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True Story Award 2024

In Amt und Würde

In einer hessischen Kleinstadt sitzt eine einzigartige Behörde:
Das Sonderstandesamt Bad Arolsen ist zuständig für Menschen, die
in Konzentrationslagern getötet wurden. Die Aufgabe erfüllt nur
noch ein letzter Standesbeamter – und der steht kurz vor der Pension

Er hat sechs Erschossene auf seinem Schreibtisch, zwei Anfragen von Angehörigen und einen Fall, da verzeichnete der Friedhof damals nur: unbekannter KZ-Toter. Erstmal Kaffee.
Er tritt an das Waschbecken, das in seiner Amtsstube als Kaffeeküche dient, füllt Wasser in die Maschine, setzt eine Kanne auf. In seinem Rücken stehen die Sammelakten im Archiv, Dachau, Auschwitz, Buchenwald, Regalmeter um Regalmeter. Es ist früh. Kaum sieben. Um sieben Uhr beginnt die Gleitzeit im Sonderstandesamt Arolsen, zuständig für die Toten der deutschen Konzentrationslager.
Sein Name ist Siegfried Butterweck. Er arbeitet seit mehr als vierzig Jahren im Sonderstandesamt: drei Räume, drei Planstellen, im Rathaus von Arolsen. Inzwischen ist er der letzte Standesbeamte hier, allein mit der Aufgabe, Sterbefälle in Konzentrationslagern zu beurkunden. Er erinnert sich: Als er anfing – 1981, aus dem Einwohnermeldeamt abgeordnet –, sperrte er sich, wollte nicht, war skeptisch. „Das geht vielen so“, sagt er, „und mir damals natürlich auch: Was machen die im Sonderstandesamt überhaupt?“
Er startet seinen Rechner und wirft das Radio an. Er hört HR-3, die Popwelle des Hessischen Rundfunks. An der Wand hängt ein Kalender, auf dem ein roter Rahmen das Datum ausweist. Draußen läuten die Glocken der Kirche gegenüber den Morgen ein. Schlag Sieben. Dienstbeginn. Er holt sich ein Sterbebuch heran, ein Fall aus Auschwitz, eine Frau, sie hieß Ilse.
Gewöhnlich bereitet er für Besuch eine kleine Präsentation vor, Sonderstandesamt Bad Arolsen, Aufgabe, Rechtsgrundlage, Arbeitsfeld. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die Zweischneidigkeit seiner Arbeit – die deutsche Bürokratie arbeitet sich am Massenmord ab, den deutsche Bürokraten möglich machten – dadurch an Schärfe verliert, ein Stück zumindest. Besuche sind aber selten geworden. Auch die Anfragen. Das Interesse an sich.
Er blättert durch das Sterbebuch, Seite um Seite das selbe Formblatt, _____ ist am _____ um _____ Uhr in _____ verstorben, ausgefüllt und unterzeichnet. Dürre Daten nur, doch von ungeheurer Macht. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, wurden Millionen von Menschen vermisst, von ihren Familien, ihren Freunden. Die Deutschen hatten aus ganz Europa Menschen verschleppt, zur Arbeit gezwungen, in Vernichtungslagern ermordet. Für diese Verbrechen gab es in der Geschichte keinen Vergleich. Auch die Folgen besaßen ein Ausmaß, das beispiellos war: So viele Menschen suchten nach Angehörigen, dass die Listen der Vermissten live im Radio vorgelesen wurden, stundenlang, über Monate. Die Vereinten Nationen mussten eigens ein Suchsystem entwickeln. Anfang 1946 bezog das zentrale Büro dieses Suchdienstes eine alte SS-Kaserne in einer Stadt im Norden Hessens, Arolsen. Vielen Angehörigen verhalf der Suchdienst zu Wiedersehen. Aber häufig endete eine Suche in der Erkenntnis, dass die gesuchte Person in einem Konzentrationslager gestorben war. Das stellte den Suchdienst vor ein Problem. Der Tod ließ sich kundtun – aber wie sollten die Angehörigen ihn danach amtlich nachweisen?
Er schlägt Ilses Seite auf. Sie stammte aus Berlin. Sie war 31, als sie starb, Auschwitz, Kasernenstraße, Oktober 1942. Dokumente wie dieses waren nach Kriegsende ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Tatsache eines Todes reichte nicht aus, um Recht zu bekommen. Wenn Angehörige eine Witwenrente beantragten, ein Erbe antraten, Wiedergutmachung wünschten, „dann ist es eben so in der Bürokratie bei uns: Du brauchst eine Sterbeurkunde“, sagt er. Der Suchdienst regte an, eine Lösung für die Angehörigen zu finden. Am 1. September 1949 ordnete das Land Hessen an, für Sterbefälle in Konzentrationslagern sei ab sofort ein Sonderstandesamt zuständig, in Arolsen.
Er geht nach nebenan, dort stehen die Sterbebücher jener Jahre. Auf seinem Dienstposten arbeiteten damals 16 Personen, zeitweise in der barocken Schlossanlage von Bad Arolsen, der Zenit des Amtes. Er öffnet die Schränke. Die Bücher wirken wie eine zerlesene Bibliothek. Abgegriffene Buchrücken. Die Aufschriften vor Alter fahl, manche Buchstaben verschlissen. Ber -Belsen. Flossenbür . Ne gamme. Sachs hausen. Diese Bücher wurden gebraucht, wieder und wieder. Der Bundestag hatte 1951 beschlossen, das Amt in Arolsen in die Gesetze aufzunehmen. Es erhielt die Aufgabe, von Angehörigen oder Suchdienst angezeigte Todesfälle in Sterberegister einzutragen und Sterbeurkunden auszustellen. 1953 unternahm Deutschland den Versuch, das Unrecht der Nazis durch Recht auszugleichen, Wiedergutmachung, per Gesetz. Aber das Gesetz hinkte. Es zog Grenzen. Es schloss fast alle Opfer aus, die im Ausland lebten. Homosexuelle. Roma und Sinti. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Antrag auf Wiedergutmachung konnte ausschließlich stellen, wer im Geltungsbereich des Gesetzes gewohnt hatte und wegen seines Glaubens, seiner Rasse, seiner Weltanschauung verfolgt worden war. Schon die Überlebenden taten sich mit solcher Spitzfindigkeit schwer. Aber es traf auch die Toten und ihre Angehörigen.
Er greift ein Buch heraus, irgendeines, 1954, nein, 1956, als es pressierte in Sachen Gerechtigkeit. In Arolsen kamen in jenen Jahren hunderttausende Anfragen an. Aber kaum mehr nach Menschen. Sondern nach Papieren. Der Staat hatte sein Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts mit einem Stichtag versehen: Wer die Verbrechen aus zwölf Jahren Nazi-Diktatur überlebt hatte, bekam zwölf Monate Zeit, erlittene Schäden zu belegen und einzureichen – Fristende 1. Oktober, für Opfer mit Wohnsitz im Inland 1954, für ins Ausland verzogene Anspruchsberechtige 1955. Die Uhr tickte, für die Überlebenden, für die Hinterbliebenen. Der Suchdienst, der seit dem Kriegsende Unmengen von Unterlagen sammelte, wurde eine wichtige Anlaufstelle für Nachweise. Auch das Sonderstandesamt arbeitete Fälle so schnell wie möglich ab. Er blättert das Buch auf. Eine Seite pro Schicksal, so viel war eingeräumt. Links ein Bergmann. Rechts ein Beamter. Gestorben März 1945, KZ Mauthausen. Das Amt beurkundete ihren Tod 1956, die Frist für Wiedergutmachung war verlängert worden, bis 1957. Seine Hand fährt über die Seiten. Ab und an kommen ihm alte Anfragen von damals unter, die der Suchdienst ans Sonderstandesamt durchreichte. „Wenn man die Schreiben von früher sieht“, sagt er, „aus den Fünfzigern: Hochwohlgeborener Suchdienst, könnten Sie mir bitte eventuell vielleicht bestätigen, dass mein Mann im Konzentrationslager war?“ Er schüttelt den Kopf.
Wenn ihm heute die Enkelkinder der Toten schreiben, die dritte Generation der Angehörigen, dann ist der Ton anders. Selbstbewusst, und aufrecht. Er mag das. Er bekommt Schreiben, darin steht bündig, „ich möchte Auskunft haben – darüber, darüber, darüber“, sagt er. „Ist auch richtig.“ Sie sehen sein Amt weniger als Behörde, eher als Stätte, die Erinnerung ermöglicht. Sie benötigen eine Sterbeurkunde nicht wegen ihrer Rechtskraft, sondern ihrer Symbolkraft. Er kehrt zu seinem Schreibtisch zurück, wählt eine Vorgangsmappe, zieht einen Zettel hervor. Eine Anfrage aus Frankreich, traf vorgestern ein. Er hat sie vom Computer übersetzen lassen: Eine Enkelin bittet um eine Sterbeurkunde ihres Großvaters. Sie will sie ihrer Mutter übergeben, der Tochter des Mannes, elle ne l'a jamais connu son père, sie hat ihren Vater nie kennengelernt, car il a été embarque, weil er weggebracht wurde, quand ma grand-mère était eceinte de huit mois, als meine Großmutter im achten Monat schwanger war.
Sein Vorgehen in solchen Fällen ist stets gleich. Sein Amt führt seit 1949 Kartei über abgearbeitete Sterbefälle. Diese Kartei, die einem übergroßen Zettelkasten gleicht, steht im Zimmer nebenan, in einen Registratur-Automaten sortiert. Es ist eine alte, tonnenschwere Anlage, die das Amt anschaffte, als es in das Rathaus von Arolsen gezogen war. Bevor die Beamten die Maschine bestellen durften, rückten Statiker an. Das Rathaus ist Baujahr 1914. Die Sorge war, das Gewicht der Toten könnte für das Gebäude zu schwer sein. Die Statiker errechneten, genug Tragfähigkeit gegeben, das schultert das Staatsgebäude. Das Amt bekam die Maschine. Er tritt an das Steuerpult, gibt den Anfangsbuchstaben des Großvaters ein, und mit einem Surren beginnen sich im Inneren die Ebenen zu drehen, auf denen die Karteikästen angeordnet sind. Das Amt hat so jeden Sterbefall asserviert, den es beurkundete, von A – Willem ver A, ein Kaufmann aus Rotterdam, er war 31 Jahre alt, als er in Buchenwald ums Leben kam – bis Z: Zbigniew Zzyper, dessen Name die SS missverstand, seine Familie schrieb sich Szyper, ein Maurer, geboren in Warschau, getötet in Gusen, einem Außenlager von Mauthausen, im Alter von 22 Jahren. Das Surren stoppt. Die Kartei steht still. Da ist der Großvater.
Er wirft einen Blick auf die Karteikarte. Seine Vorgänger im Amt haben den Sterbefall 1957 beurkundet. Er steckt die Karte zurück, schaltet die Anlage aus. „Das war mal High-Tech“, sagt er. Sie haben – damals waren sie noch vier Standesbeamte – am Ende des Kalten Kriegs aus der Sowjetunion Kopien verschollen geglaubter Sterbebücher erhalten und die Toten daraus in den Automaten aufgenommen. „Und jetzt? Jetzt ist es ein Relikt.“ Nicht lange her, da rief die Firma an, die den Automaten einst baute: Leider müssten sie den Wartungsvertrag kündigen – der einzige Mitarbeiter, der sich noch mit so alten Maschinen auskenne, gehe in Rente. Das war ein Schreck. Die Sterbebücher sind inzwischen digitalisiert. Die Hauptkartei, die sie erschließt, nicht. Was, wenn ein Bestandteil der Anlage Verschleißerscheinungen bekommt? „Wenn da was kaputt geht“, sagt er, „gucken wir in die Röhre.“
1957, das ist schwierig. Er wird der Enkeltochter kaum helfen können. Er sucht den Eintrag dennoch heraus, Sterbebuch Mittelbau, Jahrgang 1957, Band 2. Ein treffendes Exempel, um zu zeigen, wie seine Arbeit sich änderte. Anfang 2009 passte Deutschland sein Personenstandsgesetz an – die Regeln, wie der Staat seine Bürgerinnen und Bürger registriert. Statt auf Papier durften Standesämter digitale Register pflegen, außerdem führte der Staat Fristen ein: Jede Geburt ist 110 Jahre zu verzeichnen, jede Heirat 80 Jahre, jeder Tod 30. Danach betrachtet Deutschland die Sache als archivwürdig. 30 Jahre. Der Holocaust ist 80 Jahre her. Auf einen Schlag waren alle Sterbebücher, die das Amt in den 1950er, 1960er, 1970er Jahren angelegt hatte, Archivgut. Das ändert ihren Status, amtlicherseits. Sie lassen sich nicht mehr ergänzen. Kein Name kann vervollständigt, kein Datum präzisiert werden, wenn bislang unbekannte Dokumente auftauchen. „Für unsere Arbeit“, sagt er, „ist das Gift.“ Er grübelte damals, ob hinter den Änderungen böse Absicht steckte. Aber dann bedachte er sein Amt. Er hat einmal in einer Stabsstelle ein Organigramm entdeckt, der Staat und seine Organe, Kommunalaufsicht, Ordnungsbehörden, Katasterämter, gestaffelt bis ins letzte Glied, und ganz unten, kaum erkennbar, war er, Behörde Nummer 06635021. Nein, keine böse Absicht. Der Gesetzgeber hatte schlicht übersehen, welche Auswirkung seine Änderungen auf das Amt hatten, dem er einst die Toten der Konzentrationslager anvertraute. Als das Vergessen auffiel, gab es eine Gesetzesänderung später eine längere Frist, allein für das Amt, aber da war ein Teil der Toten schon ins Archiv gefallen. Er zeigt den Eintrag des Großvaters. In so einem Archivfall kann er keine amtliche Sterbeurkunde mehr ausfertigen. Er wird der Enkeltochter die Seite am Kopierer abziehen, so kann sie ihrer Mutter zumindest zeigen, es war Winter, als Opa starb, 22. Februar 1945, Außenlager Ellrich.
Er macht zu Hause Mittag, es ist nicht weit. Seine Töchter sind aus dem Haus, seine Frau und er haben sich, lange her, getrennt. Er isst mit Iris zu Mittag, seiner Lebensgefährtin. Sie haben sich über ihre Posten kennengelernt, sie arbeitet für die Arolsen Archives, so heißt der Suchdienst heute. Ansonsten lebt er für die Feuerwehr. Sein Bruder ist Feuerwehrmann, er selbst war jahrelang Vorsitzender der Freiwilligen Feuerwehr Arolsen. Sein Ehrenamt ist das einzige, was er länger ausübt als sein Amt. Vor kurzem verlieh ihm Hessen das Goldene Brandschutz-Ehrenzeichen am Bande, für fünfzig Jahre pflichttreuen Dienst.
Als er zurück im Rathaus ist, öffnet er das schmale Fenster über seinem Schreibtisch, kurz lüften. Dann setzt er sich an die Toten des Tages. Auf seinem Bildschirm baut sich eine karge Benutzeroberfläche auf, eine Eingabemaske, Befehlsleiste, am Rand einige Reiter. Ein Klick, und er öffnet das Sterberegister, das digitale Gegenstück der Sterbebücher von früher. Dann fächert er neben der Tastatur die Dokumente auf, die er benötigt: alte Mikrofilm-Aufnahmen, Transportlisten, Schreibstubenkarten, alles in Kopie. Eine Eigenart des Amts. Er darf einen Sterbefall, dessen Angaben unvollständig sind, nicht ablehnen. Das Gesetz, auf dem das Amt gründet, verpflichtet ihn, ergänzende Daten zu ermitteln. Dadurch hat er die Organisation des Todes, der in Konzentrationslagern herrschte, gut kennengelernt. Um zu verschleiern, wie viele Menschen starben, wurden in Bergen-Belsen Sterbeurkunden verschlüsselt: Keine fortlaufenden Nummern, wie an Standesämtern üblich, sondern Kombinationen aus römischen und arabischen Ziffern. Manche Schreibstuben gaben Tabellen mit unverfänglichen Todesursachen vor, von Darmkatarrh bis Kreislaufschwäche. Andere gebrauchten Chiffren. Plötzlicher Herztod, das hieß: erschossen. Aus diesen Gründen wehrt er sich, wenn Arolsen als Lagerstandesamt bezeichnet wird. „Ich bin kein Lagerstandesamt“, sagt er.
Er hat drei Tote heute. Ihre Namen tauchten auf Schriftstücken aus den Archiven des Suchdienstes auf, 1943 an ein Pfarramt gerichtet: Die Stadt Lublin teilte mit, die Männer seien im Krankenbau des Konzentrationslagers Majdanek verstorben. Er zog den Sachbearbeiter hinzu, der ihm beim Sichten von Dokumenten hilft. Sie glichen die Namen ab, noch nicht verzeichnet. Sie ermittelten, Dokumente einwandfrei. Sie prüften, Daten stimmen überein. Name. Vorname. Geburtsort. Todestag. Todesort. Auf seinem Bildschirm warten die Leerstellen. Er speist ein, was er hat. Dann gibt er den Befehl, zu beurkunden. Das ist der Augenblick, in dem sich Geschichte und Gegenwart kreuzen, getötet 1943, amtlich registriert achtzig Jahre später. Das Sterberegister wirft ihm drei Sterbeurkunden aus. „Jetzt ist die Sache amtlich“, sagt er.
Die Toten tragen nun eine Nummer, die sie auf immer kennzeichnet. Er bittet, diese S-Nummern nicht zu veröffentlichen, sind vertraulich. Auch ein Sterbefall, der achtzig Jahre her ist, fällt mit seinem Eintrag ins Sterberegister unter Datenschutz. Außerdem weiß er, was die Erben der Nazis aus solchen Zahlen zu lesen versuchen. Seit Jahrzehnten bekommt das Amt Briefe, Neonazis, Rechtsradikale, „die ewig Gestrigen, kann man nicht anders sagen“, sagt er. Sie wollen wissen, wie viele Tote genau das Amt in Konzentrationslagern zählte. Er zeigt eine stummen Zorn, wenn er von solchen Leugnern spricht. Sein Amt hat hundertausende von Sterbefällen beurkundet, aber das waren nicht alle, bei weitem nicht. In Vernichtungslagern machte sich die SS nicht die Mühe, alle Menschen zu erfassen, die sie direkt ins Gas schickte. Wenn ganze Familien ausgelöscht wurden, gab es meist niemand mehr, der sie später suchte. Viele Tote blieben unbekannt, bis heute.
Er deutet auf drei Haufen Dokumente, die am Rand seines Schreibtischs warten. Seine Langzeit-Ermittlungen. Als die Alliierten im Krieg vorrückten, versuchte die SS zu vernichten, was an Beweisen zu vernichten war. In einigen Lagern lautete der letzte Befehl, alle Unterlagen zu verbrennen, ausnahmslos. Am Ende trieben sie die lebenden Beweise in den Tod. Seine drei Haufen sind auschließlich Sterbefälle auf Todesmärschen, seitenlange Listen, nach Kriegsende zusammengetragen, als Sammelgräber geöffnet wurden. Name, Vorname: unbekannt. Geburtstag: unbek. Todestag: April ´45. Manchmal hat er Hinweise. Eine Nationalität, mit Kreide auf einen Sarg geschrieben. Ein Löffel mit Inschrift, der beim Leichnam lag. „Wir werden nie alle beurkunden können“, sagt er. „Unsere Arbeit wird immer Stückwerk bleiben.“
In jüngster Zeit fragt er sich häufiger, was aus dem Amt werden wird. Er ist 64. Er geht in einem Jahr in Pension, und wenn es nach seinen Ärzten geht, dürfte es gerne früher sein. Er war vergangenes Jahr lange krank. Er hatte einen Lungenriss. Ein Hubschrauber flog ihn auf die Intensiv nach Göttingen, er wäre um ein Haar gestorben. Monatelang fiel er aus. Es war seltsam. Das Amt war ohne Urkundsperson, die Arbeit stockte. Aber sie schien keinem zu fehlen, behördlicherseits. Dann, irgendwann, meldete sich das Bundesarchiv aus Berlin. Dort gibt es ein Gedenkbuch, auf Papier und im Internet, in das jeder einzelne Mensch eingetragen wird, der im Holocaust ums Leben kam. Was los sei, wollte Berlin wissen, warum schickt das Sonderstandesamt keine Sterbeurkunden mehr? Als er davon hörte, war er erleichtert. Sein Amt wurde vermisst.
Auf seinem Schreibtisch liegt noch ein aufgeschlagenes Sterbebuch. Geboren in Berlin. Getötet in Auschwitz. Es ist Ilses Eintrag. Er hatte den Eindruck, hier lasse sich noch etwas ermitteln, ein Sterbeeintrag womöglich ergänzen, ehe auch dieser Tod ein Archivfall wird. Er hatte Glück. In einem alten Berliner Anzeigenblatt fand er eine Annonce: Ludwig und Herta aus Schöneberg gaben hocherfreut die Geburt einer Tochter bekannt, Ilse. Damit hatte er eine Adresse. Er bat in Berlin um Amtshilfe, bekam eine Ablichtung des Eintrags im Geburtsregister. Er zeigt die Zeilen. Alles in altdeutscher Schrift abgefasst. Am Rand ein Stempel, der Reichsadler. Am 18. April 1939 vermerkte der Urkundsbeamte vom Dienst, nebenbezeichnete Person trage nun einen zusätzlichen Vornamen. Die Nationalsozialisten zwangen den Menschen, die sie vernichten wollten, zuerst andere Namen auf: Jeder Jude musste den Namen Israel führen, jede Jüdin den Namen Sara. Knapp darunter ein weiterer Stempel. Der vorstehende Randvermerk über angenommene Vornamen sei gemäß Gesetz des Alliierten Kontrollrats vom 20. September 1945 ungültig. Er tippt auf eine Stelle mitten im Dokument. Dort entdeckte er, was er im Sterbebuch ergänzen will.
Er legt Füller, Löschblatt und Stempelkissen bereit, rückt sich das Sterbebuch zurecht, zieht die Seite glatt. Er hat auf leserliches Schriftbild zu achten, wenn er eine Ergänzung vornimmt. Er setzt den Füller an und beginnt zu schreiben. Es geht schnell, ein paar Worte nur, Stempel, Unterschrift, Butterweck, Standesbeamter. Kraft seines Amtes gibt er Ilse im Tod ihren Vornamen zurück, den zweiten. Sie hieß Emilie, Ilse Emilie.
Warum macht er das? An den dürren Daten im Sterbebuch hat sich so gut wie nichts geändert, nur ein Name. Warum? „Wenn wir es jetzt nicht machen“, sagt er, „macht es keiner mehr.“
Feierabend. Er fährt den Rechner herunter, steckt die Kaffemaschine aus, löscht das Licht. Was glaubt er, werden die Urenkel, wird die vierte Generation auch Fragen stellen, nach den Toten, nach den Taten?
Er hält inne.
„Das weiß ich nicht“, sagt er.
Dann rückt er, sein Ritual am Arbeitsende, auf dem Kalender an der Wand den roten Rahmen, der das Heute markiert, einen Tag weiter.


Roland Schulz