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True Story Award 2024

Hotel Taliban

Das «Intercontinental» in Kabul war Afghanistans erstes Luxushotel. Wo früher legendäre Partys gefeiert wurden, sind heute die Taliban die Hausherren. Jetzt sollen ihre Kämpfer mit Nichttaliban zusammenarbeiten. Kann das funktionieren?

Bei der ersten Schranke lächelt ein Talib, er hat den Befehl, zu lächeln hier. Bei der zweiten Schranke ein Schild: «Weapons Handover Point», wer die Kalaschnikows im Spind einschliessen lässt, erhält eine Garderobennummer und die Waffe zurück, wenn er das Hotel verlässt. Die Strasse windet sich zwischen kreisrund getrimmten Hecken den Hügel hinauf. Bei der dritten Schranke: Leibesvisitation. Dann, hinter einem Metalltor, endlich die Auffahrt zum Hotel. Die Autoreifen quietschen auf den Marmorplatten vor dem Eingang.
Das Hotel Intercontinental thront über der afghanischen Hauptstadt wie eine Burg. Kabul, diese kriegsversehrte Stadt. Ihr Hupen ist hier oben verstummt.
1969 eröffnete das Hotel Intercontinental, Afghanistans erstes Luxushotel. Gebaut in einer Zeit, die gefühlt viel weiter zurückliegt, als es die Jahreszahl vermuten lässt. Über vierzig Jahre lang herrschte in Afghanistan Krieg. Machthaber kamen und gingen, und jeder von ihnen war hier, im «Intercontinental». Der Luxus von einst verblasste, aber das «Intercontinental» blieb ein Symbol: Wer Kabul hält, hält Afghanistan, und wer Kabul hält, hält das «Intercontinental».
Heute führen die Taliban das Hotel.
Am 15. August 2021 sind sie in Kabul einmarschiert. Seit zwei Jahren sind sie an der Macht und sind doch rätselhaft geblieben. Nur Schreckensmeldungen dringen scheinbar nach aussen: Seit zwei Jahren ist es Frauen und Mädchen verboten,
Mittelschulen und Universitäten zu besuchen. Frauen sind nicht mehr in öffentlichen Parks erlaubt. Frauen und Männer werden wegen Ehebruch ausgepeitscht.
Fast unbemerkt geblieben von der Weltöffentlichkeit ist aber das grosse Experiment der Taliban. Es läuft an Schreibtischen im ganzen Land. Die neue Regierung zwingt Taliban und Nichttaliban, zusammenzuarbeiten – in der Verwaltung und in regierungsnahen Betrieben. Junge Männer teilen ihr Büro mit jungen Kämpfern, die sie einst fürchteten, und junge Kämpfer sitzen neben jungen Männern, die sie einst verachteten. Es hängt viel ab von diesem Experiment. Es offenbart, ob der Frieden bleibt, ob es vielleicht Versöhnung gibt oder zumindest: gemeinsam ein normales Leben, so gut es eben geht.
Das grosse Experiment lässt sich im Kleinen im «Intercontinental» beobachten. Und vielleicht gibt es keinen besseren Ort, einen Blick in die Zukunft Afghanistans zu wagen, als dort, wo Geschichte und Gegenwart zusammenkommen.

Réception
Die automatischen Schiebetüren rasseln altersschwach, als sie sich öffnen. Das «Intercontinental» empfängt seine Gäste an einem wuchtigen Marmortresen. Dahinter eine holzgetäfelte Wand mit vier Uhren – Kabul, New York, London, Dubai. Kosmopolitismus in einem verschlossenen Land. Das «Intercontinental» nimmt keine Kreditkarten, Afghanistan ist weitgehend vom internationalen Bankenverkehr abgeschnitten. Ein Gast kommt mit einem Plastiksack voller Bargeld.
Nur jeder zweite Kronleuchter in der Lobby brennt. «Wir sparen Strom», sagt Samiullah Faqiri. Faqiri ist verantwortlich fürs Marketing im «Intercontinental». Er war sofort begeistert von der Idee, einen ausländischen Journalisten mehrere Tage lang hinter die Kulissen des Hotels blicken zu lassen.
Faqiri ist 28 Jahre alt, sein Bart ist über den runden Wangen zur Kante gestutzt. Seit zwei Jahren, seit der Machtübernahme der Taliban, arbeitet er im Hotel. «Ich habe wie ein Verrückter Marketing gemacht», sagt er in fliessendem Englisch, er habe den neuen Slogan erfunden: «Intercontinental for everyone». Er hat die Worte auf Plakatwände in Kabul drucken lassen. Faqiri weiss natürlich, dass sich gerade die
wenigsten Afghanen ein Essen oder eine Nacht in einem Luxushotel leisten können. Neun von zehn Familien können sich laut Uno nicht einmal genug zu essen kaufen, und eine Nacht im günstigsten Zimmer kostet 90 Franken, das ist für viele ein Monatslohn.
Aber Faqiri hat wie jeder Marketingmanager ein Ziel zu erreichen, wie viel Gewinn er machen muss. Das Hotel gehört der Regierung, sie will, dass es rentiert. Alle Gewinne gehen zum Staat, der verteilt dann das Geld zurück für Löhne, Unterhalt und Renovation. Faqiri arbeitet zwar für die Taliban, er selber ist aber keiner.
Wenn Faqiri von den Taliban spricht, sagt er «die» oder «sie». «Wenn ich das Ziel nicht erreiche, werden die mich nicht töten», sagt er und lacht. Wenn Faqiri lacht, wackelt erst die Nase, dann die Schultern, der Bauch, ein sehr körperliches, ein sehr ansteckendes Lachen, meist bricht es aus ihm heraus nach Sätzen, die sonst zu schwer klängen.
Faqiri kommt aus einer Familie, der es an nichts fehlt. Der Vater ist Universitätsprofessor. Die ganze Familie lebt gemeinsam in einem Haus ganz in der Nähe des Hotels. Faqiri hat in Indien Betriebswirtschaft studiert. Bevor die Taliban an die Macht kamen, trug er am liebsten ärmellose T-Shirts und spielte Basketball. Heute trägt er wie fast alle einen Salwar Kamiz, das traditionelle afghanische Gewand.
Um sein Ziel zu erreichen, müsste Faqiri mehr Zimmer im Hotel vermieten. Das «Intercontinental» hat 198 davon. Ein Fünftel sei besetzt, sagt Faqiri. Solange kein Land auf der Welt die Taliban anerkennt, werden auch die Touristen nicht in Massen kommen. Doch Faqiri gibt nicht auf. Als die kanadische Regierung gefährdete Afghanen evakuierte, schloss er einen Vertrag mit dem verantwortlichen Reisebüro: Treffpunkt vor der Flucht aus Afghanistan war für die Evakuierten das «Intercontinental». Faqiri vermietete 120 Zimmer und schaffte es, dass jene, die vor den Taliban flohen, vor ihrer Ausreise noch in deren Hotel eincheckten.
Am frühen Nachmittag macht Faqiri Feierabend. An der Réception, an den schwarzen Marmor gelehnt, steht ein junger Talib. Er heisst Mohammed Elyas Niazai. «Die Nachtschicht», so stellt ihn Faqiri vor. Faqiri und Niazai, sie sind Teil dieses grossen Experiments im «Intercontinental», ein normaler Afghane und ein Talib, zwei junge Männer, die sich zusammenraufen sollen fürs grosse Ganze.

3. Stock
Niazai fährt hinauf im goldenen Lift, sein Gesicht spiegelt sich verzogen an den Wänden der kleinen Kabine. Niazai, 23 Jahre alt, sein Bart wild und noch etwas unregelmässig. Die Augen wach, aber der Blick unstet, wie ein Jäger, der gleichzeitig Gejagter ist.
Niazai wohnt im dritten Stock, Zimmer 311, Standardausstattung: schwere moosgrüne Vorhänge, dicker Teppich, kleinteilig gemustert, damit man die Flecken nicht sieht, Aschenbecher. Anders als Faqiri lebt Niazai im Hotel. Er sagt, er sei der Personalmanager. Er hat ebenfalls Betriebswirtschaft studiert: «Das Hotelgeschäft ist ein gutes Geschäft, kaum Risiko.» Kein einziger persönlicher Gegenstand steht in diesem Zimmer, aber vielleicht ist es auch nicht sein richtiges, er sagt, er habe ein zweites, geheimes. Dort bewahrt er seine Waffen auf: ein M4-Sturmgewehr, erbeutet von französischen Soldaten, und eine Glock 22.
Hinter den gewellten Tapeten des «Intercontinental» lauert das Klandestine. Immer wieder ruft jemand Niazai auf dem Handy an, es ist der GDI, die Geheimpolizei der Taliban. Sie fragen, wieso ein Journalist durch das Hotel streife. Nichts bleibt unbemerkt. Irgendwo sitzen sie. Schauen zu. Kameras in den Gängen, aber angeblich nicht in den Zimmern. Im dritten Stock ist eine Gruppe Russen einquartiert. Sie bleiben unter sich.
Niazai schloss sich als 16-Jähriger den Taliban an. Eine Spezialeinheit der Armee hatte seinen Onkel und seinen Cousin getötet, auch ausländische Soldaten seien an der Operation beteiligt gewesen. So begann Niazais Jihad, sein heiliger Krieg, aus Rache. Er war in Kabul, in einem ärmlichen Quartier, aufgewachsen. Die Taliban machten aus Niazai einen Maulwurf. Er studierte an einer Universität in Kabul, er sprach damals gut Englisch, wie er behauptet, heute hat er vieles vergessen. Auf dem Smartphone zeigt Niazai Fotos aus dieser Zeit: ein junger Mann mit modisch geföhnten Fransen und Kinnbärtchen. Niazai spionierte im Auftrag der Taliban seine Mitstudenten aus. Wenn es die Uni zuliess, kämpfte er ausserhalb Kabuls gegen die Nato-Truppen und gegen die
afghanische Armee. Er behauptet, er könne mit einer PET-Flasche und zwei Dollar eine Bombe bauen.
Wenn er wieder einmal zu spät kam und der Professor fragte, wieso, dann antwortete Niazai auf Englisch: «Legends are always late», Legenden kommen immer zu spät. Er ist stolz auf diesen Satz, er kann ihn immer noch auswendig.
All das war Jahre vor dem Fall Kabuls. Die Hauptstadt sollte das Herz des neuen Afghanistan sein, das die Amerikaner und ihre Verbündeten mit Milliarden Dollar Entwicklungshilfe während zwanzig Jahren gebaut hatten. Aber die Loyalitäten in dieser Stadt waren nie so klar verteilt, wie es manche glauben wollten.
Am 15. August 2021 fiel Kabul in die Hände der Taliban. In den Wochen zuvor hatten sie eine Provinz nach der anderen erobert. Kabul aber würde sich halten, zumindest ein paar Wochen lang, so prognostizierten es die Experten. Aber es gab kaum Widerstand. Die Taliban fuhren spätabends mit ihren Pick-ups vor dem «Intercontinental» vor. In den Stunden zuvor hatten die Sicherheitskräfte des Hotels ihre Posten verlassen. Einige stürmten zuerst noch die Hotellobby und klauten die Computer. Die Taliban quartierten ihre Kämpfer im Hotel ein und schickten die Mitarbeiter nach Hause. Zwei Tage später riefen sie an, die Hotelmitarbeiter sollten zurückkommen, das «Intercontinental» sei jetzt wieder offen. «Zuerst hatten die Angestellten Angst vor uns», sagt Niazai, «aber wir hatten den Befehl, nett zu ihnen zu sein.»

5. Stock
Der goldene Lift hält im Fünften. Hier kommt die ganze Geschichte des «Intercontinental» zusammen. Links, neben dem Lift, ist der Eingang zum Pamir Supper Club. Ab 1969 fanden hier ausschweifende Partys statt. Im Pamir Supper Club traten die ersten afghanischen Pop-Musiker mit langen Haaren und Gitarren auf. Afghanistan hatte noch einen König, Mohammed Zahir Shah. 1973 putschte sich sein Cousin an die Macht, ihn ermordeten die Kommunisten fünf Jahre später. Die Party ging weiter. Noch Monate nach dem Mord lud das «Intercontinental» per Zeitungsannonce zum Bayern-Festival im Klub, inklusive Frühschoppen-Buffet und
«schnapps on the house», gesponsert von Lufthansa. 1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein. Die amerikanischen Offiziellen im Pamir Supper Club machten den russischen Platz.
Das «Intercontinental» blieb entrückt von einem Land, das im Bürgerkrieg versank. Als die Russen 1989 abzogen, fuhr der afghanische Präsident Najibullah mit seinem schwarzen Mercedes vor dem «Intercontinental» vor.
1992 marschierten die Mujahedin nach Kabul, Gruppen islamistischer Gotteskrieger, ausgerüstet und trainiert von den USA zum Kampf gegen die Kommunisten. Die Mujahedin assen im «Intercontinental», ohne zu bezahlen, und bekämpften sich in der Hauptstadt bald gegenseitig. Raketen flogen ins «Intercontinental». Die Männer des berüchtigten Ahmad Shah Masud übernahmen das Hotel.
Im fünften Stock, rechts, am Ende des langen Ganges, liegt die Khyber Suite, das Penthouse des «Intercontinental». Der Balkon windet sich um die Suite, man hat einen Ausblick über ganz Kabul. Gerade findet ein Kurs der Uno statt: wie man interpersonelle Konflikte löst. Hier soll Masud mit einem Feldstecher seine Angriffe geplant haben. Bis 1996 neue, noch radikalere Islamisten aus dem Süden kamen und Kabul zum ersten Mal eroberten: die Taliban. Sie kastrierten und exekutierten Najibullah, den Ex-Präsidenten mit dem Mercedes, schleppten seinen Körper durch die Stadt und hängten ihn öffentlich auf. Die Stühle in der Hotelbar entfernten die Taliban und setzten sich auf Teppiche.
Es gibt keine Fenster in diesem langen Gang im fünften Stock. Neonlämpchen an den Wänden stemmen sich gegen die Dunkelheit. Sie werfen harte Schatten. Geräusche und Geschichte versinken im Spannteppich. Er riecht nach Staub und etwas anderem, Saurem. Die Angestellten sind nicht gerne im fünften Stock. Es spuke hier oben, sagen sie.
Die Taliban hielten das «Intercontinental» bis 2001. Einen Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York veranstalteten sie im «Intercontinental» eine Pressekonferenz. Der Taliban-Aussenminister sagte, sie wüssten nicht, wo Usama bin Ladin sei, «ich weiss nur, dass er nicht hier ist», sagte er. Es war
gelogen. Bin Ladin war Gast der Taliban und der Grund für die amerikanische Invasion in Afghanistan wenige Monate später.
Nach dem Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten wurde das «Intercontinental» wieder Treffpunkt der ausländischen Diplomaten, der Geschäftsmänner, der reichen Eliten.
Die neue Regierung renovierte mithilfe ihr nahestehender Bauunternehmer, aber wie früher wurde es nicht mehr. Ein Unternehmen baute den Balkon im Speisesaal zu, dort, wo man zum Kaffee den kalten Wind aus den Bergen spürte. Ein anderes Unternehmen erweiterte das Hotel um einen weiteren Speisesaal, an die Decke sind Wolken gemalt, es sieht aus wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Ein weiteres verscherbelte die Marmorplatten im Garten. Das Hotelpersonal erzählt, korrupte Beamte hätten sich am «Intercontinental» bedient wie an so vielem in Afghanistan. «Diese Verfluchten haben alles zerstört. Es bleibt nur noch der Name und die Substanz», sagt ein langjähriger Kellner, «sonst ist nichts mehr von einst übrig.»
Jahrelang kämpften die Taliban im Untergrund. Sie erstarkten trotz Tausenden Nato-Soldaten im Land. 2011 griffen sie das Hotel an. Neun Selbstmordattentäter töteten zwölf Personen und sich selbst. Im fünften Stock, Zimmer 523, sprengte sich der letzte Angreifer in die Luft. Der Raum ist renoviert, das Badezimmer zieren nun pinkfarbene Fliesen. 2018 dann die zweite Attacke. Zwölf Stunden lang hielten vier oder fünf Attentäter das Hotel besetzt. Sie ermordeten vierzig Personen. Die Gäste verbarrikadierten sich in den Zimmern, krochen in die angegrauten Badewannen mit den Rutschnoppen. In Zimmer 519 wohnte ein Geistlicher, er wurde bei der Attacke getötet. Der Mann, der im fünften Stock putzt, schwört, er höre ihn manchmal duschen.
2021, nur drei Jahre später, eroberten die Taliban zum zweiten Mal Kabul. Einer der Wächter vor dem Hotel kannte einige der Attentäter, er sagt: «Sie waren unglaublich mutig.» Der Drahtzieher der Anschläge, Sirajuddin Haqqani, ist heute Innenminister. Er hielt im Ballsaal des «Intercontinental» eine Dankesrede vor den Familien seiner Attentäter. Die Zimmertüren erinnern noch an die Attacken. Die braune Farbe klebt auf schusssicherem Stahl.

Küche
In der Küche zeigt der Marketingmanager Faqiri auf den grossen Topf, in dem ein Lamm schmort. «Das hab ich für 230 Dollar verkauft. Schreib das», befiehlt er. Zwei Familien haben einen Konferenzraum gemietet, die Männer verhandeln vor der Hochzeit der Kinder über den Brautpreis. Faqiri hat sie gleich noch zum Essen überredet.
In den Töpfen gart Essen für 900 Personen. Jeden Mittag und jeden Abend richtet das «Intercontinental» ein Buffet an. Heute kocht die Küchencrew auch noch für das Verteidigungsministerium, 700 Leute, das Essen wird mit Lastwagen und Eskorte geliefert – das «Intercontinental» ist auch der Caterer der Taliban.
Sayed Mazaffar Sadat ist der Küchenchef im «Intercontinental», sie nennen ihn Goldfinger. Er hat fünfmal bei einem Kochwettbewerb im afghanischen Fernsehen mitgemacht, viermal hat er gewonnen, deshalb der Name. Ins «Intercontinental» kam er vor der Machtübernahme der Taliban. Er hat sich gegen zwanzig Bewerber durchgesetzt. «Ich hatte keine Verbindungen. Ohne gute Verbindungen kommst du eigentlich nicht ins ‹Intercontinental›.»
Sadat sagt, er habe sich auch nach der Machtübernahme nie überlegt, das Land zu verlassen. Er vertritt Afghanistan bald bei einem Kochwettbewerb in Frankreich, seine Freunde sagen ihm, er solle einfach dort bleiben. Er wäre nur einer von unzähligen jungen Männern, die Afghanistan verlassen, legal oder illegal, die hoffen, woanders ein besseres Leben zu finden. 1,6 Millionen Afghanen sind seit der Machtübernahme der Taliban geflüchtet, die meisten harren unter prekären Bedingungen in den Nachbarländern Iran und Pakistan aus. Sadat sagt: «Meine Philosophie ist: Der Tod kommt sowieso – er holt dich auch, wenn du dein Land verlässt.»
Einer von Sadats Köchen herrscht in der Küchenhitze einen untätig herumstehenden Talib an: «Wir brauchen dich hier nicht. Geh in dein Büro.»
Als die Taliban in den neunziger Jahren zum ersten Mal regierten, installierten sie einzig an der Spitze des Hotels einen von ihnen. Diesmal haben sie ihre Kämpfer in jedes Büro gesetzt, in mehrere Hierarchiestufen integriert: Taliban und Nichttaliban sind gezwungen, zusammenzuarbeiten.
Frauen spielen in den Überlegungen der Taliban keine Rolle. Alle weiblichen Angestellten des «Intercontinental» sitzen daheim, sie sollen noch immer ihren Lohn erhalten, zur Arbeit kommen dürfen sie nicht. Die einzige Frau arbeitet unten bei einer der Sicherheitsschranken am Eingang, sie durchsucht weibliche Gäste. Sie weigert sich, neben Körper und Haaren auch noch das Gesicht zu verhüllen, sie sei zu alt dafür.
Faqiri herrscht durch die Küche, rudert mit den Armen wie jemand, der sein ganzes Leben lang Anweisungen erteilt hat. Er ist ständig am Handy, um irgendetwas zu klären. Niazai versucht seine Hände irgendwie zu beschäftigen. Manchmal hebt er in der Küche einen der Brotkörbe und lässt es dann doch wieder sein, dreht eine einzelne Kiwi in den Händen oder mustert das Ablaufdatum auf einer Cola-Dose. Er sei auch für die Qualitätskontrolle zuständig, sagt er.
Die Taliban gelten als lernwillig. Manchen bezahlte die Führung eine Ausbildung, ehemalige Guerillas sitzen jetzt in Computerkursen. Die neuen Herrscher haben Frieden und Versöhnung verordnet. Und doch bleibt es für viele seltsam: Jene Rebellen, vor denen sich zwanzig Jahre lang alle fürchteten, sitzen plötzlich im selben Büro. Ein ehemaliger Mitarbeiter des «Intercontinental» sagt: «Einer der Kämpfer wurde mir unterstellt. Aber was sollte ich ihm befehlen? Er hatte eine Waffe.»

Garten
Niazai schaut sich um auf dem verlotterten Tennisplatz des Hotels, das Netz fehlt, in einer Ecke rostet ein Schiedsrichterstuhl. Der Tenniscoach ist nach Spanien geflohen, so hat es Niazai gehört. Er ist zum ersten Mal hier: «Wer kann schon Tennis spielen?»
Niazai hatte im Hotel in den vergangenen zwei Jahren schon viele Rollen, jetzt ist er eben Personalverantwortlicher. Er erhält einen Lohn, 500 Franken im Monat, und spart für seine Hochzeit, irgendwann soll es ein rauschendes Fest werden, die Braut kennt er noch nicht.
Aber: «Wenn sie mir morgen befehlen, Zimmer zu putzen, dann werde ich keine Fragen stellen», sagt Niazai. Er folgt Befehlen blind. Die Taliban haben eine schwer durchschaubare Befehlskette, klar ist: Zuoberst sitzt der Emir in Kandahar, seine Vertrauten, dann kommen die Minister in Kabul und ihre Stellvertreter. Aber es gibt
mächtige lokale Kommandanten, in Kabul und ausserhalb, die Taliban sind eine weniger homogene Bewegung, als es manchmal von aussen scheint. Sein Kommandant hat Niazai einmal befohlen, seine geliebten langen Haare abzuschneiden. Er tat es sofort.
Eigentlich wartet er auf einen Befehl, der noch nicht gekommen ist. Dass er zurückgeschickt wird an eine Front, irgendeine. Er würde dann nicht am nächsten Tag aufbrechen, sagt er, sondern sofort. «Dieses Hotel ist wie ein Gefängnis für mich», sagt er. Er vermisst die Berge, die Wälder und die eiskalten Flüsse. Wenn Niazai im Garten über Gras geht, zieht er die Schuhe aus und läuft barfuss. Er will die Gräser an seinen Fusssohlen spüren, dann, sagt er, verschwänden alle negativen Gedanken.

2. Stock
Im zweiten Stock des «Intercontinental» wohnt die Familie Hakimi, Zimmer 238 und 239. Es gibt nicht viele Gäste im «Intercontinental». Die Russen, die jeden Morgen mit einem weissen Geländewagen abgeholt werden. Der Entwicklungshelfer aus Indien. Der pakistanische Geschäftsmann, der Lampen aus Himalajasalz verkauft. Und die Hakimis.
Hayatullah Hakimi, 67, und seine Frau Aziza, 64, sind 1988 aus Afghanistan geflüchtet. Hayatullah hatte ein Juweliergeschäft. Dann geriet er in den Fokus des Geheimdienstes.
Die Hakimis haben die pompösen Zeiten des «Intercontinental» erlebt. Wenn Hayatullah den Laden am Freitagnachmittag schloss, fuhr er mit seiner Frau ins «Intercontinental». «Wir mochten damals die Beatles, Pop-Musik kam gerade nach Afghanistan», sagt Hayatullah, am Pool spielten Bands Konzerte. Die Touristinnen schwammen in Badeanzügen. Das Hotel lag etwas ausserhalb der Stadt, umgeben von Pinien, im Garten klang Musik aus Lautsprechern, von Ahmad Zahir, dem afghanischen Elvis, der viel zu jung bei einem Autounfall gestorben ist. Die Hakimis haben Fotos von damals: er mit dickem Schnauzer, langen Haaren und glänzender Gürtelschnalle, sie mit Schlaghosen.
Hayatullah sagt: «Eine Kundin hat mir einst ein Visum für die USA angeboten. Aber ich wollte nicht weggehen. Kabul war der beste Ort der Welt.»
Aziza sagt: «Niemand wollte das Land verlassen, niemand wollte nach Europa oder Amerika. Die Leute kamen zu uns.»
Vom Balkon der Hakimis sieht man über Kabul. Die Stadt ist in den vergangenen Jahrzehnten ans Hotel herangewachsen. Die Sonne geht vor dem «Intercontinental» auf und hinter ihm unter. Weisse Betonelemente ragen vom Balkon der Hakimis zu jenem darunter, oben sind sie Geländer, unten Sonnenblende. Es sieht aus, als trage jedes Zimmer schwere, weisse Wimpern. Die Sonne brennt und entlarvt die Risse im Beton, die Stadt verschwindet im Gleissen und im Staub. Die Klimaanlage rattert, und unten kratzen die harten Besen der Gärtner auf dem Asphalt.
Die Hakimis leben heute in Kanada. Sie sind nach Kabul gekommen, um ihren erwachsenen Töchtern zum ersten Mal die Stadt zu zeigen, die sie einst verlassen hatten. Sie verbringen viele ihrer Stunden damit, durch Strassen zu fahren, die sie nicht wiedererkennen.
Aziza sagt: «Alle in diesem Hotel haben wunderschöne Anzüge getragen. Die traditionellen Kleider trugen die Männer nur daheim. Es ist schmerzhaft, alle die Veränderungen zu sehen.»
Hayatullah sagt: «Ich weine jede Nacht. Ich hoffe, das Hotel bleibt offen. Es ist Teil unserer Identität.»

Lobby
Faqiri beugt sich über den Schreibtisch, der nicht seiner ist. Seiner steht in einer Ecke des Büros, aber er setzt sich wie selbstverständlich an den grossen in der Mitte, der seinem Vorgesetzten gehört, einem Talib, der selten da ist. Faqiri tippt auf seinem Smartphone. Heute ist afghanischer Unabhängigkeitstag, er feiert den Friedensvertrag mit den Briten, andere Kriege, das Great Game, Anfang des 20. JahrhundertsJahrhunderts warwar das.das. Faqiri tüftelt an einem Post für Social Media, am Ende wird es eine Fotocollage: Faqiri unten, oben eine wehende schwarz-rot-grüne Flagge. Die Fahne der alten afghanischen Republik, abgelöst von der weissen Flagge der Taliban. «Wir haben gute Erinnerungen an diese Fahne», sagt er und meint die schwarz-rot-grüne.
Faqiri sagt: «Die meisten Menschen haben Mädchen zu Hause und hoffen, dass es für sie irgendwann besser wird. Ich hoffe, alles wird gut. Ich will nicht gehen, ich will erst sehen, wie es läuft.» EineEine FluchtFlucht ausaus AfghanistanAfghanistan istist teuerteuer undund kompliziert.kompliziert. Also hoffen viele Afghanen einfach, dass das Leben unter der Taliban-Herrschaft irgendwann besser wird. Oder warten, bis sie vorbei ist. Beim letzten Mal waren die Taliban fünf Jahre in Kabul. Nur gibt es diesmal kaum Anzeichen auf Widerstand im Land. Kabul wirkt wie eine Stadt im Winterschlaf, von dem niemand weiss, wie lange er dauert.
Wer nicht flieht, der arrangiert sich, und das sind die meisten. «Wir müssen mit den Taliban zusammenarbeiten. Sie sind die Regierung», sagt Faqiri. Ohne gute Verbindungen kommst du nicht ins «Intercontinental». Faqiris Vater war einer der Hotelmanager während der ersten Taliban-Herrschaft. Sie haben ihn nach dem Fall Kabuls wieder angerufen und gefragt, ob er zurückkommen wolle. Er hat dann seinen Sohn geschickt.
Während der ersten Taliban-Herrschaft besuchte einst Mullah Omar, Gründer und Oberhaupt der Taliban, das Hotel, Zimmer 124. Er fragte Faqiris Vater: «Wieso ist niemand hier?» Das Hotel hatte keine Gäste, und Faqiris Vater erklärte dem Taliban-Führer: «Die Leute kommen nicht, weil sie Angst vor euch haben.» Also liess Mullah Omar übers Radio verkünden, alle Ausländer, die in Kabul sicher sein wollten, sollten ins «Intercontinental» einchecken. Am nächsten Tag war das Hotel voll, zumindest geht so die Geschichte.
Auch Faqiri hat viele Ideen, um das Hotel zu füllen. Den Ballsaal vergrössern, einen Helikopterlandeplatz bauen. Oder eine Fakultät der Universität auf dem riesigen Gelände des «Intercontinental» einquartieren, ein Spital vielleicht. Doch alles kostet Geld, das gerade niemand hat.
Und dann ist da noch das Thema mit den Hochzeiten: Früher fanden im Ballsaal des «Intercontinental» grosse Feste statt, zu einer afghanischen Hochzeit kommen Hunderte Gäste, traditionell gibt es einen Männer- und einen Frauenbereich. Unter den Taliban ist es verboten, an Hochzeiten Musik zu spielen, aber an manchen erklingt sie im Frauenbereich trotzdem. Afghaninnen finden immer irgendwie einen Weg, und die Taliban trauen sich nicht, im Frauenbereich zu kontrollieren. Aber im «Intercontinental», dem Hotel im Besitz der Taliban, ist Musik strikt verboten.
Faqiri schätzt, er habe schon über eine halbe Million Franken verloren wegen des Musikverbots. «Die Taliban müssen offener werden. Ich brauche das, sonst kann ich meine Ziele nicht erreichen.» Das Hotel wird wahrscheinlich auch dieses Jahr wieder Verlust machen.
Faqiri hätte ebenfalls fliehen können. Am 15. August 2021, am Tag, als Kabul fiel, war ein Freund von ihm am Flughafen. Er hätte ihm einen Platz auf einem der Evakuationsflüge gesichert. Faqiri ist geblieben. Er wollte nicht allein aufbrechen, er wollte erst seine Verlobte heiraten. Die Hochzeit fand später im grossen Ballsaal des «Intercontinental» statt. Seine Frau gebar bald nach der Hochzeit einen Sohn. Das Ausland hat er noch nicht ganz aufgegeben. Er würde gerne irgendwo eine Doktorarbeit schreiben. Aber eben, erst einmal bleibe er. Faqiri wartet ab. Vermisst er das alte Afghanistan? «Natürlich vermisse ich es.»

1. Stock
Der goldene Lift hält im Ersten. Hier hat der Terroristenführer Usama bin Ladin kurz gewohnt, Zimmer 196 und 197. Gleich neben dem Lift schlängeln sich dicke Kabel unter einer Tür hindurch und verschwinden unter dem Spannteppich, Zimmer 114. Hier sitzt die Geheimpolizei vor ihrem Videomonitor. Sie wollen die Kabel in Zukunft besser verstecken, sagt einer der Agenten zerknirscht. Den Gang hinunter, Zimmer 122, liegt das Büro des Hotelpräsidenten. Hafiz Zia-ul-Haq Jawad hat in seinem Sessel Platz genommen. «Das Image der Taliban ist, dass wir hier sind, um etwas kaputtzumachen. Aber wir sind hier, um etwas aufzubauen», sagt er.
Jawad sagt, es schmerze ihn, wenn er die Räume im Hotel verfallen sehe. Es sei nicht mehr der fünf Sterne würdig. Er wolle es renovieren, wieder aufbauen, für alle zugänglich machen: Seit die Taliban übernommen haben, kommen manchmal Kabuler, Taliban und Nichttaliban, hoch zum Hotel, um ein Foto von der Aussicht zu machen. Früher wären sie schon an der ersten Sicherheitsschranke abgewiesen worden.
«Uns liegt viel an diesem Hotel», sagt Jawad. Unklar ist, wie es weitergeht. Das meiste Personal ist seit Jahren da. Aber die gut ausgebildeten Jungen verlassen das Land. Die Taliban planen eine Hotelakademie. Und das «Intercontinental» soll eines der besten Fünfsternehotels der ganzen Region werden. Das zuständige Ministerium sucht gerade nach Investoren. Eine türkische Firma hat eine Offerte für das Hotel hinterlegt, aber die sei nicht gut genug gewesen, sagt Jawad, «uns geht es nicht so schlecht, dass wir das Hotel einfach weggeben wollen».
Jawad sagt, er unterscheide bei seinen Mitarbeitern nicht, wer ein Talib sei und wer nicht. «Ich diskriminiere nicht.» Ihm sei nur eines wichtig, dass alle hart arbeiteten, ehrlich seien, der Nation dienten. «Manchmal gehe ich in die Küche hinunter. Ich zeige allen: Ich bin einer von euch. Niemand soll denken, die Taliban seien nur hier für kurze Zeit.»
An der Wand seines Büros hängt ein Foto aus den besten Zeiten des «Intercontinental», Menschen schwimmen im Pool. Jemand hat die Frauen auf den Liegestühlen mit weisser Farbe übermalt.

Pool
Am Abend flattern Fledermäuse über den «Intercontinental»-Pool. Sie jagen die Mücken, die sich über dem abgestandenen Wasser tummeln. Ein grünlicher Rest versickert an der tiefsten Stelle des Beckens, irgendwann soll es mit frischem Wasser befüllt werden. Eine Mücke landet auf Niazais Pommes frites. Er hat sich wie jeden Abend seinen Teller am Buffet vollgeladen. Faqiri sitzt neben ihm am Tisch. Über ihnen brennt eine Lichterkette.
Der Zerfall, die Risse, im stechenden Tageslicht so offensichtlich, sie sind jetzt weichgezeichnet von farbigen Lämpchen. Der Wind rauscht durch die Pinien. Faqiri hat seine Hand auf Niazais Stuhl gelegt. Er sagt, sie seien Freunde. Und für einen Moment sehen sie tatsächlich so aus, zwei junge Männer, beide lächeln. FaqiriFaqiri rauchtraucht dünnedünne Zigaretten.Zigaretten. NiazaiNiazai rauchtraucht nicht.nicht.
Die meisten von Faqiris Freunden haben Afghanistan verlassen. Jene, die geblieben sind, waren schon immer Taliban, er hat es einfach nicht gewusst. An der Universität in Indien hätten sie einmal ein lustiges Video aufgenommen, er mit seinen afghanischen Mitstudenten, sie tanzen vor der Uni. Nach dem Fall Kabuls hat ihn einer der Mitstudenten angerufen, ob er das Video bitte löschen könne, er sei nämlich ein Talib.
Für Niazai war es ein Spiel, Maulwurf zu sein, andere auszuspionieren, einen Krieg im Geheimen zu führen. «Jetzt ist das Spiel vorbei», sagt er. In einer dunklen Ecke am Pool sitzen die Russen. Sie sind eingeladen vom Verteidigungsministerium. Sie sollen für die Armee alte russische Helikopter wieder flugtauglich machen.
Frage an Faqiri, etwas später: Was mag er an Niazai? «Er ist ein guter Typ. Er sagt nie Nein, wenn es darum geht, Arbeit zu erledigen.» Die Taliban brauchten ihn und die anderen Nichttaliban im Hotel. Niazai und die anderen Taliban würden gerade langsam, langsam lernen, wie man ein solches Hotel führe. Faqiri bildet eine Art Brücke zwischen den Taliban und den anderen Mitarbeitern, auch zwischen den Taliban und den Kunden. Es ist nicht einfach mit den neuen Herrschern. «Ich muss sie verstehen. Aber sie erklären sich nie.»
Die gleiche Frage an Niazai: Was mag er an Faqiri? «Er hat ein reines Herz. Und er ist nie eifersüchtig.» Überhaupt, wenn er jemanden im «Intercontinental» nicht möge, dann seien dessen Tage im Hotel sowieso gezählt. Formell seien er und Faqiri gleichberechtigt. Aber er habe mehr Einfluss, weil er ein Talib sei.
Niazai fährt am liebsten Motorrad. Die Taliban haben ihren Kampf jahrelang auf alten Hondas geführt, immer eine Decke auf dem Sattel, die in der Nacht als Schlafplatz dient, immer schnell weiter. Faqiri ist noch nie Motorrad gefahren. Er sagt, im «Intercontinental» zu arbeiten, sei sein Traumjob. «Ich möchte hart arbeiten für ein paar Jahre, dann bin ich glücklich und fertig mit dem Hotel.» 3 Millionen Franken will er dieses Jahr Gewinn machen, das ist das Ziel, «ich kann es schaffen». An diesem Abend am Pool steht Faqiri irgendwann auf. Er geht nach Hause. Seine Frau und sein Sohn warten auf ihn.

Keller
Die Kronleuchter im Hotel sind schon aus, es ist nach 23 Uhr. Das «Intercontinental» liegt im Dunkeln. Die Wäscherei im Keller ist geschlossen, die Sauna und der Schönheitssalon sowieso verbarrikadiert. Nur aus dem Fitnessraum glimmt Neonlicht auf die weissen Fliesen. Niazai pedalt auf einem Hometrainer. Jede Nacht würden er und seine Freunde hier trainieren, sagt er, seine Freunde sind die Taliban-Wachen rund ums Hotel. Heute aber ist er allein. Er hat sein traditionelles Gewand abgelegt und trägt einen Trainingsanzug von Under Armour, einer Sportmarke, die einst bei den amerikanischen Soldaten in Afghanistan beliebt war. In den Abfallkübeln liegen leere Red-Bull-Dosen.
Niazai hat mir einmal gesagt: «Der Friede ist gut für Afghanistan. Aber er ist langweilig für uns.» Er fürchtet sich davor, sich an dieses Leben zu gewöhnen. Er hatte nie Angst zu kämpfen, und jetzt fürchtet er, dass er sich irgendwann fürchtet, wieder in den Krieg zu ziehen.
Viele Geräte im Fitnessraum sind kaputt. Beim Rudergerät fehlt der Griff, ein Freund von Niazai hat ihn im Übermut abgerissen. Der Boxsack: ebenfalls im Übermut zerstört. Es ist still, nur Niazais Pedalen surren. Er sagt, er schlafe nicht viel, keiner seiner Freunde schlafe viel. Er erzählt, was er schaut, wenn er manchmal allein mit Kopfhörern in der Lobby sitzt: Videos von Taliban-Operationen in ganz Afghanistan, geteilt in einschlägigen Whatsapp-Gruppen. Er müsse keine Nachrichten verfolgen, sagt Niazai, er wisse besser als die Journalisten, was im Land passiere.
Die geölten Haare fallen ihm ins Gesicht, wenn er sich über den Lenker beugt, im Trainingsanzug sieht er fast aus wie ein gewöhnlicher junger Mann. Ausgespuckt vom Krieg.
Das «Intercontinental» liegt im Dunkeln. Niazai weiss noch nicht, wann er schlafen geht.