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True Story Award 2024

Zwei Brüder

Nach dem Schiffsunglück in Griechenland vor drei Monaten gingen die Bilder von Fadi und Mohamad Hadhoud um die Welt. Wer sind sie? Und was ist aus ihnen geworden?

Er erkannte ihn kaum. Seit Monaten hatte er das Gesicht seines jüngeren Bruders nicht gesehen, so wird er es später erzählen, kein Bild, kein Videoanruf, nicht einmal ein Telefongespräch, seit der auf seiner Flucht nach Europa in ein Gefängnis bei Tripolis gesperrt worden war, ein halbes Jahr lang kaum Trinkwasser, kaum Essen bekam, Läuse hatte und die Krätze.
Jetzt waren da diese zwei Fotos. Der ältere Bruder hatte sie in einer Facebook-Gruppe gefunden. Darauf ein junger Mann, die Augen geschlossen, der Körper bedeckt mit einer glänzenden Rettungsdecke, Männer und Frauen schieben ihn auf einer Trage in einen Krankenwagen.
Konnte das sein Bruder sein?
Seit neun Jahren schon waren die Brüder getrennt. Fadi, der Ältere, die Haare schwarz und glatt, ein Muttermal auf der Nase, Fan des FC Barcelona. Und Mohamad, der Jüngere, die Haare braun und lockig, ein Muttermal auf der Stirn, Fan von Real Madrid. Zwei Jungen unter drei Schwestern, Söhne von Taysir, einem Krankenhausgärtner, und Latifa, einer Mutter, die Schawarma machte und Pizza und ihren Kindern die Wünsche nie habe ausschlagen können. Auch nicht wenn der Wunsch groß und gefährlich war und Europa hieß.
2014 war der ältere Bruder in die Niederlande geflohen, mit 21 Jahren. Jetzt, neun Jahre später, war der jüngere Bruder, 18 erst, auf dem Weg zu ihm, seit anderthalb Jahren.
Der ältere Bruder wusste, dass der Jüngere freigekommen und auf ein Boot gestiegen war. Er hatte die Nachrichten gehört, von einem Schiff aus Libyen, das auf dem Mittelmeer gekentert war, etwa 50 Seemeilen vor der Küste Griechenlands. Ein rostiges Fischerboot, bis zu 750 Menschen an Bord. Nur 104 Überlebende. Das tödlichste Schiffsunglück seit Jahren auf der wohl tödlichsten Migrationsroute dieser Erde. »Flüchtlingsdrama vor griechischer Küste«, meldete die »Tagesschau«, »Hundreds feared dead«, schrieb Al Jazeera, »a disaster that may have been one of the worst of its kind«, die »New York Times«.
Der ältere Bruder schickte die Fotos von dem jungen Mann unter der glänzenden Decke an einen Cousin. Er fragte: »Glaubst du, das ist Mohamad?«
Er buchte ein Flugticket nach Athen. Stundenlang wartete er an einem blau gestrichenen Zaun, am Hafen von Kalamata. Nichts. Dann, als die Überlebenden sich aufstellten, um aus der Lagerhalle, in der sie geschlafen hatten, mit dem Bus in ein anderes Lager gefahren zu werden, sah er ihn.
Es gibt Fotos und Videos von den Momenten danach. Über sie sprach die Welt, vielleicht mehr als über das Unglück selbst. Die Brüder stehen an dem Zaun, jeder auf einer Seite, Stangen zwischen ihnen, der Ältere streckt seine Arme durch das Gitter, streichelt dem Jüngeren über die Wangen, küsst ihn auf die Stirn. Er sagt immer wieder auf Arabisch: »Gott sei Dank bist du in Sicherheit!«
Der jüngere Bruder, das Gesicht voller Wunden, schluchzt laut auf, weint, lacht.
Der »Guardian« postete den Clip auf Instagram, er ist 30 Sekunden lang, bis heute hat er drei Millionen Aufrufe. Die »Süddeutsche Zeitung« druckte das Foto auf ihre Titelseite, darüber die Überschrift: »Er hat überlebt«. Auch der SPIEGEL zeigte die Brüder, genauso »The Independent«, CBC News, »Le Temps«, die »Bild«-Zeitung.
Zwei Brüder, in die Weltaufmerksamkeit geworfen, als Gesichter eines Unglücks. Zwischen ihnen ein Zaun, ein Sinnbild aus Metall, wie eine Grenze zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite, der des älteren, stand ein besseres Leben in Europa, auf der anderen das Trauma, in der Hoffnung auf dieses Leben fast gestorben zu sein. Es ist nicht einfach, von der einen Seite auf die andere zu wechseln, selbst wenn man Europa erreicht, selbst wenn man einen Bruder in den Niederlanden hat. Das werden die Brüder noch lernen. Aber es hilft, wenn die Welt hingeschaut hat, einmal kurz.
In den Tagen danach wurden ihre Bilder tausendfach geteilt. Es war ein vermeintlicher Trost zwischen all den Geschichten über die Toten. Ein Internetmoment, ohne Davor und ohne Danach. Ein kleines Happy End inmitten einer unermesslichen Katastrophe. Zwei Brüder, wieder vereint. So schien es.
Zwei Wochen später steht Mohamad, der Jüngere, hinter einem Tor aus Metall, die Hände vor dem Bauch, die Schultern zusammengezogen, er sieht aus wie ein Schüler, der zum Direktor muss. Er trägt das gleiche T-Shirt wie in dem Video, es ist weiß, viel zu groß, der Aufdruck abgeblättert, man erkennt nicht mehr genau, was es einmal zeigen sollte.
Hinter ihm das Flüchtlingslager Malakasa, hingestreut in zerhügeltes Irgendwo nördlich von Athen. Container reihen sich aneinander wie Zugwaggons, daneben, darum, dahinter, überall Stacheldrahtzaun. Ein Security-Mann mit Pilotensonnenbrille hält eine Schlüsselkarte an einen Scanner, es piept, das Tor öffnet sich. Der Security-Mann sagt mit Security-Mann-Stimme: »Give your name here.« Der jüngere Bruder läuft zu einem Holztisch, dahinter eine Frau in Signalfarbenweste. Er nennt nicht seinen Namen, nur die Nummer seines Containers. Er sagt: »Six Zero Eight«. Die Frau notiert und hakt ab.
Über seinem Kopf weht eine griechische Flagge, so groß wie ein Werbeplakat, oben an dem Mast ist ein Kreuz befestigt.
Er läuft die Straße hinunter, man sieht noch immer die roten Flecken, die Sonne und Salzwasser auf die Stirn und die Nase gebrannt haben, auf den Wangen die Pickel eines Teenagers, unter den Schläfen drückt sich ein bisschen Bart aus der Haut. Er hält eine laminierte Karte in der Hand. Sein Vorname ist darauf falsch geschrieben, darunter steht »Case No 284781« und »Asylum Seeker«, Asylsuchender. Im Camp trägt er den Ausweis an einem roten Bändchen um seinen Hals, verrutscht es, sieht man in seinem Nacken einen Bräunungsstreifen.
Er sagt, dass er sich im Lager mit zwei Männern einen Container teile, sie haben Stockbetten, ein Bad mit Toilette und einer Dusche ohne Vorhang. Dass er, während sich die restlichen Überlebenden jeden Abend auf der Terrasse eines Supermarkts nahe dem Camp träfen, Red Bull tränken und die Langeweile wegrauchten, fast nie herausgehe, weil er nicht wisse, worüber er sprechen solle. Dass er gar nicht mitbekommen habe, wie die anderen zusammen Opferfest gefeiert hätten, auf dem Sportplatz des Lagers. Dass er jede Nacht bis fünf Uhr wach bleibe, weil er Angst vor dem Schlafen bekommen habe.
Später wird er auch die Erinnerungen zusammensetzen, die er noch an das Boot auf dem Mittelmeer hat. Er, wie er zusammen mit seinem Schwager in der Nacht an Bord ging. Fünf Tage und kaum Schlaf, weil es zu eng gewesen sei, sie zusammengekauert gesessen hätten, Knie an Knie. Der Tank, in den Maschinenflüssigkeit gelaufen sei, in den die Menschen gepisst und gekotzt hätten und aus dem sie getrunken hätten, als kein sauberes Wasser mehr da gewesen sei.
Wie das Boot kippte in der Nacht, wohl nachdem die griechische Küstenwache ein Seil an ihm befestigt hatte. Erst nach links, dann nach rechts und dann kenterte. Wie sich im Meer seine Kleidung vollsog, er sich bis auf die Unterwäsche auszog, um leichter zu werden, und dann, weil er dachte, er würde sterben, begann, das islamische Glaubensbekenntnis zu sprechen, während neben ihm die Leichen trieben, vielleicht sein Schwager darunter, er ist bis heute vermisst.
Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Mohammed sein Gesandter ist.
Der jüngere Bruder ist ein ruhiger Mensch, der fast nur spricht, wenn man ihn etwas fragt.
Ein Junge noch, 1,68 Meter groß, der sagt, er habe seit der siebten Klasse seinen Vater gebeten, Syrien verlassen zu dürfen, weil er gewusst habe, dass er irgendwann zum Militär eingezogen würde, und der doch blieb, bei einem Friseur das Haareschneiden lernte, erst ging, im März vergangenen Jahres, nachdem sein Vater gestorben sei, an Covid .
Der in gebrochenem Englisch sagt: »Europe future good, Syria no future.«
Der Angela Merkel kennt und Joe Biden und Städte wie Hamburg und Hannover, aber nicht weiß, wie man einen Anschnallgurt anlegt.
Der, wenn er redet, seine Hände ineinander faltet, nur um sie wieder auseinanderzufalten, dann seinen Daumen auf den anderen drückt, dann andersrum.
Er sagt, er wisse nicht, wie lange er jetzt noch hierbleiben muss, in dem Camp. Er hat sich von den griechischen Behörden befragen lassen, ihnen Fingerabdrücke gegeben, wie alle Geflüchteten es tun müssen. Er bekam ein DIN-A4-Blatt zurück, oben links das Logo des Ministeriums für Migration und Asyl, unten sein Termin für ein zweites Gespräch.
20. Dezember 2023, 7 Uhr morgens.
Der jüngere Bruder sagt, seine Lieblingsserien seien »Walking Dead« und »Prison Break«, sein Lieblingsfilm »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«.
Er sagt: »Ich will nur zu meinem Bruder.«
In Syrien wohnten sie in einem einstöckigen Bau, drei Zimmer, Sofas darin, ein Fernseher, Matratzen auf dem Boden, ein Käfig für weiße Tauben, die der Vater züchtete, östlich von Aleppo, nahe dem Flughafen. In einem überfüllten Camp, errichtet in alten Armeebaracken für Palästinenser wie sie.
Der ältere Bruder, geboren am 23. Februar 1993, lange bevor der Krieg nach Syrien kam, ging dort zur Schule, machte seinen Abschluss, reparierte Handys in einem Laden. Der jüngere Bruder, geboren am 9. Januar 2005, so kurz vor dem Krieg, dass er kaum eine Jugend ohne Bombeneinschläge kennt, spielte auf der Straße mit seinen Freunden, bis die Raketen den Himmel rot färbten.
Die Brüder wurden entzweit an einem Tag im Jahr 2014. Der ältere Bruder, so erinnert er sich, umarmte den jüngeren. Dann ging er. Dem Jüngeren sagte er nicht, wohin.
Einmal, er war schon Wochen fort, habe der Jüngere ihn angerufen. Er habe gesagt: »Komm zurück, ich vermisse dich«.
Der ältere Bruder habe begonnen zu weinen und aufgelegt.
Was sind neun Jahre? Eine Ewigkeit? Ein Wimpernschlag? Neun Jahre reichen, um ein Land zu zerstören, aber nicht, um einen Krieg enden zu lassen. Sie reichen, um aus einem Kind einen Mann, aus einem Mann einen Vater zu machen und aus zwei Brüdern, die sich umarmten, zwei Menschen, die sich auf Bildschirmen gegenseitig beim Älterwerden zusehen. Sie reichen, um zwei Schicksale zu trennen und trotzdem eines zu teilen. Sie reichen, um aus einem Abschied ein Wiedersehen und aus einem Wiedersehen wieder einen Abschied zu machen.
Eine Kleinstadt im Süden der Niederlande, nicht weit von Eindhoven. Linden-Alleen, gepflasterte Vorgärten, Carports, Frauen rollen Kinderwagen über den Gehweg. In einem Haus mit Ziegelmauern, hinter einer Fensterfront in der unteren Etage, zugehängt mit weißem Stoff, sitzt der ältere Bruder und sagt: Als er den jüngeren Bruder gesehen habe, am Zaun, sei er erschrocken. Davor, wie viel Zeit vergangen sei.
Sein Bruder war nicht mehr der Junge aus seiner Erinnerung. Er war gewachsen. Er hatte einen Schnurrbart.
Der ältere Bruder trägt helle Jeans, einen dichten Bart, Gel in den Haaren. Er raucht, eigentlich die ganze Zeit, vor ihm liegt eine Schachtel, Marke Winston, der Warnhinweis ist auf Griechisch.
Es sei das Muttermal auf der Stirn gewesen, an dem er ihn erkannt habe.
Seine Söhne, fünf und sieben Jahre alt, sagt der ältere Bruder, seien mittlerweile fast so groß, wie der jüngere Bruder es gewesen sei, als er ihn vor neun Jahren zum Abschied umarmt habe. Sie gehen hier zum Fußball, zum Schwimmen, zur Schule. Die Klassenkameraden, sagt der ältere Bruder, fragten seine Kinder, was denn nun mit ihrem Onkel sei. Sie hätten alle das Video im Internet gesehen.
Der ältere Bruder und die Schwester seiner Frau haben einen Anwalt gefunden, er heißt Bart Toemen, ein Niederländer, spezialisiert auf Asylrecht. Sie hatten, nachdem das Boot gesunken war, von ihm gehört, weil er ein Interview gegeben hatte, in dem er auch über die Brüder Fadi und Mohamad sprach. Der Anwalt kannte das Video aus den Nachrichten und sagte den Journalisten, er halte es für nahezu unmöglich, Mohamad zeitnah in die Niederlande zu holen.
Jetzt will er es für sie trotzdem versuchen.
Der ältere Bruder erzählt, dass auch er damals aus Syrien fortging, weil er sonst zum Militär gemusst hätte. Dass er in die Niederlande gekommen sei, weil er gehört habe, dort arbeiteten die Ämter schneller als in Deutschland. Dass er nicht gewollt habe, dass sein jüngerer Bruder Syrien verlasse, aber dann zugestimmt habe, weil der eh nicht vom Gegenteil zu überzeugen gewesen sei.
Spricht man mit den Brüdern über ihre Flucht, über die des älteren und des jüngeren, wird schnell klar, dass sie sich nicht abgesprochen haben. Vieles von dem, was sie berichten, ist überprüfbar. Ihre Geschichten decken sich an den meisten Stellen. An manchen aber auch nicht, an solchen wie: wann sie zuletzt Kontakt gehabt hätten. Wie viel sie von dem anderen während dessen Flucht wussten. Während sie selbst über ihre eigene Route ohne viel Angst erzählen, schweigen sie, wenn es um die Route des Bruders geht, suchen nach Ausreden, nach unverfänglicheren Versionen. Es sind Momente, in denen sie fürchten müssten, über ihren Bruder etwas zu erzählen, das niemand erfahren soll.
Man kann das als naiv empfinden, als unglaubwürdig vielleicht auch. Oder als ein Zeichen einer Bruderliebe. Vielleicht so wie ein deutscher Junge für seinen Bruder vor den Eltern lügt, wenn der ein Kaugummi aus dem Supermarkt geklaut hat.
Was macht einen Bruder zum Bruder? Vielleicht ist es, dass man immer etwas von sich selbst in dem anderen sieht.
Sitzt man als Reporter dem älteren Bruder gegenüber, glaubt man, den jüngeren in ihm zu erkennen. Nicht im Aussehen, aber in der Art, wie er zur Begrüßung zurückhaltend die Hand ausstreckt und nur leicht zudrückt, in der Art, wie er spricht, leise und langsam. Er nennt seinen jüngeren Bruder »Hamoudi«, ein Kosename für Mohamad. Der Jüngere nennt den Älteren »khaya’«, palästinensischer Dialekt für »Bruder«.
Studien zeigen, dass die emotionale Verbundenheit zwischen Geschwistern nicht unbedingt von regelmäßigem Kontakt abhängt, sondern von der gemeinsamen Lebensgeschichte. Dass sie sich gerade in unerwarteten Krisensituationen schnell wieder intensivieren kann. In der Psychologie und Verhaltensforschung werden Begriffe wie »affection«, »affiliations«, »closeness« oder »intimacy« verwendet, um Geschwisterbeziehungen zu beschreiben. Worte für eine Nähe, die bleibt, auch wenn sich neun Jahre, Krieg, Flucht und Ländergrenzen zwischen zwei Brüder drängen.
Über die Jahre hatten die Brüder kaum öfter als einmal in der Woche miteinander gesprochen, selten nur zu zweit, so schildern sie es. An Wochenenden rief der ältere Bruder die Familie in Syrien an und zeigte die Häuser in der niederländischen Kleinstadt, sein eigenes, sein Auto. Für seine Familie muss es sich angefühlt haben, als hätte einer von ihnen in der Lotterie gewonnen.
Der jüngere Bruder sagt, in Syrien aufzuwachsen und zu sehen, wie sein älterer Bruder in Europa gelebt habe, habe in ihm etwas ausgelöst: Er wollte das auch.
In den Niederlanden ging der ältere Bruder arbeiten, um Geld nach Aleppo schicken zu können. Er ist Koch, seit sieben Jahren schon, das weiß der jüngere Bruder. Was für Essen er kocht, weiß er nicht.
An einem Abend im Juli steht der ältere Bruder in einer Küche in einer Einkaufsstraße von ’s- Hertogenbosch. Er trägt ein auberginefarbenes Polohemd, reißt Bestellungen auf Zetteln von der Wand, er schneidet Fleisch in Stücke, wirft Pilze und Paprika in Pfannen, frittiert Kartoffeln. Wenn ein Gericht fertig ist, pingt er eine Klingel. Hähnchen-Saté, Seeteufel aus dem Ofen, Filetspitzen. Familien sitzen an den weiß gedeckten Tischen, blonde Pärchen, sie trinken Wein, ein Kellner bringt die Karte, auf dem Buchdeckel das Logo des Restaurants, eine Zeichnung der Erde.
Syrien ist darauf nicht zu sehen.
In Griechenland sitzt der jüngere Bruder in seinem Container und lernt auf einem Handy, das der ältere ihm gekauft hat, mit einer App Niederländisch. Eine Comicfrau mit schwarzen Haaren und Computerstimme sagt ihm Wörter vor, er sagt sie nach. Stimmt die Antwort, klimpert es.
Wenn der ältere Bruder von der Arbeit nach Hause kommt, um 1 oder 2 Uhr nachts, telefonieren sie. Seit sie sich am Zaun sahen jeden Tag. Der Ältere fragt den Jüngeren die Vokabeln ab.
Goedemorgen. Dag.
Auto.
Manchmal hört der ältere Bruder durch sein Telefon einen hellen Knall. Dann weiß er, dass der Jüngere wieder mit einem Flipflop eine Kakerlake erschlagen hat. Manchmal gibt er das Handy auch seinen Söhnen. Sie sagen: »Mohamad, komm her, dann können wir Playstation spielen.«
Nach dem Unglück war der ältere Bruder eine Woche in Athen geblieben. Länger, sagt er, hätte er nicht freinehmen können. Einmal holte er den Jüngeren aus dem Lager ab, die Brüder liefen nebeneinander auf der Straße. Der Jüngere sagte: »Hast du gemerkt, dass wir gleich groß sind?« Der Ältere nahm ihn in den Arm und küsste ihn. An einem Abend brachte er ihn in sein Hotelzimmer, gab ihm sein Bett und schlief neben dem Cousin, der mitgekommen war.
Der jüngere Bruder sagt: »Früher war ich der einzige Junge zu Hause in Syrien. Mir war klar, dass ich meinen Bruder nie wieder sehen werde. Am Zaun, als die Kameras uns filmten und er meine Hand hielt, das war eigentlich der Moment, in dem ich merkte, dass ich einen Bruder habe. Dass er sich um mich kümmern wird.« Er sagt, er vermisse seinen Bruder jetzt mehr als früher, weil er ihn gesehen habe und habe anfassen können. Einmal nur noch habe er sich das Video von ihrem Wiedersehen angeschaut.
Im Juli wird er in ein neues Camp verlegt, nur wenige Minuten von dem alten entfernt. Er hat jetzt ein eigenes Zimmer, mit Blümchenbettwäsche, braunem Kleiderschrank, einem Wäscheständer und drei T-Shirts, das weiße, ein grünes und eines mit einer amerikanischen Flagge auf der Brust. Er ist einer der wenigen Überlebenden, die noch im Lager wohnen, viele sind schon weiter, illegal, zwei von ihnen mittlerweile in einem Heim in Neumünster.
Mohamad sitzt in seinem Container in Griechenland, wartet und übt Niederländisch. Hoe is het met je? Wie geht es dir?
Ik speel voetbal. Ich spiele Fußball.
Het spijt me. Es tut mir leid.
In Syrien ging er mit seinen Freunden in Cafés, spazieren oder trainieren, 50 Kilogramm schaffte er an der Brustpresse. Er zeigt Fotos von seinem Sixpack, seinem Bizeps, dem starken Jungen, der er mal war. Einmal waren sie im Urlaub, in Latakia, im Westen Syriens, wo Palmen aus dem Sand wachsen und das Meer ganz friedlich ist.
In der Schule, sagt er, war sein Lieblingsfach Geografie.
Als sie ihn im Juni mit einem Seil aus dem Wasser zogen und an Land brachten, die Sonne aufging, musste er die Welt neu sortieren. Er habe zuerst gedacht, er sei in der Türkei, die Häuser hätten so ausgesehen. Er fragte Polizisten am Hafen: »Wo sind wir?« Sie sagten: »In Griechenland«. Über ein Jahr, sagt er, sei er insgesamt in Libyen gewesen, die meiste Zeit davon in Schleuserwohnungen und Gefängniszellen. Jetzt erzählten ihm seine Freunde aus Syrien am Telefon, Cristiano Ronaldo spiele mittlerweile in Saudi-Arabien. Vom Krieg in der Ukraine las er auf Facebook.
Manchmal fährt er allein nach Athen, vom Camp ist es eine Stunde mit dem Zug, und läuft durch die Straßen ohne Ziel.
Er sieht Menschen, die Schweinefleisch essen, Frauen, die Röcke tragen, Männer, die Alkohol trinken. Er wundert sich, aber er mag Europa, er mag die USA, den Westen. Er mag Nike und Adidas. Er mag Musik von Eminem und Rihanna und Autos von Lamborghini. Er sagt: »Europa ist Freiheit. Man kann hier tun, was man möchte. Deswegen sind wir hergekommen.« Fragt man ihn, ob er Syrien mag, sagt er: »Was für Gründe gibt es, Syrien zu mögen? Da ist nur Krieg, und Menschen sterben.«
An einem Donnerstag geht der jüngere Bruder wieder durch die Fußgängerzone in Athen, vorbei an Touristen in Sommerkleidern und Sandalen, vorbei an Kiosken, neben deren Schaufenstern »I love Greece«-T-Shirts hängen.
Vorgestern war er schon einmal hier, er schaute sich gerade die Akropolis an, da rief der ältere Bruder an und sagte: »In zwei Stunden hast du einen Termin in der niederländischen Botschaft.« Er schickte die Adresse und sagte dem Jüngeren, er solle Passfotos machen. Also googelte er nach einem Laden, ging Passfotos machen, sechs Stück für 17 Euro, und lief zur Botschaft. Eine Frau fuhr mit ihm im Fahrstuhl in den vierten Stock, brachte ihn in einen Büroraum mit Computer, nahm wieder seine Fingerabdrücke, legte ihm ein Stück Papier hin. Er unterschrieb.
Es war ein Antrag auf ein niederländisches Visum.
Der Anwalt hatte ihn organisiert, mit Kontakten in die Behörden, er hatte eine hochrangige Beamte angeschrieben, die er kannte, so erzählt er es, und ihr gesagt: »Ich habe Sie noch nie um einen Gefallen gebeten, aber jetzt muss ich das tun.« Auch sie hatte das Video von Fadi und Mohamad gesehen. Sie tat ihm den Gefallen.
Mohamad wird eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung bekommen, sechs Monate bevor er seinen Termin bei den griechischen Behörden gehabt hätte. Fadi bürgt für ihn, wird seine Versicherungen bezahlen und auch sonst alle Kosten übernehmen. Das ist der Deal. Normalerweise, sagt der Anwalt, dauere so ein Antrag in den Niederlanden sechs bis neun Monate.
Normalerweise schaut nicht die Welt auf das Schicksal von zwei Brüdern aus Syrien.
Man könnte meinen, das Video, die Fotos, die Aufmerksamkeit, es wäre so etwas wie Glück gewesen für die Brüder. Oder in einem entscheidenden Moment weniger Pech als für all die anderen Zehntausenden, die in diesem Jahr schon an Europas Außengrenzen ankamen.
Der jüngere Bruder steht in Athen und lacht nicht und weint nicht. Er sagt: »Das ist das Maximum an Freude, das ich gerade aufbringen kann.« Er sei im Camp bei einem Psychiater gewesen und habe von den Albträumen erzählt, in denen er wieder im Meer schwimmt, und von seinem Schwager, der noch immer verschollen ist. Er habe eine Tablette bekommen, um besser schlafen zu können.
Er sei sich nicht sicher, ob sie geholfen habe.
Das mit den Papieren, habe die Botschaft gesagt, dauere zehn Tage. Wenn es schnell geht, vielleicht auch nur eine Woche. Der jüngere Bruder hat jetzt sein Handy nie lautlos gestellt, nachts liegt es neben seinem Kopf auf dem Kissen.
In den Niederlanden bereitet der ältere Bruder ein Zimmer für ihn vor, es ist das von seinem ältesten Sohn, die Kinder schlafen jetzt zusammen in einem Raum. Der ältere Bruder streicht die Wand weiß, hängt graue Vorhänge auf.
Die Papiere brauchen eine Woche. Noch in der folgenden Nacht, werden sie sagen, haben sie das Ticket gebucht, Direktflug von Athen nach Eindhoven um 12.20 Uhr, Flugnummer HV 6710.
Um 6.15 Uhr verlässt der jüngere Bruder, so wird er es erzählen, seinen Container, nur einen Rucksack auf dem Rücken, er ist blau, »FASHION« steht darauf. Darin eine rote Kladde, in die er niederländische Wörter geschrieben hat, Dokumente in einer Klarsichthülle, ein Deo, das T-Shirt mit der amerikanischen Flagge, der Ausweis, den er im Camp tragen musste, zwei Kämme, ein Nagelknipser, ein Paar Schuhe. Eine Zahnpasta und zwei Zahnbürsten, eine davon für seinen Bruder, als Geschenk.
Er schließt die Tür ab, versteckt den Schlüssel unter einem Stein im Lager, macht ein Foto davon, damit er ihn findet, falls er wiederkommen muss, falls sie ihn doch nicht ins Flugzeug lassen.
Er meldet sich nicht ab. Er verabschiedet sich von niemandem. Er geht einfach.
Er nimmt den Zug nach Athen und noch einen zum Flughafen. Sicherheitscheck, Boarding, der ältere Bruder ist die ganze Zeit am Telefon. Platz 14A, am Fenster. Neben ihm habe eine niederländische Frau gesessen. Sie habe ihn gefragt, wie er heiße und wo er herkomme.
Er habe gesagt: »Ik heet Mohamad. Ik kom uit Syrië.«
Dann heben sie ab. Der jüngere Bruder sieht das Mittelmeer von oben. Seitdem er gerettet wurde, sind, so dokumentieren es die Vereinten Nationen, über 400 Geflüchtete darin verschwunden.
In den Niederlanden fährt sein Bruder mit seiner Frau, ihrer Schwester, seinen Kindern, seinen Schwiegereltern zum Flughafen. Sie haben einen Strauß rote Rosen gekauft, die Söhne von ihrem Taschengeld eine Box vorbereitet mit Chips, Keksen, Milka-Schokolade. Alle tragen Weiß.
Der jüngere Bruder schaut aus dem Fenster, der Flügel wackelt, er bekommt Angst, dass das Flugzeug abstürzt. Er sagt Verse aus dem Koran auf. So erzählt er es später.
Der ältere Bruder raucht und betet, betet und raucht, zwei Schachteln in drei Stunden.
Die Söhne von Fadi sehen ihn zuerst. Einer rennt auf ihn zu, die Schuhe quietschen auf dem grauen Marmorboden der Flughafenhalle. Der jüngere Bruder nimmt seine Neffen auf den Arm, zum ersten Mal in seinem Leben. Es gibt ein Video davon. Dann umarmen sich die Brüder. Der Ältere sagt zum Jüngeren: »Gott sei Dank, dass du heil angekommen bist.« Um sie herum stehen Menschen in kurzen Hosen, mit Hunden und Babys und beachten sie nicht.
Noch am Flughafen hätten sie die Mutter in Syrien angerufen. Sie versteht nicht. Dann doch. Sie weint, sie lacht, vor Glück. In seinem Haus schneidet der ältere Bruder dem jüngeren die Haare, rasiert die Seiten ab, den Schnurrbart, gibt ihm Kleidung von sich, sie feiern, bis tief in die Nacht. Der jüngere Bruder spielt Playstation, »Call of Duty«, ein Kriegsspiel.
Am Nachmittag des nächsten Tages sitzen sie in einem Café. Der ältere Bruder fasst den jüngeren um die Schulter, kneift ihn, als wenn er sichergehen wollte, dass er das wirklich ist, neben ihm. Er spricht die meiste Zeit, der jüngere Bruder sitzt daneben und lächelt.
Was sind neun Jahre? Eine Ewigkeit? Ein Wimpernschlag?
Sie haben Pläne gemacht, einige schon. Sie wollen den jüngeren Bruder im Fitnessstudio anmelden und für den Führerschein. Vielleicht wollen sie zusammen einen Friseursalon aufmachen. Der jüngere Bruder sagt, er möchte an den Strand fahren, im Meer baden, um seine Angst vor dem Wasser zu besiegen.
Der ältere Bruder trägt ein T-Shirt, auf dem steht: »Endless Waves«.