir bekommen einen Namen und entsprechende Pronomen. Die meisten von uns behalten sie ihr Leben lang. Was, wenn sie nicht stimmen?

Am Bahnhof einer kleinen Schweizer Stadt steigt man ins Postauto und fährt den Hügel hoch, vorbei an alten Schreinereien, Dörfern mit Friseursalons, auf denen «Coiffure» und dann ein Vorname steht. Coiffure Agnes, Coiffure Doris. Kleine Plakate am Strassenrand weisen auf Jass-Abende hin, Schweizer Fahnen in Vorgärten auf bürgerliche Gesinnung. Nach zwanzig Minuten kommt das Dorf zum Vorschein, in dem Lino lebt, seit er sich erinnern kann. Sein Zuhause ist ein Einfamilienhaus, wie all die anderen hier. Einladend, selbstbewusst, mit einer grossen Auffahrt, Terrasse und Garten. Die Kinder können selbständig raus, sie kennen alle Nachbarn und alle Nachbarn kennen sie.

Damit wissen auch alle, dass diese Familie anders ist. Mutter, Vater, zwei Töchter, zwei Söhne, ein Einfamilienhaus in einem kleinen Dorf im Baselbiet. Das Bild stimmt, und doch stimmt es nicht.

Doppelgeburt

Lino kommt im Mai 2015 zur Welt, kurz nach seiner Zwillingsschwester wird er aus dem Bauch seiner Mutter Corinne gezogen. Seine Eltern gehen davon aus, dass er auch ein Mädchen ist und nennen ihn Alina, die Schwester bekommt den Namen Amia. Corinne und Stefan haben Gefühle, die alle Zwillingseltern kennen: Sie freuen sich, fürchten sich aber auch. Zwei Babys aufs Mal, kann man das denn schaffen?

Man kann. Alina und Amia sind unkomplizierte, fröhliche Kinder und ihre zwei älteren Geschwister zeigen wenig Eifersucht. Die Mutter Corinne liebt es, ihre beiden Mädchen schön zu kleiden, sie zieht ihnen Röckchen an und macht Schleifen in die langen Haare. Ihr fällt auf, dass Alina lieber mit Autos spielt und Bruder Yan nacheifert, während Amia Puppen bevorzugt. Corinne macht sich nichts draus, ihr Kind soll spielen, womit es mag. Als Alina zu reden beginnt, wird die vermeintliche Tendenz ausgeprägter. Sie will ausschliesslich Yans Kleider nachtragen, rosa gefällt ihr nicht und mit Puppen kann sie nichts anfangen. Sobald sie das Wort für «Bub» kennt, sagt sie es immer wieder: Ich bin ein Bub.

Mit drei Jahren fängt Alina an, Corinne Vorwürfe zu machen. Irgendwas müsse die Mutter in der Schwangerschaft falsch gemacht haben, denn im Bauch sei Alina noch ein Junge gewesen. Als Alina herausfindet, dass sie per Kaiserschnitt zur Welt kam, überlegt sie sich, ob die Ärzte vielleicht etwas abgeschnitten haben. Weisst du Mama, sagt sie einmal, es ist, als hätte ich einen Splitter im Kopf. Der macht, dass ich ein Junge bin. Vielleicht muss man diesen Splitter entfernen, dann hast du endlich das Mädchen, von dem du immer redest. Corinne versucht Alina zu erklären, dass sie sie in jedem Fall liebt. Aber sein Geschlecht könne man nicht einfach ändern, das sei gesetzt. Nicht bei mir, sagt Alina.

Aktuellen Schätzungen zufolge leben in der Schweiz um die 40’000 trans Menschen, das Transgender Network Switzerland geht sogar von 0,5 bis 3 Prozent der Bevölkerung aus. Es sind Personen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Viele trans Menschen berichten, bereits im Kindesalter gewusst zu haben, dass ihre Geschlechtsmerkmale nicht zu ihnen passen. Woher diese frühe Gewissheit kommt, dass alle gelernten geschlechtsspezifischen Faktoren nicht auf einen zutreffen, ist kaum erforscht. Die Datenlage zu trans Menschen ist spärlich, bei Kindern läuft sie gegen null.

Haare ab

Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Erforschung von Geschlechtsidentitäten bei Kindern beschäftigt, ist die amerikanische Psychologin Kristina Olson. Während zwanzig Jahren begleitete sie um die dreihundertzwanzig trans Kinder und Jugendliche zwischen drei und zwölf Jahren. Heute, nach zehn Jahren, kann sie zwei der gängigsten Annahmen über trans Menschen widerlegen.

Erstens, trans Person nehmen sich öfter das Leben als Cis-Personen: Falsch. Kinder, die in einem wohlwollenden Umfeld aufwachsen, das sie bei ihrer Geschlechtsidentität unterstützt, sind psychisch stabil und haben weniger Tendenzen zu Depression und Angststörungen als trans Jugendliche und Erwachsene, die ihre Geschlechtsidentität als Kind nicht leben durften.

Zweitens, viele Menschen wollen nach einer sozialen oder medizinisch begleiteten Transition wieder ihr biologisches Geschlecht annehmen: Auch falsch. Fünf Jahre nach der sozialen Transition würden nur 2,5 Prozent der Kinder zurück zu ihrem Geburtsgeschlecht wollen, was dafür spricht, dass bereits kleine Kinder sehr genau wissen, welche Geschlechtsidentität sie leben möchten. Was nicht heisst, dass sie nicht auch gerne verschiedene Rollen ausprobieren. Trans Kinder, sagt Olson, haben dieselbe Geschlechtsentwicklung wie cis Kinder – nur eben nicht in jenem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Ein trans Junge ist also einfach ein Junge mit Geschlechtsteilen, die als nicht-männlich gelten.

Als Alina vier Jahre alt ist, fährt Corinne mit ihr zur Coiffeuse im Dorf. Alina wünscht sich einen Kurzhaarschnitt, Corinne erlaubt Kinnlänge. Als sie sich im Spiegel sieht, ist Alina nicht zufrieden. Sie will keine halblangen Haare, sondern ganz kurz, wie ihr Bruder. Aber dann siehst du aus wie ein Bub, sagt Corinne.

Ich bin ja auch ein Bub, sagt Alina. Bist du nicht, sagt Corinne, worauf Alina anfängt zu weinen. Nicht so, wie wenn sie sich streitet oder nicht bekommt, was sie will. Es kommt von ganz weit innen, ein Weinen um die eigene Existenz.

Ein paar Monate später dürfen die Haare doch ab, mit ein paar Stirnfransen als Kompromiss, damit Corinne ihrer Tochter bei Gelegenheit doch noch ein Spängeli reinmachen kann. Als hätte sie sich an was festgehalten, sagt Corinne heute. An dieser Vorstellung einer Tochter, von der sie eigentlich wusste, dass sie nicht existierte. Die Spängeli bleiben nie länger als ein paar Minuten drin.

Als Alina in den Kindergarten kommt, ruft eines Tages die Kindergärtnerin an. Alina wolle immer in die Bubengarderobe und wenn die Eltern einverstanden sind, würde sie ihr das gerne erlauben. Dann spricht sie aus, was Corinne und Stefan seit einer Weile vermuten: Alina könnte trans sein. Sie legt ihnen nahe, das Thema beim Kinderarzt anzusprechen. «Es ist peinlich», sagt Corinne, «aber ich hatte immer gedacht, trans Menschen, das seien diese Männer, die sich als Frauen verkleiden.»

Normvariationen

In ihrem Dorf, in ihrer Welt haben Mädchen ein Schlitzli und Jungs ein Schnäbi. Sie und ihr Mann beginnen zu recherchieren und bekommen es mit der Angst zu tun. Aus allen Ecken des Internets wird ihnen vermittelt, dass ihr Kind sich in Gefahr befindet, die dünne Datenlage ist geprägt von Zahlen zu Depression, Angststörungen und Suizidgefährdung. Psychische Störungen, so das Transgender Network Switzerland, kommen unter trans Personen nicht gehäuft vor, sondern seien Reaktionen auf oft schwierige Lebensumstände. Europaweit hat eine von fünf trans Personen körperliche oder sexualisierte Übergriffe erlebt. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Amerika ein trans Mensch Opfer eines Gewaltverbrechens wird, ist viermal höher als bei Personen, die nicht trans sind. Es sind Informationen, die Corinne und Stefan erschlagen. Wie soll sich Alina in dieser Welt zurechtfinden, ja überhaupt überleben?

Als spürte sie die Sorgen ihrer Eltern, fängt Alina an, jeden Abend vor dem Einschlafen zu sagen, dass sie nicht mehr leben will. Corinne und Stefan haben Angst, aber sie wissen auch, dass sich Alina damit Gehör ver-schaffen will. Sie müssen anfangen, ihr zuzuhören. Und in gewisser Hinsicht ist es ja auch wahr: Das Mädchen Alina soll weg. Aber wer kommt an ihrer Stelle?

Der Kinderarzt schickt Corinne und Stefan in die kinderpsychiatrische Sprechstunde in der nächstgrösseren Stadt. Dieses Vorgehen ist nicht unüblich: Die Überzeugung, trans Menschen seien krank und auf psychologische Hilfe angewiesen, hält sich bis heute. Aktuelle Erkenntnisse zeichnen jedoch ein anderes Bild: Trans sei eine «Normvariation», die aufgrund der Stigmatisierung einen hohen Leidensdruck auslösen kann, heisst es mittlerweile bei der WHO. Trans Menschen sind also nicht per se krank, sondern werden durch ihre Abweichung von der Norm diskriminiert und können so psychische Leiden entwickeln. Seit Januar 2023 wird Transgeschlechtlichkeit nicht mehr als psychische Erkrankung klassifiziert.

Die Psychologin ordnet mehrere Termine an. Einmal Eltern ohne Kinder, einmal alle zusammen, einmal nur Alina. Bei ihrem Alleinbesuch soll Alina die Familie als Tiere zeichnen. Sie zeichnet Stefan als Erdmännchen, Corinne als Delfin, Lea als Katze, Yan als Löwe, Amia als Fuchs. Alina selbst ist ein Dinosaurier. Eine Woche später sagt sie, sie wolle einen Jungsnamen. Im Turnen darf sie jetzt die Bubenkabine benutzen. Sie ist ausgeglichener, ihre Eltern atmen auf.

Dann kommt plötzlich der Anruf der Psychologin: Sie findet den eingeschlagenen Weg nicht richtig. Corinne weiss noch genau, was die Frau damals sagte: Ihr müsst Alina mehr Grenzen aufzeigen, damit sie wieder in ihre Mädchenrolle kommt. Haare wachsen lassen, neutralere Kleider anziehen. Es kann sich jederzeit wieder ändern. Und der Weg zurück ist viel schwieriger!

Ein langer Lauf

Für die Familie bricht eine Welt zusammen. Die schwere Tür, die sie endlich aufgestossen haben, wird ihnen vor der Nase zugeknallt. Alina weint tagelang und ihren Eltern ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Sie sagen alle weiteren Termine mit der Psychologin ab und wenden sich an die Sprechstunde Geschlechtervielfalt am Inselspital in Bern, wo sie einen kurzfristigen Termin für eine Zweitmeinung bekommen.

Marie-Lou Nussbaum ist Sexualtherapeutin und leitet seit 2015 die Sprechstunde Geschlechtervielfalt für Kinder und Jugendliche in Bern. «In der ersten Zeit hatten wir nur einzelne Anfragen pro Jahr», sagt sie. Seit ein paar Jahren sei das Bedürfnis nach Unterstützung aber spürbar grösser geworden. Die Wartezeit für einen Termin beträgt momentan vier bis sechs Monate.

Die Reaktion der Psychologin, bei der Linos Eltern waren, überrascht Nussbaum nicht: Unsicherheit und fehlendes Wissen führten bei Fachpersonen, die nicht auf Geschlechtervielfalt spezialisiert sind, zu unterschiedlichen Überzeugungen davon, wie mit einem trans Kind umzugehen sei. Der breite Konsens unter den spezialisierten Fachpersonen laute jedoch: Bedürfnisorientiert und ergebnisoffen, mit Fokus auf das Wohlbefinden und die gesunde psychische Entwicklung des Kindes.

Auch Nussbaum und ihre Kollegen arbeiten nach diesem Prinzip, das heisst, die Eltern sollen ihr Kind in seinen Wünschen ernst nehmen und begleiten, aber auch nicht bei jeder Spielerei denken, das Kind sei jetzt trans. «Kinder probieren sich aus, sie gehen spielerisch mit dem Thema um. Nur weil der Junge Nagellack trägt, ist das noch lange nicht ein Zeichen dafür, dass er später eine Geschlechtsangleichung haben will.» Das Spektrum sei gross und man dürfe es mit Gelassenheit und Wohlwollen betrachten. Oft seien es mehr die Eltern, die Unterstützung brauchen. «Die Kinder wissen ganz genau, was für sie stimmt.»

Der Hauptteil von Nussbaums Arbeit besteht darin, Eltern zu beruhigen und darin zu bekräftigen, den Weg mit ihrem Kind gemeinsam zu gehen. Ein unterstützendes Umfeld, so die Sexualtherapeutin, lässt die Risiken, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, rapide sinken. Das sagt sie auch Alinas Eltern, denen damit eine Last von den Schultern fällt: Sie machen vieles intuitiv richtig.

Zum Abschied gibt ihnen Nussbaum ein Bild mit: Alina sprintet, sie rennt voraus, während die Familie zurückbleibt. Ein paar joggen vielleicht schon, andere sind noch in den Startblöcken, oder noch nicht einmal in der Umkleidekabine. Alle haben ihren berechtigten Platz, niemand muss aufholen. Aber mit der Zeit werden sie sich einander annähern, ganz von selbst.

Lino

An einem Abend im April 2021 entscheidet sich Alina gemeinsam mit ihren Geschwistern für einen Namen: Lino. Es hat was vom alten Namen und ist doch ganz eigenständig. Und seine Bedeutung gefällt Lino: der Löwenstarke. Das passt. Corinne und Stefan informieren die Verwandten und den nahen Freundeskreis, die befürchteten schwierigen Reaktionen bleiben aus. Die Welt dreht sich weiter. Lino ist überglücklich und geduldig mit seinem Umfeld, das sich an den neuen Namen gewöhnen muss. Im April feiert er seinen Geburtstag, Corinne schreibt in ihr Tagebuch: «Es ist eine Umstellung für alle. Aber Lino ist glücklich! Sechs Jahre – Lino.»

Das Haus ist einladend und hell. Im zweiten Stock liegen die Kinderzimmer, an deren Türen laminierte Geburtskarten angebracht sind. Rosa für die Mädchen, blau für den Jungen. Lino hat seine nicht entfernt, obwohl er rigoros mit Fotos umgeht, auf denen er als Alina zu sehen ist: Er wirft sie sofort weg oder sagt seinen Geschwistern, sie sollen sie von ihren Kameras löschen. «Ich muss das nicht mehr sehen», sagt er dann. Wie einem ungebetenen Gast weist er Alina die Tür. Aber auch eine Lücke nimmt Platz ein.

Für die älteste Schwester Lea ist Alina immer noch da. «Nicht wirklich, aber in meinem Kopf schon.» Die Verbindung zu Lino macht sie nicht mehr. «Es sind wie zwei verschiedene Menschen. Einmal meinen herzigen Bruder, den ich über alles liebe. Und dann die kleine Schwester, die ich mal hatte.» Bruder Yan sieht es ähnlich. Irgendwo sei sie noch. Zwillingsschwester Amia äussert sich wenig zum Verlustthema, fast so, als würde es sie nicht betreffen. Als Einzige der Familie hat sie nie Unverständnis über die Situation gezeigt, sagen ihre Eltern. Als habe sie es immer schon gewusst: Ihre Zwillingsschwester ist in Wahrheit ein Bruder.

«Wir lieben Lino als unseren Sohn», sagen Corinne und Stefan. «Aber wir haben auch eine Tochter verloren.» Den Verlust anzunehmen fällt ihnen schwer. Immer wieder versperren sabotierende Gedanken den Zugang zur Trauer. Unser Kind ist doch am Leben, was weinen wir um eine verlorene Tochter?

In einem Familiengefüge muss jedes Gefühl seinen Platz haben dürfen, sagen Psychologen, die Familien durch Transitionen begleiten. Die Familie steckt mit dem Kind im Prozess mit drin. Alle müssen früher oder später auf die Rennbahn.

«Wenn ich in den Spiegel schaue», sagt Lino heute, «macht mich das traurig. Es passt einfach nicht.» Er hat kurze blonde Haare, angezogen sieht er aus wie jeder andere Junge im Dorf. Aber wenn die Kleider weg sind, sieht er, was fehlt. Niemand ausser Corinne darf dann ins Bad.

Lino fürchtet sich vor der Pubertät, den körperlichen Veränderungen, die er bei seiner grossen Schwester sieht. An jenem 6. Geburtstag hat er sich ein Schnäbi gewünscht. Ebenso zu Ostern und später zu Weihnachten. Es ist ein Wunsch, an den er jeden Tag denkt, obwohl er noch sehr weit weg ist. Seine Eltern versuchen ihm zu erklären, dass es eine Möglichkeit ist, die mit einer schwierigen Operation zusammenhängt und für die er alt genug sein muss. Lino will verstehen, aber es fällt ihm schwer. Alle dürfen sein, wer sie sind, denkt er. Nur ich muss bleiben, wer ich nicht bin.

Abschied

Während Lino in seinem Kinderzimmer von einem Penis träumt, nimmt das Thema trans Kinder und Jugendliche in der Schweizer Öffentlichkeit Fahrt auf. Die Behauptung: Immer mehr junge Menschen würden ihr Geschlecht wechseln wollen und für den gewünschten Körper schwere, teils irreversible medizinische Eingriffe vornehmen lassen. Die Rede ist von «sozialer Ansteckung» und laschen Fachpersonen, die vorschnell Hormone verschreiben.

Experten halten dagegen: Trans sei kein Trend, im Gegenteil. Die Zahl der Retransitionen sei klein, kein Jugendlicher tue sich diese Stigmatisierung freiwillig an.

Äussert ein junger Mensch vor der Pubertät den Wunsch nach geschlechtsangleichenden Massnahmen, gibt es die Möglichkeit, Hormone einzunehmen, die das Wachstum der Brust hemmen oder den Stimmbruch vermeiden. Diese Pubertätsblocker sind reversibel und können jederzeit abgesetzt werden. Bleibt der Wunsch bestehen, kann ein paar Jahre später Testosteron oder Östrogen verabreicht werden, was zu Veränderungen führt, die nicht immer rückgängig gemacht werden können.

Für Lino und seine Familie sind solche Entscheidungen noch weit weg. Aber sie lauern etwa in der Pubertät von Lea, an der Lino ablesen kann, was auf ihn zukommt. Er teilt seine Sorgen mit seinem besten Freund, in den grossen Pausen setzen sie sich in einer ruhigen Ecke auf den Boden und reden «über all das.» Manchmal hört die Lehrerin mit und gibt später Corinne Bescheid. Die freut sich, dass Lino eine Vertrauensperson hat, aber es macht sie auch traurig. Wieso teilt er seine Bedenken nicht mit ihr?

Als der Übertritt in die erste Klasse ansteht, legt eine Freundin Corinne ein Ritual nahe, mit dem sie als Familie Alina verabschieden und Lino in die Familie aufnehmen können. Das sei der Zeitpunkt gewesen, sagt Corinne, an dem sie sich ganz bekannt haben. Zu Lino, aber auch zu sich, ihrer Rolle als Eltern eines Kindes, das nicht den vorhergesehenen Weg geht.

An einem frühen Sommerabend läuft die ganze Familie hoch an den Waldrand. Corinne freut sich, aber Stefan ist skeptisch. Muss das jetzt sein, denkt er auf dem Weg nach oben, dieses Gschpürschmi-Zeug. Sie grillieren, es gibt Würstchen und Schlangenbrot. Dann legen sie eine Spirale aus Kerzen, Blumen, Gräsli, in der Mitte ein kleines Windrad.

Corinne setzt sich zum Windrad, Lino und die Anderen stehen aussen an der Spirale. Dann umarmt Lino jeden einmal und läuft der Spirale entlang zu Corinne. «Da hat es mich verhudlet», sagt Stefan. Plötzlich sieht er ihn ganz klar vor sich: den Sohn, der seinen Weg geht, ohne dass er, sein Vater, etwas dafür tun muss. «Ich war immer in diesem Auffangen drin, dabei muss ich gar nichts machen. Ich muss nur schauen, dass ich einigermassen hinterherkomme.»

Corinne umarmt Lino und schickt ihn wieder zurück durch die Spirale. Lino fliegt förmlich hinaus, er strahlt, während der Rest der Familie weinend in der kühlen Sommerluft steht. Er geht zu allen hin, tröstet jeden geduldig. Als sie spätabends wieder runter zum Haus laufen, haben alle das Gefühl, einem magischen Moment beigewohnt zu haben. Lino ist jetzt ganz da. Und Alina für immer weg.

Jungskabine

Kurz darauf schreiben Corinne und Stefan einen Brief an die Eltern der neuen Erstklässler. Sie erklären darin, was eine Transidentität ist und dass Lino unter diesem Namen in die erste Klasse starten wird. Der Brief wird gut aufgenommen, nur ein paar Mal gibt es Auseinandersetzungen mit Kindern, die Lino absichtlich Alina nennen.

Manchmal fragen sie seine Geschwister, ob es stimmt, dass sie einen Bruder haben, der eigentlich ein Mädchen ist. «Da geht mir jedes Mal ein bisschen das Herz kaputt», sagt Yan. Er wird wütend, auch bei den Jungs vom Fussballverein, die immer mal wieder Sprüche machen.

Sowieso, der Fussballverein: Seit einem Jahr hat Lino jeden Freitagnachmittag Training in einem Club. Er zieht sich in den Jungskabinen um, wie die anderen Buben auch. Die meisten wissen nicht, dass er eine Vulva hat. Bis zum Sommer kann das so bleiben, danach wird es komplizierter.

Der Club ist zwar gemischt, aber Mädchen bleiben länger in den jeweiligen Stufen. Um mit den Jungs in die nächste Stufe wechseln zu können, muss Lino einen Spielerpass beim Schweizer Fussballverband beantragen, in dem er als Junge aufgeführt ist. Das ist jedoch nur möglich, wenn er auch in seinem Schweizerpass als männlich erfasst ist.

Es ist eine von vielen Kleinigkeiten, die Lino und seiner Familie immer wieder bewusst machen, wie schlecht ausgerüstet das System für Menschen wie ihn sind.

Seit Januar 2022 können trans Personen in der Schweiz ihren Geschlechtseintrag und Vornamen anpassen lassen – ohne grosse bürokratische Hürden. Aber etwas hält Corinne davon ab. Sie weiss selbst nicht, was es ist, vielleicht, ja, auch der Gedanke, dass es dann noch endgültiger wird. Aber auch die Erfahrungen einer Mutter, die sie in einem Zwillingsforum auf Facebook gefunden hat, spielen mit. Deren trans Sohn sich auf dem Amt erklären musste, bis ihm die Tränen runterliefen. Das Schweizer Gesetz schreibt Standesbeamten und -beamtinnen zwar vor, dass sie nicht nachfragen dürfen, «aber was, wenn sie es doch tun?».

Corinne und Stefan wissen, dass sie ihren Sohn nicht für immer schützen können. Die grosse Herausforderung im Moment, sagen sie, sei eigentlich, sich selbst zu schützen. Vor den Gedanken, was alles auf ihn zukommen könnte.

Das mit dem Googeln haben sie aufgegeben, ebenso die dominierenden Zukunftsängste. «Wir nehmen jede Situation, wie sie kommt», sagt Stefan. «Und versuchen, uns dabei nicht aus den Augen zu verlieren.» Seit ihnen ein Psychologe gesagt hat, dass auch ihre Gefühle Platz haben dürfen, geht es beiden besser. Auch mal zugeben, dass sich ihre Situation «scheisse anfühlt». Stefan sagt es entschuldigend, er will sich nicht vordrängen. «Aber auch wir sind Teil von Linos Prozess.»

Weiterlaufen

Auf der sprichwörtlichen Rennbahn sind immer noch nicht alle gleich schnell. Die Konstellation ändert sich ständig, manchmal sogar wöchentlich. Lino ist immer ganz vorne, manchmal den Familienmitgliedern mehrere Runden voraus. Ganz nah neben ihm rennt seine Zwillingsschwester Amia, lange Haare, rosa T-Shirts, Gymnastikfan, manche würden sagen: Mädchen durch und durch.

Dann kommen in wechselnden Tempos Schwester Lea, die vor ein paar Tagen zum ersten Mal einer neuen Klassenkameradin von ihrer früheren Schwester und ihrem heutigen Bruder erzählt hat. Und die habe es verstanden, einfach so! Dann Yan, der in der Schule ist, auf die Lino und Amia im Sommer kommen. Linos Radius wird sich vergrössern, und mit ihm, weiss Yan, die Zahl der potenziellen Übeltäter. Er macht sich Sorgen, hofft, dass die grösseren Jungs Lino in Ruhe lassen werden. «Und wenn nicht», sagt er, «bin ich ja noch ein Jahr da. Ich beschütze ihn.»

Und schliesslich Stefan und Corinne. Liebevolle Eltern, die immer wieder an ihre Grenzen stossen und immer wieder über sie hinauswachsen. Wie alle Eltern, wie jede Familie.