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True Story Award 2024

Hoffnung in Berlin

Christian möchte einfach nur der Armut entkommen. Chronik eines Lebens zwischen Missbrauch, Drogen, illegalen Kryptomillionen – und dem Kampf um den eigenen Sohn

Christians Problem, immer schon: Er ist auf der Suche und weiß nicht, wonach.
Der 27. November 2003 – morgen wird Christian 14.
Er sitzt im silbernen Renault Twingo vom schwulen Hans. Das perverse Schwein wollte ihn nach Hause fahren, dabei liegt das Café Chaplin, das ihm gehört, nur ein paar Straßen entfernt, schräg gegenüber der Feuerwehr. Vorbei an der Polizei. Vorbei am Friedhof, links vorbei an den vielen kleinen Spitzgiebelhäuschen, bis dann, ziemlich unvermittelt, drei wuchtige Wohnblocks auftauchen.
Ganz gierige Glupschaugen hat der schwule Hans. Sie könnten ihm aus den Höhlen flutschen, wenn er sich nur vorbeugt.
Christian und die anderen Jungs sitzen oft im Café Chaplin, immer in derselben Nische, abseits der übrigen Gäste. Der schwule Hans, so nennen ihn alle hier, spendiert ihnen dann Pizza und Fanta. Ständig läuft Heal the World von Michael Jackson. Er wohnt in einer Kellerwohnung unterm Café, zusammen mit Mausi, der Katze, und einer stadtbekannten Playboy-Sammlung. Originale aus Amerika.
Zur Feier von Christians großem Tag morgen hatte der schwule Hans gefragt, welchen Cocktail er trinken wolle. Der süß-cremige Geschmack der Piña Colada überraschte Christian, als käme das Glas in seiner Hand geradewegs von einer entlegenen Tropeninsel. Ein paar Schlucke später spürte er eine wohlige Wärme.
Gegen 21 Uhr schloss der schwule Hans den Laden und schickte die anderen nach Hause. Für Christian mixte er noch einen zweiten Piña Colada. Dann bot er dem Jungen an, ihm unten in seiner Wohnung ein paar Pickel auszudrücken. Erst im Gesicht, dann auf dem Rücken, ordentlich, mit Wattepads und Desinfektionsmittel. Das hatte er schon mal gemacht, zur Beschäftigung hatte er ihm eine der Playboys gegeben. So hatte Christian, während ihm der schwule Hans den Eiter aus dem Rücken quetschte, zum ersten Mal zwischen die Beine einer Frau gesehen. Obendrauf gab’s fünf Euro.
"Bist du der, der so kitzlig ist?", fragte der schwule Hans diesmal. Dann legte er zum Desinfektionsmittel eine Tube Gleitgel.
Jetzt, etwa eine Stunde später, hält der silberne Renault endlich vor dem letzten der drei Wohnblocks.
Christian geht die stumpf gelaufenen Terrazzostufen in den ersten Stock hoch.
In der Wohnung umgeben ihn klumpiger Zigarettenrauch und Vaters Säuferatem. Zu sechst leben sie hier, Mutter, Vater, Bruder, zwei Schwestern, auf drei Zimmern. Christian, die kleine Schwester und seine Eltern teilen sich das Schlafzimmer. Die zwei Halbgeschwister, die von je einem anderen Mann stammen, haben ihren eigenen Raum.
Wie immer sitzt der Vater vorm Computer, die Holzkante des Tisches mit dem Bildschirm ist von den dort ruhenden Unterarmen ganz speckig. Der Alkohol hat Vaters Körper zermürbt, 51 Jahre ist er alt, schmächtig und krumm, eingefallene Wangen, letzte graue Haare an den Schläfen, während auf der Kopfhaut Altersflecken wuchern. Vor einiger Zeit saß er mal im Knast. Keine Ahnung, wieso. Es war ein gutes Jahr.
Christian drückt sich durch den Wohnungsflur links ins Bad, stellt sich unter die Dusche.
Tun, als sei nichts gewesen. Morgen werd ich ja schon 14.
Längst ahnt er damals, dass dieser Ort keine Zukunft bereithalten wird für ihn, und die folgenden Stunden und Tage versiegen im Dunkel der verdrängten Erinnerungen.

Frühling 2022

Es ist Mai 2022, seit jenem Abend beim schwulen Hans sind fast 19 Jahre vergangen. Vor gerade mal einer Woche hat Christian noch als Millionär mit seinem Jungen in einem Penthouse an der Küste von Warna residiert, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer. Er war dort zum lebenden Beweis geworden, dass man alles schaffen kann, wenn man nur erstens: seine Herkunft hinter sich lässt. Zweitens: gerissener ist als der Durchschnitt da draußen. Und drittens: bereit ist, wirklich alles zu geben.
Jetzt hockt er in dieser Psychiatrie in Mittelfranken, kaum hundert Euro auf dem Konto und keine Ahnung, wo sein siebenjähriger Sohn steckt. Das Einzige, was ihm geblieben ist: Reisepass, Koffer mit ungewaschener Kleidung und die schwarze Tommy-Hilfiger-Daunenjacke, die neben der Tür am weißen Plastikhaken hängt.
Der Russe in dem Krankenzimmer spricht kein Wort. Stumm sitzt er im Bett neben Christian, trägt Kopfhörer im Ohr und starrt aufs Handy. Alle paar Minuten durchziehen ihn gewaltige Zuckungen, weswegen zu befürchten ist, dass er irgendwann aus dem Bett kippt.
Christian hätte jetzt gerne eine kalte, zuckrige Cola. Er ist süchtig nach dem Zeug.
Das Fenster hier drinnen kann nur gekippt werden und ist mit Milchglasfolie beklebt.
Offiziell sprechen alle auf Station P12 von der "beschützenden Station", aber der Ausgang ist nun mal abgeschlossen, und auf einem roten Schild steht: "Tür bitte vorsichtig öffnen!!! Fluchtgefahr!!!"
Als er am Samstagmorgen, dem 7. Mai 2022, zusammen mit seinem Sohn hier aufgetaucht war, angab, dass er vor ein paar Tagen versucht habe, sich mit einer gasgefüllten Plastiktüte umzubringen, weil er von einer Gruppe Gangster bedroht werde und er keinen Ausweg wisse, immerhin war er sogar ins Ausland geflohen, um diese Leute abzuschütteln – da erwiderte das Klinikpersonal nur: Ja, aber der Junge, der könne nicht hierbleiben.
Christian hatte sich von seinem Anwalt Geld überweisen lassen, um mit dem Reisebus von Bulgarien zurück nach Bayern zu kommen. Nachdem er sich röchelnd die Plastiktüte vom Kopf gerissen und begriffen hatte, dass er wirklich Hilfe brauchte, war ihm als Erstes diese Psychiatrie in Erlangen eingefallen, in der er schon einmal, zehn Jahre zuvor, einige Wochen verbracht hatte; nach seinem ersten, na ja, halben Suizidversuch.
Er fragte das Klinikpersonal, ob Fabian nicht auf der Kinder- und Jugendstation unterkommen könne. Kein Platz, hieß es. Also sagte Christian, dass er dann die Klinik vorerst wieder verlassen müsse, um für Fabian eine Betreuung zu finden. Unmöglich, erwiderte das Klinikpersonal, immerhin sei Christian ja suizidgefährdet.
In der wirren Verzweiflung fiel ihm nur seine emotional völlig abgestumpfte Mutter ein. Er rief sie an. Und wenn er es noch richtig erinnert, hat das Klinikpersonal daraufhin ein Taxi bestellt, den siebenjährigen Jungen in das Auto gesetzt und ihn ganz allein die 20 Kilometer zu deren Adresse fahren lassen.
Schon nach ein paar Tagen übergab Christians Mutter das Kind dem Jugendamt, sie sei überfordert. Seitdem wird Fabian zwischen Kinderheimen und Pflegefamilien hin- und hergereicht. Die Behörden lassen Christian kaum mit seinem Sohn telefonieren. Noch nie hatte er so ein quälendes Gefühl des Vermissens gespürt. Als bekomme er keine Luft mehr zum Atmen.
Der Russe rollt sich auf die Beine, um im Flur vom Servierwagen sein Abendessen zu holen. Linsensuppe mit Würstchen. Ein warm-muffiger Geruch weht vom Teller durchs Krankenzimmer. Statt zu essen, hat Christian sich angewöhnt, in der Teeküche Kakao zusammenzurühren. Sein neues Grundnahrungsmittel.
Wie ein Yogi sitzt er im Schneidersitz im Bett, kontrolliert auf dem Smartphone die aktuellen Kryptokurse. Er ist ein schmächtiger Typ mit Dreitagebart, tiefen Augenringen unter den blauen Augen und zwei ersten Fältchen über den Brauen. Obwohl er vor allem unendlich erschöpft ist, strahlt er auch Gewitztheit aus. Unvermittelt lässt er das Handy auf die Matratze fallen, als ekele ihn an, was ihm da angezeigt wird. Dann fährt er fort, erzählt von seiner 15-jährigen Flucht vor den Erinnerungen seiner ärmlichen Jugend, belegt durch Handyfotos, Dokumente und Weggefährten seines Lebens. Er erzählt von seiner Reise, auf der er sich durchschlug von den Straßen Berlins bis in das Penthouse am Schwarzen Meer. Und von einer Liebe, die er ans Heroin verlor. All das gelebt in einem atemlosen Tempo, bis er sich schließlich selbst zu überholen drohte.

Sommer 2006

Mit 17 erträgt Christian die Unschärfe der Welt hinter den zugezogenen Gardinen kaum noch. Nie das Meer gesehen, nicht mal Bayern verlassen. Er mag nicht mehr berührt werden, besonders nicht am Rücken. Damals, im Winter 2003, vergewaltigte der schwule Hans ihn wieder und wieder, und trotzdem ging Christian weiter ins Café Chaplin. Niemand sollte was ahnen. Erst im Frühling hielt er es nicht länger aus und schloss sich zu Hause ein. Drei Jahre lang.
Log-in-Name: moral.
Passwort: vu1nd4h0.
Bogenschütze bei KAL-Online, einem Multiplayer-Rollenspiel. Erforscher unbekannter Länder, Bezwinger grausamer Monster. Freunde nur noch im Chat.
Knapp besteht er den Realschulabschluss.
Seine immer schon arbeitslosen Eltern hatten ihm vor allem beigebracht: Auch unten kannst du leben.
Eines Tages steht einer der Kerle vor der Tür, die früher immer beim schwulen Hans rumgehangen hatten. Der Junge hatte gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht und wollte offenbar zur Ablenkung alte Bekanntschaften aufwärmen. Gemeinsam ziehen sie von nun an um die Häuser, schwirren um die grellen Lichter der Kirchweih, besaufen sich bei der Feuerwehr, wo sich der Vater des Jungen als Hausmeister abmüht. Es fühlt sich gut an, wieder einen echten Freund zu haben.
Eines Nachts: Das Feuer verbrennt das Fleisch. Es zischt und knistert, bildet eine schwarze Kruste, während das Fett gerinnt, sich gelblich färbt, die Fasern ziehen sich zusammen, einzelne platzen auf, im Inneren bleibt es blutig. Besoffen versuchen Christian und der andere, mit einem Gasbrenner im Hof der Feuerwehr Steaks zu braten. Sie trinken Wodka-Energy. Dann kommen sie auf die Idee, das Auto vom schwulen Hans zu klauen.
Von früher wissen sie, dass der Renault Twingo nie abgeschlossen ist. Der Schlüssel liegt unter der Sonnenblende. Der Freund fährt, Christian hockt auf demselben Platz wie vor drei Jahren. Viel zu betrunken, um Angst zu spüren.
Sie kurven durch die dunklen Straßen, aber Höchstadt an der Aisch ist kein Ort für solche Abenteuer. Eine bayerische Kleinstadt, Kirche, Marktplatz, Friedhof; außerhalb des mittelalterlichen Stadtkerns kleben Einfamilienhaussiedlungen aneinander, dann ein paar Wohnblocks, schließlich das Gewerbegebiet Ost II. Dahinter die Autobahnauffahrt der A 3.
Auf die biegt der Twingo ein.
Sie lassen den 13.000-Einwohner-Ort hinter sich, kurven bis nach Würzburg, die dunkelgraue Straße vor sich, fahren eine Mülltonne um – und wieder zurück.
Eine irgendwie zu kleine Rache.
Gefühle bleiben aus.
Christians große Schwester hat einen verkümmerten rechten Arm, der sie nie von irgendwas abgehalten hat. Mit 18 Jahren zog sie aus und brach den Kontakt zu ihren Eltern ab. Als Jahrgangsbeste beendete sie ihre Ausbildung bei Rewe, übernahm die Leitung eines eigenen Marktes, heiratete einen Mann mit nagelneuem Mercedes und schuftet mindestens 60 Stunden die Woche.
Sie besorgt Christian einen Ausbildungsplatz im Supermarkt und mietet für ihn eine Dreizimmerwohnung an.
Ist meine Pflicht, dir da rauszuhelfen, sagt sie.
Waren räumen, Lager sortieren, abkassieren.
Christian wird 18.
Und Liebe ist so lange ein Witz, bis das Herz zum ersten Mal im fremden Takt pulsiert.
Über einen Bekannten lernt er Laura kennen. Sie geht aufs Gymnasium, nach dem Abi will sie Kunstgeschichte studieren. Der Vater ist Ingenieur. Anfangs hat Christian Sorge, die falschen Dinge zu sagen, die ungeschriebenen Regeln eines gutbürgerlichen Elternhauses zu verletzen. Manchmal ermahnt ihn Laura, wenn er das Wasserglas in einem Zug leer trinkt. Dann merkt er, dass die wahren Unterschiede sich in winzigen Details zeigen wie einer Handbewegung, einem Tonfall, einer Geschliffenheit im Ausdruck, einer Pose. Er spürt, dass sich Lauras Eltern jemand anderes für ihre Tochter wünschen – keinen Kaufmann im Einzelhandel.
Durch die Supermarktregale humpelt beinahe täglich ein kleiner Mann am Gehstock, eines Tages bittet er Christian, ihm die Einkaufstüten nach Hause zu tragen.
In dessen Wohnzimmer setzt sich Christian auf die Eckcouch. Aus dem Schlafzimmer röchelt eine bettlägerige Frau. Der Mann bringt ein Glas Zitronenlimo.
Ich will dir einen blasen, sagt er und kniet sich neben den Fliesentisch.
Christian ist unfähig, sich zu rühren. Erinnerungen lähmen ihn. Dann flieht er doch.
Zu Hause bestellt er im Internet Vivinox, ein rezeptfreies Schlafmittel. Als tags drauf die Pillen kommen, schluckt er sie alle.
Doch ein junges Herz ist ein zäher Boxer.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, wählt er die Nummer seiner Schwester. Er erzählt, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Er landet in der Notaufnahme, dann in der Psychiatrie.
Wie stehe ich jetzt vor den Kollegen da?, fragt die Schwester. Die Ausbildung kannst du vergessen, die Wohnung auch, du bist nicht besser als dein Vater.
Und Laura erklärt per SMS: Mit jemandem aus der Klapse könne sie einfach nicht zusammen sein.

Frühling 2022

Tag 29 ohne seinen Jungen: Christian sitzt draußen im Vogelkäfig, dem mit Maschendraht umzäunten Raucherbereich. Es ist Ende Mai 2022. Die Haut seines Hinterkopfs, wo sich eine erste lichte Stelle im Haar auftut, wird von der Sonne bestrahlt. Rauchend blickt er auf den Boden. Er wirkt noch sedierter als vor zwei Wochen. Rita hockt ihm gegenüber und grinst. Offenbar hofft sie, dass er ihren Blick erwidert. Auf der vergitterten Dachterrasse der Klinik lehnt noch ein Kerl, der ebenfalls gedankenverloren an seiner Kippe zieht. Wenn der was ahnt, könnte er sie beide verpfeifen. "Intime Beziehungen können aus therapeutischen Gründen nicht geduldet werden", steht in Mädchenhandschrift auf einer Kreidetafel im Aufenthaltsbereich.
Rita, mit ihrem kessen Grinsen, kommt aus Italien und spricht kaum Deutsch. Also hat Christian sich eine Sprachen-App aufs Handy geladen. Seine ersten Sätze gehen schon ganz gut, und Rita scheint von seiner raschen Auffassungsgabe beeindruckt. Er redet schnell, manchmal fahrig. Als nehme er die Welt in doppelter Geschwindigkeit wahr. Beim belanglosen Umgang mit Fremden wirkt er oft unbeholfen, sein Blick ist dabei herzlich und traurig zugleich. Sie findet das offensichtlich süß.
Als er nach der Einweisung den Ärzten seine Lebensgeschichte erzählt hatte, hielten die ihn erst mal für schizophren. Doch seitdem hat er auf Station weder Psychiater noch Psychologen gesehen. Es kommt ihm so vor, als wären Tabletten die einzige Maßnahme hier, um die Patienten zurück in die Welt zu entlassen.
Er ignoriert Rita weiterhin. Nervös rutscht sie auf ihrem Hintern rum, starrt auffordernd, sagt aber kein Wort. Eigentlich weiß Christian über Rita nur, dass sie arbeitslos ist und ein Alkoholproblem hat. Sie sei vor ihrem Exfreund geflohen, weil der sie verprügelt habe.
Von dem täglichen Cocktail aus Milch, Schokopulver, 50 mg Sertralin, 0,5 mg Tavor und 50 mg Mirtazapin hat Christian einen kleinen Bauch bekommen. Inzwischen ist er lieber hier drinnen, als sich draußen zurechtfinden zu müssen. Denn wenn sie ihn entlassen, sitzt er auf der Straße. Das ist ihm vor ein paar Tagen klar geworden. Es gibt niemanden, der auf ihn wartet – außer seinem Sohn natürlich, aber mit dem darf er nur einmal in der Woche telefonieren.
Dann kann er nicht lachen und nicht weinen.
Vielleicht wegen der Medikamente. Vielleicht hat er auch schon irgendwie aufgegeben.
Rita verliert die Geduld, marschiert aufs Zimmer. Später wird Christian zu ihr gehen, irgendwo heimlich mit ihr rummachen. Sie muss seine Vergangenheit noch nicht kennen.
Er zündet sich eine seiner Gauloises an – und dann fährt er fort mit seiner Erzählung von einem Leben im Eiltempo.

Herbst 2008

Seitdem er seinen Ausbildungsplatz bei Rewe verloren hat, lebt Christian wieder bei seinen Eltern. Es ist das Jahr 2008.
Auf der Straße trifft er einen alten Klassenkameraden, der auf dem Weg zum Holländer ist. Christian begleitet ihn. Der Holländer wohnt direkt gegenüber der Kirche, ein deutscher Surferboy, der mal in den Niederlanden lebte und nun in Höchstadt den Kleinstadtdealer gibt.
Die erste Nase Speed. Und Christian will direkt mehr.
Um sich regelmäßig Stoff leisten zu können, fängt er selbst an zu dealen. Er zwackt sich vom Zeug der Kunden ein paar Milligramm ab, merkt niemand, weil sowieso jeder jeden bescheißt. Mit drei, vier anderen Rastlosen zieht er von Wohnung zu Wohnung. Vier Tage wach, fünf Tage wach, bis die Spinnen durchs Bild krabbeln und andere Tierchen und Schattengestalten und nichts mehr geht. Dann durchschlafen auf fremden Sofas und wieder von vorn.
Irgendwann erzählt irgendjemand, er habe in Tschechien Crystal besorgt. Neues Versprechen. Im Keller der elterlichen Wohnung, den Arm mit einer alten Fahrradkette abgebunden, der erste Schuss ins Blut. Einatmen, den salzigen Geschmack im Mund und mit einem Schlag das ganze Glück.
Die Nase blutet.
Schneidezähne raus und Prothesen rein.
Die Paranoia färbt alles schwarz.
Er wird das Gefühl nicht los, sein Leben habe noch immer nicht begonnen.
Er kippt in die Klinik, will entgiften, doch der Stoff pfuscht gleich wieder schön ins Gewissen.
Irgendwie landet er im Jahr 2009.
Auf der Couch vom Holländer sitzt Sabrina mit ihrer Freundin. Diese beiden Mädchen wirken auf ihn, als müssten sie geradewegs aus dem Fernseher geschlüpft sein. Sabrina hat gekreppte Haare und dünn gezupfte Augenbrauen, trägt Klamotten, die Eltern aus Höchstadt an der Aisch ihren eigenen Töchtern niemals erlauben würden.
Christian rutscht zu dicht an sie ran. Erst ist Sabrina abgestoßen von der dürren Junkieerscheinung, aber dann erzählt sie, dass sie am Rande der Innenstadt selbst in einer Wohngruppe für Jugendliche mit Suchtproblemen lebe. 16 sei sie und in ähnlich brüchigen Verhältnissen aufgewachsen wie er, durch ihre Kindervenen sei schon Heroin geflossen.
Je länger die beiden auf dem Sofa sitzen, umso mehr will Sabrina hinter seinen großen Pupillen doch eine gewaltige Herzenswärme entdecken.
Sie treffen sich wieder.
Hand in Hand.
Für sie will er es mit der Entgiftung noch einmal versuchen.
Sie besucht ihn in der Klinik, und dann sind sie ein Paar.
So viel Zeit wie möglich verbringt Christian in Sabrinas Wohngruppe, er kocht für alle, geht mit den Bewohnern ins Kino. Insgeheim wünscht er sich, er wäre selbst in einer Unterkunft wie dieser aufgewachsen. Manchmal übernachtet er heimlich bei Sabrina. Er schenkt ihr eine Hello-Kitty-Bettwäsche.
Ich lieb dich.
Einmal, sie spazieren durch Höchstadt, fährt ein silberner Renault Twingo an ihnen vorbei. Der Fahrer mit den Glupschaugen hupt, winkt Christian durch die Fensterscheibe zu. Christian starr, ganz still, für einen Moment geht er sich verloren. Was hast du?, fragt Sabrina. Er zögert. Dann ist sie die Erste, der er alles über den schwulen Hans erzählt.
Mit 18 muss Sabrina aus der Wohngruppe ausziehen. Sie hat weder Job noch Ausbildung und kann nur dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen war.
Christian geht mit ihr. Sabrinas psychisch schwerkranke Mutter läuft nervös durch die Wohnung, hört Stimmen unsichtbarer Männer, behauptet, in einer Mormonen-Sekte gelebt zu haben, in der furchtbare Dinge geschehen seien.
Nach ein paar Monaten findet Christian eine karge Wohnung in Nürnberg und eine Ausbildungsstelle zum Informatiker. System-Level-Virtualisierungen. Sabrina ist so stolz auf ihren Freund, wie er so alles in die Hand nimmt.
Im Frühling 2014 wird sie schwanger. Da ist sie 22. Sie will abtreiben, das Kind soll nicht aufwachsen wie seine Eltern, mit diesem fetten Erbe der Armut. Als sie Christian das sagt, muss er weinen. Er fleht. Wir könnten doch eine richtige Familie sein.

Sommer 2022

Tag 53 ohne seinen Jungen: Direkt nach ihrer Entlassung aus der Klinik lief Rita zu ihrem Ex und machte mit der Sauferei weiter. Betrunken schrieb sie Christian knappe Botschaften auf Italienisch wie "Ich vermisse dich" und "Ich habe mich getäuscht" – nach ein paar Tagen war aber auch damit Schluss. Christian musste noch mehr Beruhigungsmittel schlucken. Für ein paar Wochen waren sie Bonny and Clyde gewesen, zwei Schlitzohren auf der Flucht vor dem Klinikpersonal. Nun hockt er hier wieder alleine rum.
Vor Kurzem diagnostizierten die Ärzte ihm eine schizoide Persönlichkeitsstörung und verlegten ihn auf eine der offenen Stationen. Seitdem darf er sich draußen frei bewegen. Nächste Woche wollen sie ihn entlassen. Darum führte er ein Gespräch mit einer Frau vom Sozialdienst, die ihm einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft organisieren soll. Er fand keine Worte für seine Angst.
Die Sommersonne im Park hinter dem Krankenhaus, der knirschende Kies unter seinen Flipflops, das Kindergeschrei vom Spielplatz. Christians Gesicht bleibt den ganzen Tag über gleichermaßen bedeckt. Ihn plagt offenbar sein Gewissen. Viel zu sehr hatte er wegen Rita verdrängt, was seine eigentliche Aufgabe ist. Mein Ein und Alles, flüstert er, und dann erzählt er von Fabians Geburt.

Winter 2014

Manchmal füllt sich das Leben mit wirklichen Träumen.
11. November 2014, 3090 Gramm, 51 Zentimeter.
Christian darf die Nabelschnur durchschneiden, und Sabrina verfängt sich in einer schweren Wochenbettdepression. Er läuft zum Kiosk, kauft alle Frauen- und Elternzeitschriften, die er finden kann. Auf der Küchenwaage wiegt er das Milchpulver auf das Milligramm genau ab, mit dem Infrarotthermometer kontrolliert er die Temperatur. Was ist das nur für ein Gefühl, wenn sich der kleine Kopf an seine Brust schmiegt? In der Gewissheit, gebraucht zu werden, kann man ganz verloren gehen.
Sabrina schluckt starke Beruhigungsmittel, liegt im Bett und betrinkt sich.
Fabians Weinen füllt die Stille aus.
Am Donnerstag, 26. November 2015, muss Christian länger arbeiten als gewöhnlich und bittet Sabrina, Fabian aus der Kinderkrippe abzuholen. Als er heimkommt, bemerkt er, dass er seinen Schlüssel vergessen hat. Er klingelt. Ruft an. Lauscht an der Wohnungstür, hört Fabian plappern. Erst vor ein paar Tagen haben sie die uralten Gaseinzelöfen aufgedreht, Christian hat Angst, der Kleine könnte sich daran verbrennen. Er versucht, die Tür einzutreten, wählt die Nummer der Polizei. Auch die hämmern und rufen. Endlich öffnet Sabrina, ganz verschlafen.
Das liege an den Tabletten, sagt sie.
Tags drauf nimmt Christian seinen Jungen lieber mit zur Arbeit. Nachmittags ruft das Jugendamt an. Er solle nach Hause kommen, zu einem Krisengespräch. Sie verdächtigen ihn und Sabrina, kindeswohlgefährdende Junkies zu sein.
Sie nehmen Fabian mit.
Wie hungrige Hunde kläffen seine Gedanken. Hätte das Jugendamt so etwas gewagt bei einer Familie wie der seiner Exfreundin Laura? Bei einer Familie in einer anderen Wohngegend, mit anderem Einkommen?
Christian klagt auf Herausgabe des Kindes. Eine Haarprobe beweist, dass beide clean sind. Am Tag vor Heiligabend bekommen sie Fabian zurück. Von da an kann Sabrina ihren Jungen nicht mehr ansehen, schämt sich.
Sie fängt an, in einem Amüsierlokal zu arbeiten. Gegen Geld betrinkt sie sich mit alten Männern, manchmal bringt sie einen von ihnen mit nach Hause. Für ein paar Euro mehr gibt sie sich ganz auf. Bald sticht sie sich wieder die Nadel in die Armbeuge.
Ihr Lichtblick erlischt. Ein halbes Jahrzehnt hatte Sabrina ein Leben, eine Hoffnung, manche Tage froher als andere, aber jetzt, wo man sie sowieso nur wieder für eine unfähige Fixerbraut hält ...
Ihm fehlen alle Worte.
Im Frühling zieht er mit Fabian in die Wohnung seiner Eltern und bricht die Ausbildung ab.
Herzwandaneurysma, Herzmuskelriss. Christian besucht seinen Vater am Krankenhausbett. Sie reden miteinander, zwei Wochen lang sind sie auf einmal Vater und Sohn. Am 11. August 2016 darf der alte Mann nach Hause. Ein Korsett hält den aufgebrochenen Brustkorb zusammen. Am nächsten Morgen öffnet er sich ein Bier, ein Husten entfährt ihm, das wie ein Schluckauf klingt. Im Wohnzimmer, zweieinhalb Monate vor seinem 65. Geburtstag, kippt er tot um.
Die älteste Schwester, die Christian die Ausbildungsstelle bei Rewe besorgt hatte, erscheint nicht zur Beerdigung. Er schreibt ihr eine SMS: "Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Ich hoffe, es geht dir gut, du Fotze. Während du Champagner schlürfst und ein Leben auf der Überholspur führst, sitzt unsere Mutter traurig zu Hause und betrauert den Tod ihres Ehemannes. Ich hoffe, du erstickst an deiner Kohle."
"Lieber Christian, du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Du hast mir das schönste Geburtstagsgeschenk meines Lebens gemacht. Endlich ist mein Peiniger tot."
Was für eine Fehlzündung der Wirklichkeit. Sofort ahnt Christian, was sie damit meint, ohne es gleich ganz begreifen zu können.
Verdrängte Erinnerungen sickern durch, und plötzlich sieht Christian vor sich wieder diese Fotos auf dem Computer seines Vaters. Die nackte Schwester, noch ein kleines Mädchen, mit gemalter Sprechblase über dem Kopf: "Fick mich!"
Der alte Mann, dem Christian im Krankenbett die Hand gehalten hatte, auf dessen Beerdigung er um seinen Vater getrauert hatte, dieser Mann hatte seine Stieftochter über Jahre hinweg vergewaltigt, sich dabei gefilmt und die Videos auf Festplatten gespeichert. Hat Christians Mutter es geahnt? Wer weiß. Das Schweigen war immer schon ihre Strategie gegen das Leben gewesen.
Der Frühling kommt.
Auf Bet and Win gewinnt Christian 20.000 Euro. Im April 2017 kauft er seiner Mutter einen gebrauchten Mazda 5. Da nimmt sie ihn in den Arm, als liebe sie ihren Jungen.
Kurz darauf beschließt er, mit Fabian fortzugehen. Für immer und endgültig dieser Wohnung entkommen.

Sommer 2022

Tag 112 ohne seinen Jungen: Selbst Planeten taumeln im Kreis und um sich selbst. Warum sollte es den Geschöpfen auf ihnen anders ergehen? Am Plastikflaschenbier Halt suchend, fällt eine junge Frau mit kahl rasierten Schläfen neben den Kugelbrunnen vor der Sparkasse.
Als Christian aus einiger Entfernung Lena entdeckt, presst er die Lippen zusammen, kommt nur zögerlich näher. Er hatte nicht erwartet, sie so betrunken anzutreffen. Vor ein paar Wochen hatte er sie auf der P12 kennengelernt. Sie ist 20, Diagnose: Borderline. Lena springt auf, will ihn umarmen. Er weicht zurück. Sie zuckt mit den Schultern, reicht ihm eine Packung Tavor. "Darum bist du doch gekommen, oder?" Kommentarlos steckt Christian die Tabletten ein. Lenas Arme sind bis zu den Schultern hoch vernarbt. Tiefe Kerben. Über manchen klebt frischer Schorf.
Sie erlaubt sich selbst eine kleine Pille, spült mit Plastikflaschenbier nach.
Sie erzählt Christian, dass ihr Psychotherapeut die Therapie vergangene Woche beendet habe, weil sie zu viel saufe. Und der Arzt habe letztens gesagt: "Jeder hat die freie Entscheidung, ob er sich umbringen will oder nicht." Seitdem lebt sie mehr oder minder auf der Straße. Tränen kullern bis in ihre Mundwinkel, ihr ganzer wunder Körper bebt.
"Die Gefühle tun so weh, weißt du, Chris? Ich will nicht sterben, aber ich will diese Gefühle nicht länger aushalten."
Er nickt, schaut an ihr vorbei.
Als Christian vor ein paar Wochen aus der Klinik entlassen wurde, fuhr er mit dem Bus zur Adresse der Obdachlosenwohnung am Stadtrand, die ihm die Sozialarbeiterin genannt hatte. Eine Zwei-Zimmer-Bleibe, die er sich mit einem anderen Kerl teilen soll. Als er sein winziges Zimmer betrat, brach er zusammen. Ein schmales Bett mit fleckiger Matratze, kein Schrank, kein Tisch, nicht einmal ein Stuhl. Vor Dreck vergilbte Wände. Abgestanden und modrig stank es. Eine Gefängniszelle wäre deutlich würdevoller.
In dem Moment war er sich ganz sicher, Fabian nie mehr sehen zu dürfen, und ohne zu überlegen, schluckte er die Packung Tavor, die sie ihm bei der Entlassung mitgegeben hatten.
Auf der Intensivstation kam er wieder zu sich, keine Ahnung, wie er überhaupt hier gelandet war. Die Nieren schmerzten. Schweißausbrüche und Atemnot. Dann erneut Psychiatrie, und nach ein paar Tagen wurde er abermals entlassen.
Anfang August 2022 bekam er plötzlich Nachricht vom Jugendamt: Er dürfe Fabian für 30 Minuten sehen. In einem kleinen Büro drückte er den Jungen an sich, wollte ihn nie mehr loslassen. Fabians Haut war braun geworden, die grünen Augen strahlten, die blonden Haare waren ausgeblichen, wie Stroh im Spätherbst. Fabian erzählte, er lerne jetzt schwimmen. Immerhin ist er schon sieben Jahre alt. Christian zeigte ihm Fotos von früher, die er eilig im Drogeriemarkt ausgedruckt hatte. Fabian, wie er seinen ersten Fisch angelt. Beim Mexikaner in Berlin. Urlaub an der Ostsee. Und da, ganz klein, sitzt er am Steuer eines Polizeiwagens und strahlt.
Die Mitarbeiterin des Jugendamts teilte folgenden Beschluss mit: Fabian werde in eine Heimeinrichtung nahe Passau verlegt, und dort solle er bald auch eingeschult werden. 200 Kilometer entfernt.
Tags drauf lief Christian von Arzt zu Arzt, ließ sich wieder Tavor verschreiben. Als er diesmal auf der Intensivstation zu sich kam, saßen zwei Polizisten an seinem Krankenbett und überwachten ihn.
Seit seiner neuerlichen Entlassung vor sieben oder acht Tagen hat Christian nichts mehr gegessen. Eine Art Hungerstreik. Seine Haare glänzen an diesem schwülen Nachmittag, an dem er Lena wiedertrifft, und auf dem grauen T-Shirt hat sich ein Wellenmuster aus Schweißrändern gebildet.
Lena zieht die Jogginghose hoch, zeigt ihm ihr Bein, aus dem, wie eine Qualle, eine handgroße gelblich eitrige Brandblase wuchert. Stolz und hilflos glänzen die Augen hinter den Tränen. Statt zu ritzen, zündet sie sich inzwischen mit Deo Teile ihres Körpers an.
"Du musst ins Krankenhaus", sagt Christian tonlos.
"Die kennen mich da schon alle. Das ist so peinlich."
"Quatsch. Ich bring dich hin, wenn du magst."
"Bisschen chillen noch. Bitte, Chris, stress jetzt nicht."
Irgendwann ist Lena doch bereit, ins Krankenhaus zu gehen. Sie schwankt, schafft es nicht, auf der Stelle zu stehen.
Am Klinikeingang möchte sie zum Abschied Christian in den Arm nehmen. Er weicht zurück, drückt sie von sich.
"Was solln das?", lallt sie und lacht.
"Du bist dreckig", sagt er und guckt endlos erschöpft vor sich auf den Boden.
Sie zuckt mit den Schultern, dreht sich um und wankt ins Krankenhaus.
Später schickt Lena ihm ein Foto. Darauf liegt sie mit Riemen fixiert auf einem Krankenbett. Sie streckt den Daumen hoch und grinst.
Christian sitzt in der Obdachlosenunterkunft herum, trinkt Cola aus der Flasche und denkt an Fabian. Er weiß, solange er hier haust, wird ihm das Jugendamt seinen Sohn niemals zurückgeben. Er grübelt. Und plötzlich wird ihm klar, wer ihm jetzt als Einzige noch helfen könnte: Fabians Mutter, Sabrina. Er nimmt sich vor, sie morgen anzurufen. Er muss sie so bald wie möglich treffen. Von dieser Idee ein wenig beruhigt, hört er zum Einschlafen sein Harry-Potter-Hörbuch. Zum ersten Mal seit Langem hat er so was wie einen echten Plan. Über seine Vergangenheit will er vorerst nur noch bruchstückhaft sprechen.

Winter 2018

Die Hoffnung ist ein Paradies, und manchmal doch die Hölle. Am 2. Januar 2018, nachdem er beschlossen hat, für immer abzuhauen, sagt Christian seiner Mutter, er gehe nur kurz mit Fabian spazieren, setzt den Jungen in den Kinderwagen, legt einen Müllbeutel mit Kleidung in dessen Ablage und läuft zum Bahnhof. Endstation Berlin.
Christian hat Geld für drei Übernachtungen in einem Hostel. Am vierten Tag findet er eine Notunterkunft für Familien der Diakonie. Ein graublauer unauffälliger Wohnblock in Kreuzberg.
Tag für Tag läuft er von Behörde zu Behörde, um eine Wohnung zu organisieren. Sein Herz rast vor Anspannung und Abenteuerlust. Sonntags besucht er manchmal den Gottesdienst, weil er es liebt, zu singen. Er fühlt sich dann weniger allein.
Nach zwei Monaten findet ein Verein für Vater und Sohn ein Zuhause. Lichtenberg, Rummelsburger Bucht.
Morgens bringt Christian seinen Jungen in den Kindergarten und setzt sich zwei Straßen weiter in ein kleines Café, bestellt Cola und ein Sandwich mit Avocado, Ei, Käse und Schinken. Ihm fällt die traurig dreinschauende Besitzerin hinterm Tresen auf mit ihrem pinken Lippenstift und den slawischen Gesichtszügen. Carmen hat sich vor Kurzem von ihrem Mann getrennt, einem stinkreichen, aber geizigen und noch dazu gewalttätigen Bauunternehmer, sagt sie.
Sie lädt Christian zum Essen in ein Schiffsrestaurant auf der Spree ein. Keines der Gerichte auf der Karte kommt ihm bekannt vor. Er bestellt was mit Lachs.
Wir hätten auch einfach Döner holen können, sagt er.
Sie lacht.
Nachts im Café, Haut an Haut.
Richtig geile Titten hast du.
Sie lacht wieder.
Die waren auch ziemlich teuer.
Zwei Monate später zieht er mit Fabian in ihr Haus am Stadtrand, Frieda-Rosenthal-Straße, eine Küche, so geräumig wie seine Wohnung, Bad mit Whirlpool, der Fernseher breit wie eine Kinoleinwand und noch dazu ein Garten.
Perlmuttglänzende Tage.
Das Lebensgefühl eines Sommers.
Aus dem Dönerladen gegenüber dem Café besorgt Carmen ab und an Kokain. Sie schenkt Christian Sneaker, sie unternehmen Spritztouren im Cabrio. Er macht einen Baristakurs und arbeitet im Café.
Irgendwann steht Carmens Ex vor der Tür, er wirft Christian vor, er sei ein Schmarotzer, der auf seine Kosten in dem Haus lebe. Das trifft ihn. Im April 2019 ziehen die beiden in eine Wohnung direkt über dem Café. Fischgrätparkett, weißer Hochflorteppich, ein schwarzes Lackklavier.
Carmen erzählt immer öfter davon, wie ihr Ex sie früher misshandelt und geschlagen habe, und zeigt Handyfotos von blauen Flecken. Sie schickt dem Ex Bilder, auf denen Christian mit ihrem Sohn Hausaufgaben macht, und an Christian wiederum Fotos, auf denen sie Fabian wie einen Säugling gegen ihre nackte Brust drückt.
Manchmal sitzt Carmen regungslos auf dem Parkett und starrt ins Leere, krabbelt über den Hochflorteppich und sammelt letzte Kokskrümel auf, fährt mit dem Auto fort, sperrt sich ein und wartet, bis Christian zu ihr kommt und sie da rausholt.
Eines Tages heuert sie dubiose Privatdetektive an, die ihren Ex beschatten sollen. Christian bekommt das Gefühl, den Mann warnen zu müssen. Der wiederum zeigt ihm flehentliche Liebesnachrichten von Carmen und Nacktbilder, die erst wenige Tage alt sind.
Hat sie Christian nur benutzt, um ihren Ex eifersüchtig zu machen?
Carmen scheint zu ahnen, dass ihr doppeltes Spiel aufgeflogen ist. An einem Abend im Juli 2019 kommt sie in Begleitung ihrer beiden Detektive und lässt Christian aus der Wohnung schmeißen.
Weinend und ziellos landet er mit Fabian in der nächsten S-Bahn.
Berlin-Charlottenburg, Franklinstraße 27a, zurück in der Obdachlosenunterkunft; abends Betten beziehen, morgens raus auf die Straße. Bodenlos hungrig. Fabian, dieses tapfere Kind, ist immer bei ihm. Nach vier Monaten findet er eine Trägerwohnung des Vereins Casa Nostra.
Wie aus dem Schatten gekrochen steht auf einmal Fabians Mutter vor der Tür, mit keiner Welt mehr im Einklang. Sie wolle ihren Sohn sehen, sagt Sabrina. Ihre Stimme klingt schwer und träge, als läge in ihrem Mund eine taube Zunge. Sie sei gerade aus dem Knast gekommen. Sie fällt auf Christians Sofa, kauert dort, nicht liegend, nicht sitzend, den Kopf zwischen den Knien. Fabian schreit: "Steh auf! Steh auf!", doch Sabrina rührt sich nicht. Christian filmt die Szene mit dem Handy als Beweis fürs Jugendamt. Später wird er ihr erklären, dass sie nicht bleiben könne, und sie zu einer Obdachlosenunterkunft bringen. Seitdem besucht sie Fabian ab und an.
Am 1. April 2021, etwa 8000 Kilometer entfernt, tippt einer der reichsten Menschen der Welt, Elon Musk, auf Twitter: "SpaceX is going to put a literal Dogecoin on the literal moon." Dazu das Bild eines Shiba-Inu-Hundes. Es geht um Kryptowährungen.
Ein Versprechen von Reichtum, Logik der Zahlen, Charts – von da an hebt Christian ab in den digitalen Kryptokosmos. Wenn Fabian vormittags im Kindergarten spielt, sitzt er bei McDonald’s und recherchiert am Handy zu Währungen und Anlagestrategien, tauscht sich mit Fremden in Foren und Telegram-Gruppen aus. Dank seines schnellen Auffassungsvermögens begreift er in wenigen Wochen Dinge, für die andere Jahre bräuchten.
Futurehandel, 125er-Hebel, CFDs, Long- als auch Short-Positionen, NFT-Minting und Staking. Durch Insidertipps erfährt er von Coins, kurz bevor sie bei den Kryptobörsen gelistet werden und damit fast automatisch an Wert gewinnen.
Anfangs verliert er den Großteil seines investierten Arbeitslosengeldes, aber dann werden aus hundert Euro Tausende, schließlich Zehntausende. Ein Kribbeln durchfährt ihn, ein Rausch, als würde er vor einem Spielautomaten sitzen und den Jackpot knacken – und das jeden Tag aufs Neue.
Bei McDonald’s schenkt er einer Verkäuferin 50 Euro und bittet sie, eine ganze Tüte mit Pokémon-Karten aus dem Happy Meal zu füllen, und wenn er mit seinem Sohn gleich wiederkomme, solle sie ihm sagen, er habe die alle gewonnen, weil er so ein gutes Kind ist.
Im Juni 2021 zieht er mit Fabian in eine Zweizimmerwohnung in Berlin-Mitte, Essen vom Lieferservice, Putzfrau, Handwerker für Renovierungsarbeiten, neue Kleidung für Fabian, haufenweise Lego. Gleichgewicht finden, zwischen der Sehnsucht, dazuzugehören, und der Hoffnung, frei zu sein.
Im Sommer lernt er Elli kennen, eine junge alleinerziehende Mutter. Christian ist ständig auf der Suche nach Frauen, oder eigentlich nach der Geborgenheit, die er sich von ihnen erhofft. Er lädt Elli zu sich nach Hause ein und erwähnt unvorsichtig die Kryptobörsen, gibt ein bisschen an. Womöglich sei er bald schon Millionär. Da sagt Elli, sie müsse kurz mal telefonieren, und wenig später steht ein Typ mit beeindruckenden Oberarmen in Christians Wohnung, der von nun an Abend für Abend mit glasigem Blick und einer Flasche Wodka vorbeikommt und alles wissen will über dieses Versprechen vom ganz schnellen Geld. Weil der Kerl auf Christian zu gefährlich wirkt, um ihn einfach rauszuschmeißen, überzeugt er ihn, gemeinsam einen eigenen Coin zu gründen: Dönerdoge. Ein Shiba-Inu-Hund, der in einen Dönerspieß beißt. Er verspricht dem neuen Geschäftspartner, wenn alles klappe, würden sie auf einen Schlag reich sein – und Christian hätte wieder seine Ruhe. Daraufhin fährt der Mann mit der Wodkaflasche durch Berlin und sammelt in Imbissläden und türkischen Friseursalons Zehntausende Euro Investitionskapital ein.
Dönerdoge geht online, und der Kurs stürzt ab.
Tags drauf erste Drohanrufe. Die Investoren wollen ihr Geld zurück. Elli schreibt: Zahl 50.000 Euro, oder dein Leben geht nicht so weiter wie bisher.
Panisch läuft Christian zu einem Anwalt. Der rät ihm, Berlin besser erst einmal zu verlassen.
Die darauffolgenden 36 Stunden sitzen Christian und sein Sohn in einem Reisebus, bis sie verschwitzt und müde zum ersten Mal den Boden eines fremden Landes unter den Füßen spüren.
Tsar Osvoboditel 23b, 9002 Warna, Christian mietet in dem bulgarischen Küstenstädtchen eine Wohnung, von deren Balkon aus er das Meer erspäht.
Fast täglich besuchen sie den kleinen Freizeitpark am Strand, während die Ziffern in seinen Krypto-Wallets allmählich zur abstrakten Größe verkommen.
Ein paar deutsche Auswanderer leben in der Stadt, Fabian könnte hier zur Schule gehen. Morgens füttern sie gemeinsam die Straßenkatzen. Manchmal wundert er sich, wie digitale Geldbeträge über Glück und Unglück entscheiden können. Er steht am Strand, sieht hinaus aufs Meer, Fabian läuft über den Sand, da kommen ihm fast die Tränen: Ich hab’s geschafft, denkt er. Und vielleicht, vielleicht bleibt es für immer so.
Doch plötzlich schreibt ihm Elli wieder: "Als Zeichen deines guten Willens geb ich dir bis 20.15 Uhr Zeit, mir 500 Euro auf mein PayPal-Konto zu überweisen, halbe Stunde sollte dafür reichen. Tust du es nicht, hab ich ja ausführlich genug geschrieben, was passieren wird. Und ich meine es todernst."
Sie droht ihm, wenn er nicht zahle, werde sie der Polizei sagen, dass er sie vergewaltigt habe.
"Wie gesagt, ich habe keine Geduld mehr – 500 Euro in ’ner halben Stunde, oder mich hält nichts mehr auf."
Da sieht Christian auf einmal vor sich, wie er verhaftet wird, wie Polizisten seinen Sohn mitnehmen, das Geld beschlagnahmen. Ein Film in Endlosschleife, ein Wahn, zwanghaft, aus dem er über Tage hinweg einfach nicht mehr rausfindet. Eine unendliche Erschöpfung überkommt ihn. Die Einsamkeit. Er verliert den Bezug zur Wirklichkeit, lebt nur noch in seiner Angst. Er entscheidet: Nie mehr fliehen vor Albträumen der Jugend, nie mehr getrieben von der Sehnsucht nach Anerkennung.
Am 11. April 2022 bestellt sich Christian im Internet mehrere Flaschen Helium und einen Gartenschlauch.
Sein Vermögen spendet er an die Binance Charity Foundation, die Gelder für Opfer des Ukraine-Krieges sammelt. Er schätzt, dass es umgerechnet knapp eine Million Euro sein müssen, den Überblick aber hat er längst verloren. So etwas wie eine Spendenquittung will er nie erhalten haben, die gebe es nur auf Anfrage.
Er tippt aufs Handy einen langen Abschiedsbrief, erzählt vom Café Chaplin und vom schwulen Hans, seinem Elternhaus, das ihm seit je ein poröser Ort gewesen war, wie er Sabrina kennengelernt und später im Tausch gegen seinen Sohn verloren habe, von den Hoffnungen in Berlin und den letzten flimmernden Wochen in Bulgarien.
Fabian schläft.
Christian dreht die Gasflasche auf, nimmt den Schlauch, stülpt sich die schwarze Mülltüte über den Kopf, bindet sie mit Klebeband um den Hals ...
"Das war sie nun, meine Geschichte. Heute habe ich unseren letzten Lewa ausgegeben. Ich bin nun völlig pleite und gehe, mit was ich gekommen bin."

Sommer 2022

Tag 127 ohne seinen Jungen: Christian hatte seinen Plan umgesetzt und zu Sabrina Kontakt aufgenommen. Es ist der 4. September 2022, ein stickig-träger Tag in Berlin. Als Christian aus dem grünen Reisebus steigt, steht Sabrina schon da und lacht schief. Kurz harren die beiden im Blick des anderen aus, sie wiegt den Kopf hin und her, sagt, ach, jetzt komm, und schließt ihn in die Arme.
"Warum hast du dich nie gemeldet?", fragt sie.
"War beschäftigt", sagt er und löst sich gleich von ihr.
"Womit denn?"
"Mich umzubringen."
Nichts an ihr erinnert Christian noch an das Mädchen, das da einmal beim Holländer auf dem Sofa gesessen hatte. Sabrinas Haut ist teigig, aufgequollen, unrein. Sie hat Lippenstift aufgetragen und Kreolen ins Ohr gesteckt, an denen je ein kleines Gänseblümchen baumelt.
Schweigend gehen sie nebeneinander her, fahren schließlich mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt.
Damals, nachdem er auf den Rat des Anwalts hin Berlin verlassen hatte, um nach Bulgarien zu fliehen, hatte er für seine alte Wohnung einfach keine Miete mehr überwiesen. Bis vor Kurzem war er sich darum sicher gewesen, dass die Wohnung längst geräumt worden ist und jemand anders darin lebt.
Doch vor ein paar Tagen, zehn Monate nach seiner Flucht, telefonierte er mit Sabrina, die noch immer in Berlin feststeckt. Er erzählte ihr im Schnelldurchlauf, was alles passiert war und dass er dringend sein Leben geregelt bekommen müsse, damit sein Junge zu ihm zurückkomme. Dazu brauche er aber zuallererst eine anständige Bleibe. Sabrina ging also zu seinem früheren Zuhause und spähte durchs Fenster. Seine Möbel standen noch immer dort.
Und wirklich: Als die beiden jetzt an der Wohnung ankommen, passt der Schlüssel noch immer ins Türschloss. Tote Luft strömt ihnen entgegen. Christian lacht auf.
Rechts in der kleinen Küche schimmeln im Waschbecken Essensreste auf Tellern. Im Kinderzimmer auf dem Boden liegen Legoteile, als hätte Fabian den Raum vor ein paar Minuten erst verlassen. Im Schlaf- und Wohnzimmer entdeckt Christian auf dem Bett ein graues Levi’s-T-Shirt seines Jungen, er hält es vor sich, sieht es schweigend an, um es dann zart zurückzulegen. "Ist ihm jetzt viel zu klein."
Um nicht hilflos herumzustehen, fängt Sabrina an, ein paar leere Cola-Flaschen vom Esstisch in den Flur zu stellen. Sie findet, Christian ist ein raffinierter Kerl, von keinem könne man besser lernen, sich durchs Leben zu schlagen. Sie traut sich nicht, es ihm zu sagen, doch sie hofft, dass sie jetzt, wo er zurück ist, wieder ein Paar werden könnten. Sie liebt ihn noch. Hat sie immer. Außerdem hätten sie gemeinsam vielleicht bessere Chancen, Fabian zurückzubekommen.
"Ich hab jetzt einen Freund", sagt Sabrina.
"Nimmt der Drogen?"
"Nee, verkauft nur."
"Tolles Umfeld."
"Ich möchte mit Junkies auch nix mehr zu tun haben."
"Du nimmst kein Heroin mehr?"
"Schon längst nicht mehr."
Aber dann, ganz plötzlich, muss sie heim. Sofort. Ihr sei übel, sie fange schon an zu schwitzen, brauche Methadon.
"Lass uns in Kontakt bleiben, bitte, Chris."
"Mal schauen", sagt er und sieht sie nicht an.
Die erste Nacht alleine in der Wohnung wird zum großen Durcheinander. Christian kann nicht schlafen, das ständige Gefühl, sein Junge könne ins Zimmer laufen, beinahe hört er Fabian nebenan spielen.
In den Tagen darauf trifft er Sabrina noch ein paarmal. Dann ertragen sie das Leid des jeweils anderen nicht länger.
Von da an liegt Christian nur noch im Bett herum und starrt die Einsamkeit an. Er erfährt, dass seine Wohnung in wenigen Tagen doch geräumt werde, wenn er seine Mietschulden nicht sofort begleiche.
Berlin war eine schlechte Idee gewesen.
Er weiß nicht weiter. Er setzt sich schließlich in den Bus und fährt zurück – zu seiner Mutter.
Dieselben stumpf gelaufenen Terrazzostufen wie vor 22 Jahren. Als die Tür aufgeht, nur einen Spalt weit, begrüßt ihn ein süßlich-modriger Geruch, eine ältere Frau mit schmalen Lippen und grauem Kurzhaarschnitt spitzt auf den Flur, ihr Gesicht regungslos.
Sie stellt keine Fragen, teilt ihm eine Matratze auf dem Boden im Schlafzimmer zu. In dem anderen Raum, der früher das Wohnzimmer war, lebt inzwischen Christians jüngste Schwester mit ihrem Freund. Im dritten Zimmer sitzt seine Mutter an einem kleinen Tisch und spielt unentwegt auf dem Handy. Christian nimmt neben ihr Platz. Und dann, nach einigen Tagen des Vor-sich-hin-Schweigens, ganz plötzlich, da muss er sich etwas Sonderbares eingestehen. Er horcht in sich hinein, und was er hört, ist Ruhe. Erstaunliche Klarheit im Kopf. Erst begreift er nicht, wieso, aber dann denkt er: Vielleicht, weil hier niemand eine Erwartung an mich hat. Und vielleicht auch, weil er hier doch ganz bei sich ist.
Ende Januar geht er zum Jobcenter, wo man ihm eine Wohnung ab Frühling in Aussicht stellt. Sein Arbeitslosengeld investiert er wieder in Kryptowährungen. Dank ein paar Insidertipps macht er gleich einen Gewinn von mehreren Tausend Euro.
Dann, nach 292 Tagen ohne seinen Jungen, ist endlich jener, an dem er Fabian wiedersehen darf.

Frühling 2023

Wir kommen aus dem Nichts, wir gehen ins Nichts, und dazwischen wollen wir glücklich sein.
Den ganzen Morgen über bewegt sich Christian fahrig wie eine Papiertüte im Wind. Als er am Mittag die Küche des Kinderheims betritt, läuft Fabian auf seinen Papa zu, fällt ihm in die Arme, lässt sich hochheben und ganz fest drücken.
"Du bist ja schwer geworden!", ruft Christian und lacht, und Fabian nickt stolz.
"Der ist dir viel zu groß", sagt Christian, als er den blonden Jungen auf den Boden absetzt. Fabian trägt einen froschgrünen Kapuzenpulli, der ihm weit über die Hände ragt. Fabian streckt die Arme aus, sodass die kleinen Finger zum Vorschein kommen. "Ja, aber so passt er auch nächstes Jahr und sogar übernächstes Jahr!" Fabian ist jetzt schon acht Jahre alt.
Christian hat einen Karton mit einem halben Dutzend Minecraft-Lego-Bausätzen mitgebracht. Gemeinsam setzen sie sich an den Tisch und fangen an, Stein auf Stein zu stecken. Fabian erzählt von einem Mädchen in seiner Klasse, dem er zum Valentinstag Schokolade geschenkt hat. Er mag sie. Christian muss grinsen.
Wenn Fabian erwachsen ist, will er Lehrer werden oder Papst, mal schauen.
Am Nachmittag gehen sie, die kleine Hand in der großen, auf einen Spielplatz. Eine Erzieherin begleitet die beiden. Sie dürfen sich von nun an einmal im Monat sehen, und wenn es gut geht, dann bald öfter. Fabian läuft zur Schaukel, Christian schubst ihn an, höher und höher, und dann lacht der Junge dem grauen Himmel entgegen.

*Alle Namen geändert