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True Story Award 2024

Warum er und nicht ich?

Luca war mein bester Freund. Er starb mit dreiundzwanzig Jahren an Drogen. Warum werden manche Menschen süchtig und andere nicht?

Rückblickend wundert es mich nicht, dass Luca in unserem Schultheater die Hauptrolle spielte, den Zirkusdirektor. Er war ein charismatisches Kind. Wenn Luca etwas erzählte, hörten wir zu, er schmückte gern aus und hatte einen Hang zur Dramatik. Seine Geschichten waren besser als die Wirklichkeit. Auch deshalb war ich so gern mit ihm zusammen.
Luca und ich waren gleich alt, also fast. Es war mir stets wichtig zu betonen, dass ich eine Woche älter war als er. Ich konnte vor ihm die Schuhe binden und zeigte ihm den Weg in den Kindergarten. Aber eigentlich war er der Schlauere. Wir waren fröhliche Kinder, spielten Hochzeit in seinem Garten und gründeten auf unserer verkehrsberuhigten Quartierstrasse einen Rollbrettclub. Die beiden Einfamilienhäuser, in denen wir wohnten, waren durch einen Zaun getrennt. Unsere Mütter sägten ein Loch hinein, damit wir durchklettern und noch schneller beieinander sein konnten. Wenn ich heute das Loch sehe, wird mir eng im Hals.
Luca starb mit dreiundzwanzig Jahren an den Folgen einer Drogensucht.

Die Frage nach dem Warum
Bereits kurz nach seinem Tod fragte ich mich, warum ausgerechnet Luca drogensüchtig wurde. Und warum ich nicht. Schliesslich sehen wir auf den alten Fotos aus wie Zwillinge.
Ich studierte, ging auf Reisen, wurde Journalistin, gründete eine Familie. Wann immer ich umzog, nahm ich ein Foto von Luca mit. Sein Bild war stets da. Und doch rückte Luca in den Hintergrund; und somit auch die Frage, warum er sterben musste. Bis an einem Samstag vor wenigen Wochen. Mein Sohn wollte zum ersten Mal am Abend mit Freunden in die Stadt gehen. Er ist gerade vierzehn Jahre alt geworden.
Mit vierzehn haben Luca und ich zum ersten Mal Cannabis geraucht. Einige Monate später spritzte sich Luca Heroin.
Es ist wohl die Sorge um meinen Sohn, deretwegen ich mir erneut die Frage stelle, weshalb manche Jugendliche drogensüchtig werden und andere nicht. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass gerade wieder viel über harte Drogen geredet wird. Über Cracksüchtige in Genf, Zürich und Basel, die auf öffentlichen Plätzen ihre Drogen nehmen. Es gehe, so heisst es in den Medien, die Angst um vor einer offenen und ausser Kontrolle geratenen Drogenszene. Wie damals in den Neunzigern, der Zeit, in der Luca süchtig wurde.
Was war damals los?
Als Luca und ich die Sekundarschule in Schaffhausen besuchten, hatte sich in Zürich gleich neben dem Hauptbahnhof die grösste offene Drogenszene Europas gebildet. In den USA wurde der Begriff «The Swiss Needle Park» geprägt – in An lehnung an den Film «The Panic in Needle Park», mit Al Pacino in der Hauptrolle.
In diesem Heroindorf am Platzspitz wurde gedealt, konsumiert, übernachtet, gestritten und geliebt. Bis zu dreitausend Personen hielten sich dort auf, die meisten von ihnen junge Menschen, zwei Drittel männlich. Die Statistik des ärztlichen Hilfszentrums widerspiegelt die enormen Dimensionen der Drogenszene: Von November 1988 bis Februar 1992 wurden auf dem Platzspitz 7,4 Millionen Spritzen und Nadelsets abgegeben und beinahe siebentausend künstliche Beatmungen durchgeführt.
Auch im Berner Kocherpark, in der Basler Rheingasse und in anderen Städten gab es eine offene Szene, selbst in Schaffhausen, unserer Kleinstadt am Rand der Schweiz. Das Bundesamt für Statistik publizierte in jenen Jahren traurige Rekorde. Es gab in der Schweiz so viele Drogentote wie nie zuvor und nie wieder danach. 1992 starben 420 Menschen an den Folgen ihrer Drogensucht. Im «Sorgenbarometer», das Schweizerinnen und Schweizer nach ihren drängendsten Problemen fragt, lagen Drogen in jenen Jahren stets weit vorn.
Wenn ich mir heute Fotos und Dokumentarfilme aus jener Zeit anschaue, irritieren mich die vielen Close-ups von Spritzen, die sich in Venen graben, von eitrigen Unterarmen und schlimmen Abszessen. Eine Printreportage über den Platzspitz beginnt mit einer katzengrossen Ratte, die an einem halb toten jungen Mann knabbert. Man sprach nicht von Süchtigen oder Kranken, sondern von Junkies, Abfall. Es lag eine unheimliche Sensationsgier in der Berichterstattung. Auch aus Lucas Tod machte der «Blick» eine Schlagzeile.
Ich schreibe Lucas Schwester und bereue es sogleich. Ich fürchte, Lisa könnte in mir eine Journalistin sehen, die auf eine reisserische Geschichte aus ist. Sie antwortet noch am selben Abend, und zu meiner Erleichterung freut sie sich über meine Nachricht.
Anscheinend beschäftigen sie ähnliche Gedanken wie mich. Ihr ältester Sohn sei elf Jahre alt und sie frage sich, schreibt Lisa, «was wir als Eltern tun können, damit nichts schiefgeht. Vor allem in Bezug auf Drogen. Ich merke, dass dies eine meiner grössten Ängste ist.»
Wir verabreden uns für ein Treffen in ihrem Elternhaus in Schaffhausen. In der Zwischenzeit blättere ich durch Fotoalben, suche alte Briefe raus und höre die Musik von damals. Es ist eine beklemmende Zeitreise.

Der Sommer & der Schwarze Afghane
Im Frühjahr 1994 sahen Luca und ich noch aus wie Kinder, während andere in unserer Klasse bereits den Stimmbruch oder Brüste hatten. Ich war einsam, verkroch mich hinter meinen Büchern, während meine Freundinnen in die Jugenddisco gingen. Auch Luca litt darunter, dass er mit vierzehn Jahren noch immer klein und schmächtig war. Einmal stand ich neben ihm, als er einem Mädchen erzählte, er sei für alle nur der Kumpel, keine verliebe sich in ihn. Im Gegensatz zu mir hatte Luca aber eine grosse Klappe. In der Schule kritzelte er Nachrichten auf Zettelchen, die er zusammenfaltete und im Klassenzimmer herumschickte. Er schloss Wetten ab, wer als Erster aus dem Religionsunterricht geworfen würde – und gewann.
Ich weiss nicht mehr, warum, aber einige Monate später, im Sommer 94, fanden Luca und ich wieder Anschluss an die beliebten Kinder in unserer Schule. Dazuzugehören fühlte sich grossartig an, wie frisch verliebt. Wir trafen uns in den langen Ferien fast täglich im Freibad auf der Breite, unserem Quartier am Stadtrand von Schaffhausen. Beim Eingang nahmen wir uns einen Aschenbecher aus Metall, den man wie einen Zelthering in die Wiese stecken konnte, und rauchten Zigaretten.
Weil ein Mädchen aus unserer Gruppe Badiverbot bekam, trafen wir uns bald auf einem schattigen Spielplatz mit hohen Blutbuchen, der von einem Bach begrenzt wird. Wir nannten uns Pärkli-Clique. Keine Ahnung, wer damals das Hasch besorgte, wer die Papierchen und wer überhaupt wusste, wie man einen Joint dreht. Aber ich weiss noch, wie aufregend ich das alles fand. Ein Gefühl wie damals, als Luca und ich uns auf die Rollbretter kauerten und in die Röhre eines unterirdischen Kanals fuhren. Es war stockdunkel, und ich wollte schon nach wenigen Metern umkehren. Aber Luca fuhr weiter und weiter, er schien keine Angst zu haben.
Wir rauchten gepresstes Haschisch, das dunkel und klebrig war und Schwarzer Afghane hiess. Den Filter hatten wir aus einem Busbillett gefaltet. Wir legten uns auf den warmen Pingpongtisch und kicherten. Ein Mädchen zeigte auf die Strassenlaterne und rief, es sei Vollmond.
Drei Mädchen aus der Pärkli-Clique sind bis heute enge Freundinnen. An einem heissen Sonntag treffen wir uns am Zürichsee und reden über Luca. Er ist ihnen als feinfühliger und kreativer Junge in Erinnerung, der schlecht stillsitzen konnte und es liebte, die Erwachsenen zu provozieren. Wir trinken Weisswein, gehen schwimmen und machen uns Gedanken über den Zeitgeist von damals.
Die Schweiz war ein viel engeres Land als heute, 1990 sagte Appenzell Innerrhoden Nein zum Frauenstimmrecht, 1992 sagte die Schweiz Nein zu Europa, 1993 sagte das Parlament Nein zu Christiane Brunner als Bundesrätin, und 1994 sagte der Ständerat Nein zur einfacheren Einbürgerung junger Ausländer.
Wir fragen uns, ob Lucas Sucht etwas mit dieser Enge zu tun hatte. Oder ob es um unsere Vorbilder ging: Die Stars, die wir cool fanden, sahen aus wie Drogensüchtige, Heroin war chic. Wir umrahmten unsere Augen mit schwarzem Kajal so wie Kate Moss, die blass und abgemagert Werbung für Calvin Klein machte, und wir fühlten den Weltschmerz von Kurt Cobain. An einer Party bei Luca zu Hause sangen wir mit, als auf MTV «Livin’ on the Edge» von Aerosmith lief. «There’s somethin’ wrong with the world today», heisst es in dem Lied, Schulmädchen schlagen Autoscheiben ein, der Gitarrist steht auf einer Schiene, während der Zug näher und näher kommt. Erst im letzten Moment tritt der schlaksige Typ zur Seite.
Wir schauten den Clip kurz vor Lucas fünfzehntem Geburtstag. Er hatte sturmfrei, und ein paar von uns übernachteten bei ihm. Ich schlief irgendwann im Ehebett seiner Eltern ein. Eine meiner Freundinnen blieb auf, bis der Morgen dämmerte, und sie bemerkte, dass Luca verschwunden war. Sie ging raus, mit anderen zusammen, um ihn zu suchen und fand ihn schliesslich beim Pärkli. «Er erzählte etwas von Bäumen, die nach ihm griffen», erinnert sich die Freundin.
Später erwähnt sie, dass sie sich in unserer Clique oft fremd gefühlt habe. Die meisten von uns lebten in Einfamilienhäusern, besuchten Klavierund Ballettstunden, hatten Eltern, die am Küchentisch Hausaufgaben mit uns lösten. Sie hingegen wohnte mit ihrer geschiedenen Mutter, die für wenig Geld viel arbeitete, in einer Altbauwohnung. Ihr half niemand bei den Ufzgi, sie war oft allein und traurig. «Eigentlich», sagt sie, «hätte ich drogensüchtig werden sollen und nicht Luca.»
Nach den Ferien im Sommer 1994 verlor ich Luca aus den Augen. Wir hatten keinen Streit, es passierte einfach. Ich ging in Schaffhausen auf die Kantonsschule, er in Bülach, weil man dort Italienisch als Hauptfach wählen konnte, die Sprache seines Grossvaters.
Es muss im Herbst gewesen sein, als mir jemand erzählte, Luca rauche Folie. Ich sah damals am Rheinufer Jugendliche, die Heroin auf einer Alufolie köchelten und mit einem Röhrchen den Dampf einsaugten. Mich beeindruckten diese Teenager, die rebellisch und unnahbar wirkten, und ich hätte gerne gewusst, wie sich Heroin anfühlt. Aber zu hören, dass Luca da mitmachte, schockierte mich. Wir alle kannten die Platzspitz-Bilder und wussten, was Heroin anrichten kann. Ich hatte Angst um ihn.
Ich erfuhr, dass Luca von der Kanti in Bülach geflogen war. Wenig später traf ich ihn auf dem Heimweg im Bus. Er erzählte mir, dass er mit Rubbelzahlen Glückslose fälsche. Die Frau am Kiosk falle jedes Mal drauf rein. Ich lachte, obwohl ich ahnte, wofür er das Geld brauchte. Wir stiegen zusammen aus und redeten noch eine Weile, dann sahen wir uns wochenlang nicht mehr.
Später hörte ich, dass er das Heroin nun spritzte, dass er in der Altstadt Leute um Geld anbettelte, dass er in der Psychiatrie im Entzug war. Ich machte mir Sorgen, sprach mit meinen Freundinnen über Luca. Aber auf ihn zugegangen bin ich nicht.
Als wir uns wiedersahen, erkannte ich ihn kaum. Er war aufgedunsen und zog die Wörter seltsam in die Länge.
Erst heute, da ich mir diese Ereignisse in Erinnerung rufe, merke ich, wie wenig ich über Lucas Absturz weiss. Wie viel über die Zeit vor dem Sommer 1994 und wie wenig über die Zeit danach. Und so erhoffe ich mir vom Treffen mit seiner Familie etwas Klarheit und vielleicht auch Antworten auf das Warum.

Die Familie & das Tagebuch
Fast dreissig Jahre nach der Übernachtungsparty sind mir das Quartier und das Haus von Lucas Eltern vertraut und fremd zugleich. Im Garten reifen Johannisbeeren, unter der Tür umarmt mich Lucas Mutter. Doris war bis zur Pensionierung Primarlehrerin. Eine Lehrerin, in die sich Kinder vom ersten Schultag an verlieben. Lucas Schwester Lisa hat ihren Hund mitgebracht. Wir setzen uns im Wohnzimmer an den alten Holztisch, während sich der Hund aufs Sofa legt. Peter, der Vater, ist krank und kommt nur kurz Hallo sagen.
Lisa erzählt, sie träume manchmal von ihrem Bruder. «Meist sind es schöne Träume, er ist dann einfach da.» Aber es gebe auch diese schlimmen Rückblenden, in denen sie reale Szenen noch einmal durchlebe: Etwa wie sie eine Spritze in seinem Kinderzimmer fand, obwohl sie dachte, er sei nun endlich vom Heroin losgekommen. Das beklemmende Gefühl aus Angst und Trauer, das sie im Traum anspringe, begleite sie jeweils den ganzen Tag.
Warum Luca süchtig wurde, kann sich Lisa nicht abschliessend erklären. Aber sie glaubt, dass es auch mit dem Heroin an sich zu tun habe. «Luca sagte mir, man dürfe gar nicht wissen, wie sich Heroin anfühle. Denn wenn man einmal Heroin genommen habe, dann sehne man sich ein Leben lang danach.» Lisa sah ihrem Bruder immer schon sehr ähnlich – die ovalen Augen, die Sommersprossen –, war aber bodenständiger. Sie wusste, sie würde niemals Heroin probieren. Auch kein Kokain, kein LSD, kein Ecstasy. Lisa sagt, sie wolle das auch ihren Kindern so weitergeben. «Die können ein Bier trinken, wenn sie alt genug sind. Oder auch mal zu Hause kiffen. Aber harte Drogen sind tabu.»
Ich kann Lisas Angst gut verstehen. Neuropsychologen haben berechnet, dass das Abhängigkeitspotenzial bei Heroin 23 Prozent beträgt, dass also knapp ein Viertel all jener, die es nehmen, davon abhängig wird. Bei Kokain sind es etwas weniger: 17 Prozent, bei Alkohol immerhin 15 Prozent. Das Abhängigkeitspotenzial von Cannabis und psychedelischen Drogen wie LSD ist mit 9 und 5 Prozent eher gering.
Doris und Peter haben lange darüber nachgedacht, warum ihr Sohn süchtig wurde. In der Familientherapie, die sie damals gemeinsam mit Luca machten, habe man ihnen gesagt, Luca sei sehr behütet aufgewachsen. «Zu behütet», sagt Doris. Dazu muss man wissen, dass sie und ihr Mann bereits früh ein Kind verloren hatten. Das Mädchen war mit schweren Behinderungen auf die Welt gekommen und starb, als Luca noch klein war. Danach richtete sich alle Aufmerksamkeit auf ihn. «Wir hatten halt eine Wahnsinnsfreude an unserem gesunden Bub», sagt Doris fast schon entschuldigend.
Ich erinnere mich daran, wie stolz sie waren, als Luca den Zirkusdirektor spielte. Und wie sie ihn im Tennisclub von der Tribüne aus beklatschten. InErziehungsratgebern kann man lesen, zu viel Lob setze ein Kind unter Druck, mache es abhängig von der Anerkennung der Eltern und schade seinem Selbstwertgefühl. Traf das auf Luca zu? Erhielt er ein «Zuviel an Liebe», wie es Doris nennt? Lisa sagt, sie könne dieser Sichtweise wenig abgewinnen. Auch sie sei von den Eltern mit Liebe und Anerkennung überschüttet worden, ohne ein Drogenproblem zu entwickeln.
Die Frage nach dem Warum hat Lisa und mich noch nicht losgelassen. Doris hingegen sagt, sie beschäftige sich nicht mehr damit. Sie denke oft an Luca und rede mit ihm, wenn sie ihn auf dem Waldfriedhof besuche. Aber nach all diesen Jahren gräme sie sich nicht mehr. Sie habe ihren Frieden gefunden.
Nachdem ich mich von den beiden verabschiedet habe, gehe ich ins Pärkli. Hier ist die Zeit stehen geblieben: Der Bach, die Bank, die Blutbuchen, alles ist noch da. Ich setze mich auf den Pingpongtisch und schlage ein blaues Schulheft auf, das mir Doris mitgegeben hat. «Tag und Träume», hat Luca in Schnürlischrift auf den Titel geschrieben. Während ich die Einträge lese, ist mir Luca fast so nahe wie damals, als wir auf dem warmen Tisch lagen und über den Laternenmond lachten. Es ist, als würde ich ihm dabei zuhören, wie er mit sich selbst spricht.
«Mir geht es nicht sehr gut. Kann nicht mehr schreiben. Sorry Luca!
Isch scho guät!!»
Luca hat selbst den traurigsten Situationen etwas Komisches abgerungen. Aber er konnte auch ernsthaft sein. Nicht nur sein Umfeld, auch er selbst machte sich Gedanken darüber, warum er den Drogen verfallen war. Es klingt eine leise Gesellschaftskritik an, wenn er schreibt, wie schwierig es in dieser «scheiss Konsumgesellschaft» sei, produktiv zu sein und nicht nur zu konsumieren. Vorwiegend macht er aber sich selbst verantwortlich, er ist hart zu sich: Er habe zu wenig Disziplin, zu viel Selbstmitleid, sei feige.
«Ich wurde und bin süchtig, weil ich mich nie richtig entfaltet habe. Es gibt so vieles in mir, das raus will, aber ich feiger Hund habe nicht den Mut es loszulassen.»
Luca wirkte auf mich immer extrovertiert. Jetzt, da sein Heft vor mir liegt, frage ich mich, wie gut ich ihn gekannt habe. Hat er auch ausserhalb des Schultheaters eine Rolle gespielt? Oder ist das Hobbypsychologie, und er war einfach neugierig? Jedenfalls schrieb er, mit den Drogen wolle er «in andere Teile des Gehirns vordringen», «neue Erkenntnisse schaffen». Er habe «beängstigende und euphorische Erfahrungen gemacht».
Tags darauf sitze ich im Büro in Zürich und versuche das, was ich aus Lucas Aufzeichnungen und den bisherigen Gesprächen erfahren habe, anhand von Fachliteratur einzuordnen. Ich lese, dass man sich in der Wissenschaft weitgehend einig darüber ist, dass eine Drogensucht multifaktoriell ist, dass also verschiedene Aspekte zusammenspielen. Zu den wichtigsten zählen Armut, niedriger Bildungsgrad, Vernachlässigung durch die Eltern, familiäre Konflikte, psychische Krankheiten, Erfahrungen von Krieg, Gewalt oder sexuellem Missbrauch. All dies traf nach meinem Wissen nicht auf Luca zu.
Gefährdet ist aber auch, wer schlecht mit Gruppenoder Leistungsdruck umgehen kann, eine mangelhafte Risikokompetenz und einen leichten Zugang zu Drogen hat – und wer bereits in jungen Jahren damit anfängt. Je früher man eine Droge ausprobiert, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass man davon süchtig wird. Mit vierzehn Jahren ist ein Gehirn, insbesondere der präfrontale Cortex, der dafür zuständig ist, Entscheidungen zu treffen und sich selbst zu kontrollieren, noch längst nicht ausgereift.
Drogensucht ist eine chronische Krankheit, sie schleicht sich allmählich ein. Doch haben sich die Zellen im Gehirn erst mal verändert, können die Folgen dauerhaft sein – auch im Lustzentrum, dem Nucleus accumbens, der aktiviert wird, wenn wir etwas Feines essen oder Sex haben. Drogen stimulieren dieses Zentrum stärker und länger, signalisieren dem Gehirn Belohnung. Es gewöhnt sich an den starken Reiz. Und so wird es für den Süchtigen je länger desto schwieriger, durch etwas anderes als Drogen Freude zu empfinden.

Die Veranlagung & die kokainsüchtigen Ratten
Zu den sozialen und familiären Risikofaktoren kommt ein weiterer dazu, den auch Lucas Mutter erwähnt: die Gene. Lucas Grossmutter war tablettenabhängig. Andere Familienmitglieder waren starke Raucher oder tranken regelmässig Alkohol. Gut möglich, dass Luca seine Neigung zur Sucht bereits von Geburt an in sich trug – 40 bis 60 Prozent des Risikos, süchtig nach Drogen, Alkohol oder Nikotin zu werden, seien auf die Genetik zurückzuführen, schreibt das US-amerikanische National Institute on Drug Abuse. Das Institut verlinkt auf seiner Webseite Studien mit Zwillingen, Geschwistern und Adoptivkindern, die diesen Zusammenhang herstellen.
Dass Substanzen in jedem Körper anders wirken, weiss ich aus Erfahrung. Mir hilft bei Kopfweh Ibuprofen, meinem Arbeitskollegen Aspirin. Bei Opioiden, so lese ich, ist es ähnlich. Es gibt Menschen, bei denen diese Substanzen nicht nur die Bandscheibenschmerzen lindern, sie fühlen sich zudem grossartig wie nie zuvor. Anderen helfen Opioide überhaupt nicht gegen Schmerzen und lösen sogar unangenehme Gefühle aus. Bei Alkohol dasselbe: Manche vertragen das Trinken partout nicht, da ihr Körper das Enzym nicht herstellt, das es braucht, um Alkohol abzubauen. All das hängt mit der genetischen Veranlagung zusammen.
Heute weiss man viel mehr über Sucht als über andere psychische Krankheiten. Das hat damit zu tun, dass man sie gut an Tieren untersuchen kann. Es gelang Forschern, Mäuse und Ratten zu züchten, die gierig auf Alkohol, Amphetamine, Kokain, Nikotin oder Heroin sind, und andere, die kaum Interesse an den Drogen haben. Ich drucke mir eine Studie nach der anderen aus, bis zum Papierstau, und erstelle eine Liste der Gene, die mit einem Suchtverhalten in Verbindung zu stehen scheinen. Die Liste wird mit jeder Untersuchung länger.
Es gibt beispielsweise eine Art Nikotin-Gen. Dieses lokalisierte eine EU-Forschungsgruppe, nachdem sie mehr als 10’000 isländische Raucher untersucht hatte. Die Forscherinnen und Forscher fanden mehrere Genmutationen, die einen Nikotinrezeptor im Gehirn beeinflussen. Menschen mit dieser Variante neigen dazu, mehr zu rauchen, und das Aufhören fällt ihnen schwer.
Nachdem ich mit vierzehn Jahren in der Badi angefangen hatte zu rauchen, war es für mich einige Jahre später kinderleicht, wieder damit aufzuhören. Ich dachte immer, das liege an meiner Willensstärke, meinem vernunftbegabten Charakter. Dabei war es vermutlich keine Meisterleistung meinerseits, sondern schlicht das Erbgut. Waren die Gene auch der entscheidende Unterschied zwischen mir und Luca?

Der Psychiater & die Kraft der Rituale
Als ich Toni Berthel von meinen Erbgutrecherchen erzähle, zuckt er mit den Schultern. «Interessante Grundlagenforschung. Aber haben Sie sich gefragt, warum Sie das so genau wissen wollen?»
Berthel ist neunundsechzig Jahre alt, Psychiater und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin. Seine Praxis in Winterthur ist kaum möbliert, die Wände kahl. Wir sitzen weit voneinander entfernt, zwischen uns liegt einzig ein langer, roter Teppich. Die Situation fühlt sich mehr nach Therapie an als nach Interview. Vielleicht ist das ja gut so. Schliesslich erhoffe ich mir von Berthel nicht nur Hintergrundinformationen, sondern eine Antwort darauf, warum Luca süchtig wurde und ich nicht.
Berthels Erfahrung als Suchtexperte reicht weit zurück. Als Medizinstudent ging er 1980 mit Funkgerät und Arztkoffer durch Zürich und behandelte Menschen, die auf Entzug waren oder sich eine Überdosis gespritzt hatten. «Damals hiess es noch: einmal Drogen, immer Drogen», erinnert er sich. «Doch das stimmt natürlich nicht.»
Nicht die Substanz an sich sei das Problem, sondern der Umgang damit. Warum ein Mensch süchtig werde, habe viel damit zu tun, welche Funktion eine Droge bei ihm einnehme. Hilft sie dabei, einen seelischen Schmerz zu stillen? Ängste zu lindern? Sich zugehörig zu fühlen?
Jugendliche, die an der Verhaltensstörung ADHS leiden, seien beispielsweise viel anfälliger für eine Drogensucht. Sie nützen Rauschmittel als Selbstmedikation, um zur Ruhe zu kommen oder sich zu konzentrieren. Ich muss daran denken, dass Luca nur schlecht still sitzen oder an etwas dranbleiben konnte. Auch das wäre also eine Möglichkeit: Luca hatte ein nicht diagnostiziertes ADHS, und die Drogen halfen ihm, sich zu fokussieren.
Berthel fragt mich, ob es in Ordnung sei, wenn er die Klimaanlage anmache. Dann fährt er fort: «Eigentlich sind viele dieser Substanzen – Heroin, Kokain, LSD, Cannabis, Alkohol – super. Sie haben einen Selbstbehandlungseffekt, der zielführend sein kann. Wenn da nur nicht die Gefahr der Abhängigkeit wäre.» Ihm helfe Wein, um sich zu entspannen, und Zigarren inspirierten ihn zu neuen Gedanken. Kokain wirke bei einigen Menschen ähnlich wie Ritalin, LSD wiederum könne bei Depressionen helfen. Selbst der Rausch an sich könne positive Effekte haben. «Er kann die seelische Entwicklung unterstützen, die Seinsmöglichkeiten erweitern und das Leben bereichern.»
Ich staune, dass dieser Mann, der als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen viele Jahre lang in die Schweizer Drogenpolitik eingebunden war, so unverhohlen ins Schwärmen kommt. Berthel hält wenig von den «paternalistischen Tendenzen» im Gesundheitswesen, die Menschen zum vermeintlich Guten zu verführen. «Heute gilt als konsumkompetent, wer verzichtet und damit möglichst gesund lebt.» Dabei, so Berthel, müsse das Ziel einer Gesellschaft nicht die Vermeidung des Rausches sein, sondern der kompetente Umgang damit. Der Kontext sei wichtig, etwa wie häufig und mit wem konsumiert werde.
Geregelt und normiert ist in unserer Kultur am ehesten das Trinken von Alkohol. Deshalb, sagt Berthel, hätten die meisten Erwachsenen einen unproblematischen Umgang damit. «Wir haben das Trinken mittels jahrhundertealter Traditionen geübt und ritualisiert.» Das zeige sich bereits an der Masseinheit: Ein Zentiliter Schnaps, ein Deziliter Wein, drei Deziliter Bier – das seien unsere Standardeinheiten mit immer etwa gleich viel Alkohol drin. Bei Heroin und anderen illegalen Substanzen gebe es hingegen keine eingeübten Rituale, keine Masseinheit und keine Qualitätskontrolle. Aus diesen Gründen sei es schwieriger, sich bei illegalen Stoffen einen unproblematischen Konsum anzueignen.
Hätte Luca von Anfang an lernen können, massvoll Drogen zu nehmen?, will ich von Berthel wissen. Er verschränkt die Hände vor dem Mund und denkt nach. «Das ist jetzt natürlich heikel.» Grundsätzlich sei er der Meinung, man könne lernen, mit allen psychoaktiven Substanzen «konstruktiv umzugehen». Es gebe dazu übrigens ein interessantes Beispiel. «Moment», Berthel geht zu seinem Computer, tippt etwas ein. «Hier!»
An einer Tagung hat er das Präventionsprojekt «Lieber schlau als blau» kennengelernt. Bei diesem Projekt trinken Jugendliche im Beisein ihrer Lehrerinnen und Lehrer Alkohol. Es findet seit über zehn Jahren an einer öffentlichen Schule in Templin statt, Angela Merkels Heimatstadt, und über tausend Kinder haben es schon durchlaufen. Bis zu maximal 1,3 Liter Bier dürfen sie trinken, und so waren manche der Sechzehnjährigen ganz schön blau, als ihre Eltern sie abholten. Davor und danach gibt es Workshops, Theaterspiele und Aufklärungsstunden. Die Erfahrungen, sagt Berthel, seien positiv. In Klassen, die den Versuch gemacht hätten, gebe es tendenziell weniger Probleme mit Alkohol.
Im Zug nach Hause will mir das Programm aus Templin nicht aus dem Kopf. Die meisten Erwachsenen trinken Alkohol oder nehmen sonst welche Drogen, aber kaum jemand zeigt seinen Kindern, wie man es richtig macht. Eigentlich verantwortungslos, schliesslich setzen wir sie mit achtzehn auch nicht einfach in ein Auto, ohne dass sie je zuvor eine Fahrstunde gehabt hätten. Und doch widerstrebt mir die Vorstellung, mit meinem Sohn zusammen ein Bier zu trinken.

Der toxische Basar & die grundlose Zufriedenheit
Der Kontext des Konsums sei entscheidend, die Gruppe, das Umfeld, sagte Psychiater Berthel. In den Tagen nach unserem Gespräch frage ich mich, wie dieser Kontext bei Luca aussah. Ich rede mit Menschen, die mit ihm befreundet waren, mit solchen, die ebenfalls harte Drogen nahmen, mit ihm zur Schule gingen oder ihm regelmässig begegneten.
Ein «toxischer Basar», so nennt ein damaliger Freund die Altstadt von Schaffhausen in den frühen Neunzigern. Im kleinen Städtchen mit seinen mittelalterlichen Erkern hat man nahezu alles bekommen: THC-Produkte, LSD, Kokain und Rohypnol, psychoaktive Pilze, Amphetamine und Heroin. Die Drogenszene war wegen der Nähe zur deutschen Grenze vergleichsweise gross. Auch ich erinnere mich, wie Männer mit bleichen Gesichtern vor unserem Lieblingsclub, dem Domino, ihre Waren anboten. Man musste die Drogen nicht suchen, im Gegenteil, man musste sie ablehnen. Luca lehnte nicht ab. Es habe sich alles wie ein Spiel angefühlt, erzählt der Freund.
Die Pillen, Gräser und Pulver, die sie kauften, hatten geheimnisvolle Namen wie Rosa Delfinchen, White Widow oder Dreifach beschichtete Hofmänner.
Nach ihren Einkäufen auf der Gasse gingen Luca und seine Kollegen an Technopartys nach Zürich, Rümlang oder Roggwil. Dort konsumierten sie Aufputschmittel, um die Nacht durchzutanzen. Im Morgengrauen rauchten sie dann Cannabis, manchmal auch Heroin.
Während Luca irgendwann regelmässig zur Spritze griff, nahmen andere Jugendliche, mit denen er im Ausgang war, nur ab und zu harte Drogen. Das hatte auch mit den Strukturen zu tun, in denen sie sich bewegten. Im Gegensatz zu ihm hatten sie ein dicht getaktetes Tagesund Wochenprogramm, sie machten eine Lehre oder gingen aufs Gymnasium. Einer gab sich selbst Regeln, weil er wusste, dass das, was er tat, gefährlich war. Seine «chemische Feldforschung» betrieb er nur am Wochenende und immer mit Freunden zusammen. Heroin rauchte er nie an zwei Tagen nacheinander. Der Psychiater Toni Berthel würde sagen, der Drogenkonsum dieses Jugendlichen war strukturiert und ritualisiert.
Luca hingegen hatte nach dem Misserfolg an der Kanti seine Motivation für die Schule verloren. Er hatte kein Ziel mehr vor Augen. Zurück in der Sek schwänzte er häufig, nahm auch unter der Woche und allein Drogen. Es war kein ritualisierter, sondern ein unkontrollierter Konsum. In seinem Tagebuch schrieb er:
«In der Schulzeit habe ich mich gegen die Lehrer gestellt, gegen die grundlose Zufriedenheit der Menschen. Um schlussendlich Befriedigung in meinem eigenen, unerfahrenen, ekligen Trotz zu finden.»
Am Ende eines dreistündigen Gesprächs mit einem von Lucas Weggefährten, als wir schon dabei sind, uns zu verabschieden, traue ich mich, ihn nach Sergio zu fragen. «Lebt er noch?»
Luca war nicht das einzige Kind aus unserer Pärkli-Clique, das drogensüchtig wurde. Sergio wurde zusammen mit ihm abhängig. Seine Mutter starb an Krebs, als er zwölf war. Der Verlust brachte ihn ins Straucheln, er wiederholte die Klasse und kam zu uns in die erste Sek. Ein schlaksiger Junge mit Zahnspange und einem schelmischen Lächeln. Er und Luca mochten sich vom ersten Tag an, sassen nebeneinander in der hintersten Reihe.
Das letzte Mal traf ich Sergio vor zwanzig Jahren, auf Lucas Beerdigung. Er sprach kurz mit der Mutter und ging gleich wieder. Man sah ihm an, dass er den Absprung nicht geschafft hatte.

Sergio & Christiane F.
Über einige Umwege bekomme ich Sergios Nummer. Wir schreiben uns lange Nachrichten hin und her, bevor wir uns schliesslich verabreden. Kurz vor unserem Treffen schickt er mir ein Foto mit dem Betreff «Schock-Profilaxe». Dazu schreibt er: «Das Gift hat mich gezeichnet.» Als ich vor dem Warenhaus Loeb in Bern aus der Unterführung auftauche, steht er schon da. Er hat noch immer das schelmische Lächeln. Wir umarmen uns einen kurzen, emotionalen Moment lang, dann gehen wir ein paar Schritte zu Fuss bis zum Bärenplatz und setzen uns in eine der Touristenbeizen. Nachdem er ein Schnitzel bestellt hat, fragt er mich, ob ich das Lied der Böhsen Onkelz kenne, «Nur die Besten sterben jung». «Das war unser Song. Luca sagte immer, wir zwei würden keine zwanzig Jahre alt.»
Die offene Drogenszene übte einen unheimlichen Sog auf die beiden aus. Sergio erinnert sich, wie er mit der Primarschule das Landesmuseum in Zürich besuchte, aber die meiste Zeit am Fenster stand und sich das Treiben unten auf dem Platzspitz ansah. 1992 wurde der Park geräumt, und die Szene verschob sich zum stillgelegten Bahnhof Letten. Gleichzeitig schickte man Süchtige und Dealer zurück in die Provinz, auch nach Schaffhausen. Das Städtchen wurde mit Drogen geschwemmt. Bermudadreieck nannte man die Ecke in der Altstadt, zwei Minuten zu Fuss von unserem Schulhaus, wo sich das abspielte.
Sergios und Lucas Faszination für die dunkle Parallelwelt wuchs, als ihnen das Buch «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» in die Hände kam. Die Lebensgeschichte der sechzehnjährigen Christiane F. war jahrelang das meistgelesene Sachbuch in Deutschland, in einigen Schulen war die Lektüre Pflicht.
Auch in unserer Pärkli-Clique machte es die Runde. Luca und Sergio lasen es gleich mehrmals, auch heimlich während des Unterrichts. Sie fieberten mit, als sich die Zwölfjährige im Jugendclub traute, die Jungs mit den Lederstiefeln anzusprechen, als sie mit dreizehn zum Heroin griff, mit dem Spritzbesteck im Thek zur Schule ging und schliesslich mit ihren Freunden am Berliner Bahnhof Zoo ums Überleben kämpfte.
«Es war unsere Bibel», sagt Sergio. Das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Jugendlichen habe sie angezogen. Auch die Rebellion gegen das Establishment, gegen die Spiesser und Streber. Der Kontext in der Schweiz war zwar ein anderer, aber auch in unserer bünzligen Kleinstadt fühlte sich Sergio als Aussenseiter. Er sah sich in keiner Lehre, in keinem Beruf. «Es klingt absurd, wenn ich das sage, aber nachdem wir die Geschichte von Christiane F. zum ersten Mal gelesen hatten, beschlossen Luca und ich, dass wir Junkies werden. Wir wollten nach Berlin fahren, ins Sound, diese Disco, wo alles begann.»
Aber, wende ich ein, das ganze Elend dieser Kinder, ihre traumatischen Erlebnisse auf dem sogenannten Babystrich und die Trauer um Freunde, die an einer Überdosis starben – hat euch das nicht abgeschreckt? Sergio zündet sich eine Zigarette an und schüttelt den Kopf: «Die Geschichte hat ja ein Happy End. Zumindest im Buch.»
Die Kellnerin fragt, ob alles recht war. Sie spricht mit Sergio wie mit einem Kind, langsam und überdeutlich. Als er auf die Toilette geht und es etwas länger dauert, klopft sie an die
Tür. Ich ärgere mich über ihr Misstrauen, muss mir aber eingestehen, dass auch ich Vorurteile hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass Sergio high zu unserem Treffen erscheint oder nach all den Drogenjahren nicht mehr kohärent erzählen kann. Ich habe mit Groll oder Zynismus gerechnet. Aber nicht mit analytischer Schärfe, klarem Erinnerungsvermögen und einer versöhnlichen, warmen Art.
Das Buch diente ihnen beiden als Gebrauchsanleitung, erzählt Sergio. Die erste harte Droge, die Christiane F. ausprobierte, war LSD. Und so wollten sie es auch machen. Sie zelteten im Pärkli und gingen von dort aus am Abend in die Stadt. Ganz in der Nähe der Sekschule trafen sie einen Mann, der aussah wie ein Dealer. LSD sei viel zu gefährlich, sagte der Mann und verkaufte den beiden Buben stattdessen ein Pulver, von dem er behauptete, es sei Kokain. Luca zögerte, probierte bloss wenig. Sergio hingegen schnupfte alles aufs Mal, übergab sich, wurde ohnmächtig und fühlte sich auch zwei Tage später noch derart elend, dass ihn sein Vater ins Spital schliesslich fuhr. «Im Nachhinein wurde mir klar, dass der Mann uns Heroin verkauft hat. Nur Heroin hat diesen unvergleichlichen Geschmack, beissend bitter, anziehend und abstossend zugleich. Die meisten, die es zum ersten Mal nehmen, müssen kotzen.» Obwohl die Erfahrung körperlich enorm unangenehm gewesen sei, hätten sie sich danach gut gefühlt, um ein Abenteuer reicher.
Sergio sagt, «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» sei selbstverständlich nicht allein ausschlaggebend gewesen für seinen Absturz, aber: «Für uns war es mehr Propaganda als Prophylaxe.» Offensichtlich auch für andere Teenager: Der Drogenclub Sound, der eigentlich vor der Schliessung stand, war kurz nach der Publikation wieder rappelvoll, und ganze Gruppen von Jugendlichen strömten an den Bahnhof Zoo. Das Buch, das in vielen deutschen Schulen zur Abschreckung gelesen wurde, bewirkte das Gegenteil. Die Berliner Schulpsychologin Marianne Maier-Frey schreibt in einem Paper: «Es macht nicht stark, sondern neugierig.»
Sergio und ich bleiben noch lange in der Touristenbeiz am Bärenplatz sitzen. Er erzählt weiter. Es blieb nicht bei Heroin. Bald schon spritzten sich Luca und er einen Mix aus Heroin, Kokain und dem Beruhigungsmittel Rohypnol. Manchmal auch einfach irgendwelche Tabletten, die sie bei den Eltern in den Schränken fanden, im Löffel auflösten und sich in die Vene drückten. Dazu tranken sie Alkohol oder Hustensaft. Ein lebensgefährlicher Mix.
Die Drogen besorgte sich Sergio nicht nur in Schaffhausen, sondern auch am Letten in Zürich. Weil er so jung war, kam er mühelos durch die Polizeisperren. «Ich erzählte den Bullen, ich hätte mich auf dem Weg zum Bahnhof verlaufen.» Wegen seines kindlichen Aussehens wurde er für den «Ameisenhandel» eingesetzt, den Transport von Drogen. Später stahl er Autos, fälschte Kreditkarten, ging auf den Strich. Aber – und das ist ihm wichtig zu betonen – er habe längst nicht alles mitgemacht und sei nicht nur ein wehrloses Opfer gewesen.
Was die Drogenszene der Achtziger und Neunziger so bedrohlich für die Bevölkerung machte und so schlimm für die Süchtigen selbst, waren nicht zuletzt der Preis der Rauschmittel und die damit einhergehende Beschaffungskriminalität. Heute kostet ein Gramm Heroin zwischen 20 und 40 Franken, damals zwischen 400 und 800 Franken. Schwer Abhängige brauchten über den Tag verteilt bis zu drei Gramm Heroin, also bis zu 2400 Franken.
Auch Sergio und Luca wurden delinquent, um ihre Sucht zu finanzieren. Psychiater Toni Berthel sagte beim Gespräch in Winterthur, dass das Auftreiben von so viel Geld zahlreiche junge Menschen traumatisiert habe. Sie verkehrten in kriminellen Milieus, erlebten Dinge, die schwer zu verkraften waren. Die Scham darüber, das Portemonnaie des Freundes gestohlen oder den eigenen Körper verkauft zu haben, machte es häufig noch schwieriger, von den Drogen wieder loszukommen.
Anfang der Neunzigerjahre realisierte die Schweizer Politik, dass Repression allein keine Lösung war.
Süchtige wie Kriminelle zu behandeln, machte alles nur noch schlimmer. Aus diesem Grund wurden ab 1993 Versuche gestartet, Heroin auf Rezept abzugeben. War der Geldstress weg, konnten sich die Drogensüchtigen um die körperliche Hygiene kümmern, um eine Wohnung und später vielleicht sogar um einen Job. Die ärztlich kontrollierte Heroinabgabe in den «Fixerstübli» war ein Paradigmenwechsel und eigentlich untypisch für ein konservatives Land wie die Schweiz. Das Ausland, die Uno und die WHO staunten über den grossen Liberalisierungsschritt.
Sergio kam als junger Erwachsener in ein solches Programm, war einige Jahre abstinent, machte in Bern eine Lehre, fand Arbeit, wurde rückfällig, abstinent, rückfällig, abstinent, kümmerte sich um die Kinder seiner ExFreundin. Heute ist er substituiert, das heisst, er bekommt Opiate verschrieben, Tabletten, die er täglich schluckt. Einen Rausch bekommt er davon nicht, sie ersparen ihm aber die Entzugserscheinungen.
Als mich Sergio zum Bahnhof zurückbegleitet, frage ich mich, was für ein Mensch Luca heute wäre. Würde er hier mit uns unter den Lauben spazieren? Würde er, wie Sergio, ironische Sprüche über die Beamtenstadt machen? Wäre er gesund? Glücklich?
Lucas Tod kam für alle unerwartet. Selbst für Sergio, der viele Freunde an die Drogen verloren hat. Eigentlich, so dachten wir, war Luca auf einem guten Weg. Seine Eltern versuchten ununterbrochen ihm zu helfen, der Vater reiste mit ihm ans Rote Meer, organisierte Drogenentzüge in der Schweiz und schliesslich einen Platz in einem Programm für drogensüchtige Jugendliche auf einer abgelegenen Finca in Andalusien.
Dort war Luca über zwei Jahre lang abstinent. Und dorthin schickte ich ihm einen Brief. Seine zweiseitige Antwort habe ich aufbewahrt. Sie ist auf dünnem Flugpapier verfasst. «¡Hola Babsi!», schrieb er, «ich bin froh zu wissen, dass noch einige Leute aus Schaffhausen ab und zu an mich denken. Ganz ehrlich; ich habe daran gezweifelt und ich denke, dass es auch nur diejenigen tun, die mich schon länger und besser kennen.» Er berichtete, dass er sich «zu 100 Prozent»
von den Drogen verabschiedet habe und die Matur nachholen wolle. Er interessierte sich für die Schauspielschule und die Kunstgewerbeschule.
Aus dem Brief wird deutlich, wie enorm anstrengend die Therapie für ihn war. Doch er lernte schnell und fliessend Spanisch, las Hermann Hesse und spielte stundenlang Gitarre. Er schrieb, er habe hier Dinge gefunden, für die es sich zu leben lohne.
Luca machte eine Ausbildung zum Laboranten, kam zurück in die Schweiz, arbeitete. Doch allzu lange ging das nicht gut, er wurde rückfällig, reiste zurück auf die Finca, hielt es aber auch da nicht mehr aus. Seiner Familie und Sergio kündigte er die Rückkehr in die Schweiz an. Doch es kam nicht dazu. Luca ist auf einer Bank am Flughafen von Alicante gestorben. Sein Herz verkraftete die Substanzen nicht, mit denen er seinen Körper erneut geflutet hatte.

Die Schuld & Das wilde Herz
Ich habe angefangen, meinem Sohn von Luca zu erzählen. Er hat sich auch nach dem schwarzen Taschenbuch bei mir auf dem Nachttisch erkundigt: «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Klar darf er es lesen. Sorgen mache ich mir keine, aber ich werde aufmerksam sein und mit ihm im Gespräch bleiben. Viel mehr, so sagte Psychiater Toni Berthel, könne man als Eltern ohnehin nicht tun.
Der Zeitgeist ist heute ein anderer als in den frühen Neunzigern, Heroin ist kaum mehr ein Thema und chic schon gar nicht. Wer heute gegen das Establishment ist, klebt sich eher auf die Strasse, als sich Heroin zu spritzen. Auch der Umgang mit Drogensüchtigen ist viel professioneller und menschlicher geworden. Suchtberater rieten den Eltern von Luca und Sergio damals, sie sollten die Buben auf die Strasse stellen, sie müssten «zuerst mal so richtig tief fallen, damit sie wieder aufstehen können».
Anderes ist gleich geblieben: Jugendliche sind Jugendliche, sie interessieren sich nach wie vor für Rauschmittel. Drei Viertel aller Fünfzehnjährigen in der Schweiz haben schon mal eine psychoaktive Substanz zu sich genommen. Alkohol wird weniger getrunken als früher, bleibt aber die häufigste Droge. Gefährlich wird es dann, wenn Jugendliche Beruhigungsmittel und Hustensaft in ihre Drinks mischen und dazu noch kiffen, das kommt jetzt öfter vor. Und im Abwasser kann man feststellen, dass der Konsum von Kokain seit einigen Jahren zunimmt, proportional am meisten Rückstände gab es jüngst in St. Gallen.
Psychiater Berthel fragte mich an jenem heissen Tag in Winterthur, weshalb ich alles so genau wissen wolle. Man könne die Frage, warum jemand süchtig wurde, doch niemals vollständig beantworten. Das stimmt, und ich habe auch keine abschliessende Antwort erwartet. Aber ich verstehe jetzt besser, was damals vorging, in der
Schweiz und in unserer Kleinstadt. Heroin war neu und abenteuerlich, es hat die Politik und die Gesellschaft überfordert. Dass Luca bereits mit fünfzehn anfing, harte Drogen zu nehmen, machte es für ihn enorm schwierig, wieder davon loszukommen. Und obwohl wir sehr ähnlich sozialisiert wurden, war er viel vulnerabler als ich.
Was bleibt von dieser Recherche? Es ist mir nicht gelungen, mich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Luca fehlt, sein Tod schmerzt. Immerhin konnte ich ihm in diesen vergangenen Wochen noch einmal nahe sein. Manchmal, wenn ich mit Freunden über ihn sprach oder in seinen Aufzeichnungen las, sah ich ihn vor mir: seine Mimik, seine grossen Gesten, sein wildes Herz.
Psychiater Berthel hatte schon recht mit seiner Suggestivfrage. Meine Suche nach den Gründen hat auch mit mir zu tun. Mit meinen Schuldgefühlen. Ich verzeihe es mir bis heute nicht, dass ich nicht auf Luca zugegangen bin. Dass ich ihm nie meine Hilfe angeboten habe. Nicht, weil ich glaube, dass ich ihn hätte retten können. Aber weil es ein Akt von Menschlichkeit ist, unseren Freunden beizustehen.