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True Story Award 2021

Wenn das Herz versagt ... und es nur eine Rettung gibt

Vier Menschen warten in einer Klinik gemeinsam auf ein neues Herz. Ihre Chancen stehen schlecht. Es gibt zu wenige Spender in Deutschland. Werden sie alle rechtzeitig ein Herz bekommen? Ein Jahr mit Gerd, Kai, Manfred und Nadja

Sie schlurfen nacheinander über den Klinikflur. Atmen schwer, als sie die Stuhlreihe vor dem Arztzimmer erreicht haben. „Mich nervt das hier“, sagt Kai. „Die erzählen uns doch immer das Gleiche. Warten. Warten. Warten. Bis es zu spät ist, oder was?“
Die anderen nicken nur.

Es ist ein Freitag im Februar 2018. Freitags steht immer das Gespräch mit den Ärzten auf dem Plan.
Da ist Nadja, 29 Jahre alt. Fast regungslos sitzt sie da, versunken in tiefer Traurigkeit. Länger als sechs Monate lebt sie nun in dieser Klinik. Sie sagt: „Am Anfang dachte ich: Ich bin die Jüngste, ich habe einen kleinen Sohn. Das kann also nicht lange dauern, bis ich ein Herz bekomme. Tja.“

Neben ihr sitzt Gerd, 51 Jahre alt, ein schlankes, langes Nordlicht. Er arbeitet bei einer Krankenversicherung. Klingt wie ein guter Zufall, wenn man so schwer krank ist. Aber er winkt ab. „Nee, nee, die AOK kann mich nicht retten!“, sagt er. 1,96 Meter ist er groß. Im Leben ist das oft ein Vorteil, nicht aber, wenn man ein passendes Spenderherz braucht.
Vor den beiden steht Kai, 41. Er kann schlecht still sitzen. Er ist entweder in sehr guter oder in sehr schlechter Stimmung, vor allem aber ist er laut.

Eigentlich müsste auch Manfred mit dem Rollator herbeigeschlurft kommen, der älteste und lustigste von ihnen. „Wo ist der wieder?“, fragt Kai. „Bekommt Blut“, sagt Gerd. „Schon wieder?“ – „Ja.“ – „Der Blutsauger.“

Eine junge Mutter. Ein langer Mann von der Krankenkasse. Ein lauter Sprücheklopfer. Und ein älterer Herr, dem ständig das Blut ausgeht. Der Zufall hat sie zusammengewürfelt, in dieser grauen Rehaklinik am Waldrand von Bad Fallingbostel in Niedersachsen. Seit Monaten teilen sie sich drei Stockwerke höher einen Flur. Dass sie hier gemeinsam leben, wäre zu viel gesagt. Sie harren gemeinsam aus.
Während sie vor dem Arztzimmer warten, schauen sie auf einen kleinen Kasten an ihrem Gürtel. „Sprengstoff“, sagt Kai und zwinkert. „Unser Erkennungszeichen. Wenn schon sterben, dann mit einem Knall.“

Der Kasten hält sie am Leben. Sie nennen es ihr „Kunstherz“. Er ist schwarz und etwas größer als ein alter Walkman. Grüne Leuchten zeigen ihnen an, wie voll die Akkus sind. Die Akkus dürfen nie leer werden, denn von dem Kasten aus führt ein Kabel unter ihre Hemden in ihren Bauch, von dort knapp unter der Haut weiter nach oben bis unter ihre linke Brust, dann tiefer in ihren Körper zu ihrem Herzen. Dem alten Herzen, das noch da ist, aber kaum noch arbeitet.

Deswegen ist an der linken Kammer eine elektrische Pumpe aus Edelstahl vernäht. Wie ein Ersatzmotor, den man dazugebaut hat. Die kleine Turbine darin dreht sich Tausende Male in der Minute. Sie drückt in dieser Zeit etwa sechs Liter Blut in ihre Hauptschlagader, von dort verteilt es sich in die kleinsten Gefäße, in die Zehen, ins Gehirn. Es ist ein dauernder Fluss, kein Pulsieren. Sie spüren keinen Herzschlag mehr am Handgelenk.

Die Pumpen laufen zwar, aber nicht so gut wie ein echtes Herz. Die vier schaffen die Treppen nur noch abwärts. Sie hecheln, wenn sie sich über die langen Flure der Klinik schleppen. Fühlen sich müde und niedergeschlagen, sind blass. Die Messungen zeigen an, dass ihre Herzen noch 15 oder 20 Prozent dessen leisten, was sie einmal konnten. Und die Werte nehmen weiter ab.

Inzwischen machen auch ihre künstlichen Pumpen Probleme. Weil sich Bakterien am Kabel sammeln oder immer wieder Blut an der Eintrittsstelle ausläuft. Niemand weiß, wie lange die Geräte noch halten. Nur echte Herzen können die vier retten.

Einer nach dem anderen wird in das Arztzimmer gerufen. Einer nach dem anderen bekommt dieselbe Botschaft: Halte durch!

Es gibt nicht genügend Spenderherzen. Genauer gesagt, gibt es in diesen Wochen Anfang 2018 in Deutschland so wenige wie nie zuvor. Was wird schneller kommen, ein neues Herz oder der letzte Schlag ihres alten?

Die vier werden sich in den kommenden Monaten begleiten lassen. Durch Zeiten der Todesangst und der euphorischen Hoffnung, in ihre Zimmer, in ihr Zuhause, auf die Intensivstation. Sie werden den stern über Whatsapp-Nachrichten auf dem Laufenden halten. Bei manchen werden wir, der Fotograf und der Reporter, auch im Operationssaal sein, wenn ihnen endlich ein gesundes Herz transplantiert wird.

In einigen Momenten wird es so intim, dass schließlich aus dem „Sie“ ein „Du“ wird. Deswegen heißen die Personen in diesem Text nicht Gerd Kuck, Manfred Elligsen und Nadja Jentsch, sondern Gerd, Manfred und Nadja. Kai hat nur unter der Bedingung zugestimmt, dass sein Nachname nicht genannt wird.

Sie sind Patienten der Medizinischen Hochschule Hannover, die etwa eine Dreiviertelstunde entfernt liegt. Die Hochschule kooperiert mit der Rehaklinik, um ihnen das Warten angenehmer zu machen. Immerhin hat jeder ein Einzelzimmer. Mal warten hier zwei, mal acht Menschen. Sie dürfen das Gelände nicht verlassen. Alle vier Wochen wiederholt sich der Kantinenplan. Die größte Attraktion ist der Zauberer, der regelmäßig auftritt. „Aber bei dem musst du grauen Star haben, um die Tricks zu übersehen”, sagt Kai. In der Kantine haben sie einen eigenen Tisch, ganz hinten. Dort steht auf einem Schild: „HU“. High Urgency. Hochdringlichkeit. So nennt sich ihr Status. Nur etwa 100 Menschen in Deutschland haben ihn, die kränksten der Herzkranken.

Vor ein paar Wochen setzte Kais Herz aus. Es zuckte nur noch. Kammerflimmern. Für solche Situationen tragen sie einen Defibrillator unter der Haut, am linken Schlüsselbein. Mit Stromstößen soll er das Herz wieder in Gang bringen. Aber es sprang nicht an. Die Ärzte drückten ihm einen großen Defibrillator auf die Brust. Die Brandwunden hat er noch heute. An den Helikopter, der ihn nach Hannover flog, kann er sich nicht erinnern, die anderen haben ihm Videos gezeigt.


FEBRUAR

Vier Tage nach der Freitagsvisite liegen Manfred und Gerd auf ihren Betten. Kai sitzt in der Kantine und erzählt von Nadja, die gestern nicht beim Frühstück auftauchte. „Die hat Glück“, sagt er. „Die haben sie nach Hannover gebracht. Jetzt hat sie das Teil.“ Nach sieben Monaten endlich ein Herz.

Es klingt nicht so, als ob sich Kai freuen würde. „Klar, doch, freuen tu ich mich schon, aber ich wäre auch gerne dran gewesen.“
Gerd und Manfred finden es gerecht, dass Nadja zuerst ein Herz bekommen hat, vor allem wegen ihres kleinen Sohnes und weil sie am längsten gewartet hat.

Nicht jedes Herz passt in jeden Menschen. Nadjas neues Herz wäre für alle drei Männer zu klein. Kai wiederum ist nicht so groß wie die beiden anderen Männer, seine Statur gedrungener. „Gut für mich“, sagt er. „Damit konkurriere ich schon mal nicht mit Gerd und Manfred. Klar denkt hier jeder für sich.“

Wer welches Herz bekommt, wird in der niederländischen Stadt Leiden entschieden. Acht europäische Länder, darunter Deutschland, haben sich dort zu einem Verbund zusammengeschlossen und ihn „Eurotransplant“ genannt. Je größer der Verbund, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man für einen Spender den richtigen Empfänger findet.

Ein Computerprogramm namens ENIS berechnet die Passgenauigkeit der Spenderorgane. Bei Herzen müssen Blutgruppe, Größe und Alter übereinstimmen. Bei der Größe tolerieren die Ärzte Abweichungen von etwa 15 Prozent. Beim Alter sind sie noch großzügiger. Wählerisch können sie auch nicht sein, denn im Schnitt sind die Spender heute fast 57 Jahre alt. Wenn bei mehreren HU-Patienten alles stimmt, zählt vor allem die Wartezeit. Wenn das Herz zu niemandem passt, was sehr selten passiert, scannt der Computeralgorithmus eine zweite Patientenliste. Auf ihr sind die Menschen verzeichnet, die ebenfalls ein Herz brauchen, aber noch nicht so extrem gefährdet sind wie die vier.

Das Problem, das der Computer in Leiden nicht lösen kann: Im größten Land des Verbundes, in Deutschland, gab es im Jahr 2017 nur 797 Spender. Von der Zahl haben die vier erst vor ein paar Wochen gelesen. Rechnerisch kommen damit auf eine Million Menschen nur noch 9,7 Spender. Niedriger war der Wert nie. In Belgien und Kroatien sind es mehr als 30. Die Exportnation Deutschland ist bei Organen der Importmeister. Früher warteten die Menschen auf der HU-Liste nur Wochen. Heute fast immer Monate – wenn die Patienten es überhaupt schaffen. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben, bevor ein Herz kommt, liegt bei etwa 20 Prozent.

Die Listen sind der Versuch, einem ethischen Dilemma zu entkommen. Sie sollen Gerechtigkeit bei der Frage schaffen, wem man hilft und wem nicht. Sollte ein junger Mensch wie Nadja einem alten wie Manfred vorgezogen werden? Aber was, wenn der junge ein Straftäter ist? Sollten jene, die Verantwortung für Kinder tragen, bevorzugt werden? Soll das Alter der Kinder zählen? Dann hätte Kai gewonnen, seine Tochter ist erst vier. Weil diese Fragen den Menschen überfordern, zählen auf der HU-Liste der Herzkranken solche Kriterien nicht. Was zählt, ist vor allem die Wartezeit. Es gibt eine Ausnahme: Kinder werden bevorzugt.

Kai setzt sich in der Cafeteria ans Fenster. Erzählt, dass er Elektrotechniker war, bis vor zwei Jahren konnte er noch arbeiten. Aber dann wurden die Folgen einer Herzmuskelentzündung zu heftig und er zu schwach. Seine Frau und die Tochter leben knapp eine Autostunde südlich von der Klinik. Fast jedes Wochenende besuchen sie ihn. Er schaut auf den Parkplatz und kommt noch einmal auf Nadja zu sprechen, die sich von ihrer Transplantation zunächst in der Uniklinik erholen muss. „Dann tanzt die hier bestimmt in ein paar Wochen an“, sagt er, „noch ein bisschen Reha, und dann darf die ab nach Hause.“


MÄRZ

Auf dem Flur der HU-Patienten haben sich alle in ihre Zimmer zurückgezogen. Der lange Gerd schaut in Zimmer 303 fern. Manfred, der Älteste, liegt in 301 auf seinem Bett, den rechten Arm hinter seinen Nacken gestützt. Sein graues Haar ist auf dem Rückzug, die Stirn bietet der Lesebrille viel Platz. Seine Frau Christina, 67, sitzt auf ihrem Zustellbett. Unter der Zimmerdecke schwebt ein lilafarbener Ballon. Ein Überbleibsel von seinem 70. Geburtstag vor ein paar Tagen.

Bevor Manfred hier vor fast einem halben Jahr einzog, fragte er sich, ob er sich in diesem Alter überhaupt noch listen lassen soll. Sie riefen eine Art Familienrat ein, er, seine Frau und die zwei erwachsenen Söhne. „Die sagten: ‚Mach et, Papa‘“, erinnert sich Manfred. „Es gab auch nur die Alternative, zu Hause zu liegen und aufs Sterben zu warten“, sagt Christina.

„Ich hätte gern das Herz eines 20-Jährigen. Ein knackiges“, sagt Manfred. „Ach, so eins bekommst du nicht“, sagt sie. „Das Herz eines Tango-Tänzers, das wär’s“, sagt Manfred. Er muss vor Lachen husten. Richtet sich dann auf, sammelt seine Kräfte für einen Gang zur Toilette.
Niemand weiß, warum Manfred unentwegt Blut verliert. Die Ärzte vermuten, dass es am Kunstherzen liegt. Da es nur einen gleichmäßigen Fluss erzeugt, könnten seine kleinen Gefäße leiden. Ihre Wände brauchen womöglich die Bewegung eines pochenden Herzens, weil sie sonst porös werden. Wahrscheinlich gehen durch sie die roten Blutkörperchen verloren. Manfred bekommt zweimal die Woche vier Beutel Blut.
Seit mehr als 30 Jahren sorgt sich seine Frau um ihn. Mit einem Herzinfarkt auf dem Handballplatz ging es los. Der war so schwer, dass sich sein Herz nie ganz davon erholte. Als ein paar Jahre später die Söhne mit dem Fußballspielen begannen, stellte sich Christina ins Tor, Manfred schaute zu. Wegen der Krankheit waren sie anders als andere Familien, aber sie hatten sich, und es war gut. Bis er 52 wurde, arbeitete Manfred noch in seiner Druckerei, dann reichte die Kraft nicht mehr.

Eine Woche später. Die Männer haben mitbekommen, dass Nadja aus der Uniklinik zurück ist. Sie sehen sie jetzt schnellen Schrittes durch das Foyer laufen. Als Transplantierte ist Nadja in ein Zimmer in einem anderen Gebäudeflügel gezogen, sie trennen eigentlich nur ein paar Meter, aber das neue Leben, auf das die Männer hoffen, hat bei ihr schon begonnen. Sie sitzt nun unten in der Cafeteria. Die Narbe an ihrer Brust reicht fast bis zum Hals. Ihre Traurigkeit ist verflogen. 17 Tage hat sie nach der Transplantation gebraucht, um fit genug zu werden, um zurück nach Bad Fallingbostel zu kommen. Sie kennt niemanden, der es schneller geschafft hat.

Ihr achtjähriger Sohn kam gleich zu Besuch. „Der hat mich vorher immer gefragt: ,Mama, wenn du ein neues Herz bekommst, hast du mich dann noch lieb?‘ Er hat gleich gesehen, wie lieb ich ihn hab.“

Morgen ist Karfreitag, am Samstag darf sie das erste Mal seit acht Monaten nach Hause. Dort hat sich nicht alles so entwickelt wie erhofft. „Zuerst muss ich die Scheidung über die Bühne bringen“, sagt sie. „In schwierigen Zeiten sieht man nun mal, wer zu einem steht, wer den Strapazen gewachsen ist und wer nicht.“

Vom Sessel im Foyer aus winkt sie Gerd zu, dem Langen. Er sitzt mit Kai neben dem Eingang, sie beobachten mal wieder die Abreisenden. „Wird leer über Ostern, wa?“, sagt Kai. Gerd nickt. Die anderen Patienten der Rehaklinik bleiben meist drei Wochen, sie haben einen Bypass oder eine Herzklappe bekommen, erholen sich und fahren zurück in ihr altes Leben. Heute steigen besonders viele in die Taxis.
Der Winter ist zurück und die Grippewelle ist dieses Jahr besonders stark. Kai trägt zum Schutz eine grüne Maske über dem Mund. Manfred haben die Viren schon erwischt, sein Alter macht ihn anfälliger. Er liegt isoliert in der Uniklinik. In dem Zustand würden ihn die Ärzte nicht transplantieren.

Die Krankenhausseelsorgerin geht durchs Foyer. „Ha“, flüstert Kai. „Die ist drauf. Letztens geht sie an mir vorbei und sagt: ,Na, bald beginnt die Motorradsaison.‘“ Gerd hat gar nicht hingehört.

„Dann kriege ich mein Herz. Ist doch so, oder?“, sagt Kai.

„Was ist so?“, fragt Gerd.

„Na ja, wir werden bestimmt bald angerufen. Wenn der Frühling kommt. Und das Motorradwetter.“

Gerd schaut Kai über seine Brillengläser an. Er mag solche Scherze nicht. Kai sagt: „Was soll’s? Sie sterben ja nicht für uns. Sie sterben ohnehin.“

Gerd weiß seit Jahrzehnten, dass er irgendwann ein Herz braucht. Er war erst 24, als er in der Vorbereitung zur Fußballsaison immer schlechter Luft bekam. Die Ärzte sagten ihm, dass sein Herz wohl unbemerkt eine Entzündung davongetragen habe, ein verschleppter Infekt womöglich. Der Herzmuskel war unheilbar geschädigt. Er schulte um, vom Bautischler zum Sozialversicherungsfachangestellten, und kam zur AOK. „Schreibtischjob eben“, sagt er.

Er und seine Frau Insa haben gerade ein Haus gebaut. Als vor fast fünf Monaten der Estrich verlegt wurde, musste er zu einem Routinetermin in die Klinik. „Die haben mich gleich dabehalten. Verdacht auf ein Gerinnsel im Kunstherzen. Man kann da aber nicht reinschauen.“ Sie sagten ihm, dass sich jederzeit etwas lösen könne, was seine Gefäße verstopft, im schlimmsten Fall im Kopf. Gaben ihm Mittel, die sein Blut flüssiger machten. Nach Hause durfte er nicht mehr.

Seine Frau hat weitergebaut. Er versucht ihr zu helfen. Bestellt über das Internet Pflastersteine, verhandelt mit Handwerkern, wenn es Ärger gibt. Aber das Haus ist fast fertig, seine Frau und seine neunjährige Tochter sind längst eingezogen. Er hat kaum mehr etwas zu tun. Versucht sich abzulenken, Netflix, Amazon Prime, Sky Go. Es funktioniert immer schlechter.


APRIL

Nadja packt ihre Taschen. Die vergangenen Tage ist sie kilometerweit durch den Wald spaziert. Die Blässe ist aus ihrem Gesicht gewichen. Seit der Transplantation mag sie plötzlich Fencheltee. Ihr Herz schlägt nur 43 Mal in der Minute, vielleicht ein Sportlerherz. „Ich würde gerne wissen, von wem es ist“, sagt sie. Aber der Datenschutz verbietet das.

Die Ärzte haben ihr gesagt, dass sie wohl noch einmal ein Herz brauchen werde, so jung wie sie ist. Ihr Körper werde ihr neues Herz immer als Fremdkörper verstehen, das macht es anfällig. Sie verdrängt den Gedanken.

Sie will bald an die Nordsee, endlich wieder das Meer sehen. Das Einzige, was sie hierlässt, ist ein großer Teddybär mit Verband am Arm. War ihr Glücksbringer. Jetzt hockt er auf dem Schrank von Manfred, der nun mit fast sieben Monaten Wartezeit führt.

In der Kantine lassen die HU-Patienten ihren Tisch umstellen. Von ganz hinten nach fast ganz vorn zum Eingang. Manfred zuliebe, weil ihm der Weg zu mühsam geworden war. Er kam nicht mehr zum Essen.

Dieser lange Winter hat sie Nerven gekostet. Sie sind schwächer geworden, müssen auf ihren Ergometern schneller aufgeben.

Es ist Sonntag, die drei Männer haben Besuch von ihren Familien. Sie sitzen gemeinsam am Tisch, essen Hähnchenfleisch und Kartoffeln. Draußen scheint die Sonne. Endlich, es wird Frühling. Sie sprechen schon über die Fußball-WM, die im Juni in Russland startet. Sie hoffen, dass sie die Spiele mit neuem Herzen in der Uniklinik schauen können. „Du bekommst auch die Fernbedienung“, sagt Gerd zu Manfred.

Die beiden mögen sich. Weil Manfred lustig und jung im Kopf geblieben sei, hat Gerd einmal gesagt, und weil er sich für andere interessiere, obwohl es ihm selbst so schlecht gehe. „Man muss hier miteinander klarkommen. Mit manchen geht das besser.“
Manfreds Frau sagt am Kantinentisch: „Das hier werden wir vermissen. Was machen wir bloß an den Wochenenden, wenn wir nicht mehr hier sind?“

„Mmm, ja, was machen wir bloß?“, fragt Gerd mit einem Grinsen. „Fällt mir da was ein?“

Alle lachen. In diesen Stunden schaffen sie es, die Angst zu verjagen.

Bis Gerds Tochter von der Schule erzählt. Dritte Klasse. „Was macht ihr da so?”, fragt Manfred. „Letztens waren wir in einer Kirche. Und da war ein Friedhof. Da haben wir die Steine angeguckt.“ Manfred schaut überrascht. „Gruselig, oder?“, fragt er. „Neeein“, sagt sie, als hätte Manfred keine Ahnung von Friedhöfen. Sie erzählt von den lustigen Gießkannen, die in den Sträuchern hingen. „Die Gräber sahen schön aus.“


MAI

An einem Abend im Mai bekommt Kai seinen Anruf. Ein Herz.

Ein paar Tage später sitzt Gerd in seinem Zimmer, über den Laptop gebeugt, weil er Rechnungen fürs Haus begleicht. „Der Kai ist durch mein Zimmer gehüpft wie auf Speed“, sagt er. Gerd ist ehrlich. „Seit fünf Jahren freue ich mich für andere mit. Ich will das nicht mehr.“
Er wartet zum zweiten Mal. 2013 war er schon einmal zehn Monate lang HU-gelistet, damals lag er in der Uniklinik. Da hatte er noch kein Kunstherz. Sein eigenes schaffte es damals gerade noch so. Er wollte die Stahlpumpe auch nicht, weil er wusste, wie viele Probleme sie machen kann, im schlimmsten Fall kommt es zu einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung. Er hoffte, dass er rechtzeitig ein richtiges Herz bekommt. Er wartete in einem Vier-Bett-Zimmer, mit ständig neuen Patienten, manche überlebten es nicht. Er trauerte um sie in der Klinikkapelle. Aber nach zehn Monaten war er selbst fast tot, seine Organe versagten, die Nieren, die Leber war kurz davor. Er konnte nicht mehr länger auf ein echtes warten, er brauchte das Kunstherz. Zehn Monate Klinik hatte er hinter sich, für nichts.

Mit dem Kunstherzen ging es ihm erst einmal besser, er verlor den HU-Status. Den prüfenden Ärzten war er nicht mehr krank genug.
Als sich sein Zustand nun wieder verschlechterte, begann alles von vorn. Die Wartezeit von damals zählt nicht. Und dieses Mal kann ihn nur ein echtes Herz retten.

Kurz vor dem Mittagessen klopft es an Gerds Tür. Manfred schiebt seinen Rollator ins Zimmer. Er parkt ihn vor Gerds Bett, setzt sich drauf und lässt seinen Kopf in die Hände fallen. „Ach, Gerd, ich habe mich gewundert, dass ich heute überhaupt aufgewacht bin”, sagt er. Acht Monate hat Manfred jetzt voll. Vor einer Weile ist sein rechtes Auge eingeblutet, seitdem ist er darauf blind. „Den Scheiß-Glücksbären von Nadja schmeiß ich bald aus dem Fenster”, sagt er.

Vermutlich berechnet der Computer in den Niederlanden zwischen Manfred und Gerd nur ein paar Plätze. Beide sind über 1,90 Meter, beide haben die Blutgruppe 0. Sie warten auf ein ähnliches Herz. Aber sie haben nie darüber gesprochen. Sie wissen nicht einmal, wie die Listen genau funktionieren. Wozu auch, hat Gerd einmal gesagt, wenn man es eh nicht ändern könne.

Am Nachmittag wechselt eine Schwester die Pflaster an Manfreds Bauch. Er bleibt danach auf seinem Bett liegen. „Eben hatte ich Physio“, sagt er, „die wollte, dass ich meine Arme höher strecke. Sie sagte: ‚Bei Ihnen zu Hause sind die Teller bestimmt oben.‘ Da habe ich mich gefragt: Wo sind eigentlich unsere Teller?“ Die Erinnerungen verschwimmen. Er denke jetzt öfter an die Zeit, in der seine Söhne klein waren. „Basteln in der Kita zum Beispiel“, sagt Manfred. „Ich konnte so gut Turtles malen wie niemand sonst. Mein Sohn war unheimlich stolz.“

„Und heute?“, sagt er. „Heute sehe ich die bedauernden Blicke. Ich sehe die Angst in den Augen meiner Familie.“ Ein Sohn streichle ihn jetzt sogar.


JUNI

Kais Transplantation lief bestens. Auch er ist schnell wieder zurück in Bad Fallingbostel. Gerade bricht er zu einer Trainingsrunde um die Klinik auf. „Ich gehe nur noch mit einem Grinsen durch die Weltgeschichte”, sagt er. Er erzählt, dass er schon zwei Etagen hochkomme. Dass er abends nun beim Italiener oder Griechen esse.

Ob er an den Spender denke? „Ich will das gar nicht wissen“, sagt er. „Aus Selbstschutz. Mir geht es gut. Das ist das Wichtigste.“
Und: „Ich fahre morgen. Die Ärzte wollen, dass ich noch bleibe, aber ich habe keinen Bock mehr. Ich will meine Papiere, fertig. Arschlecken. Lasse mir noch den Koffer ins Auto tragen, das darf ich noch nicht.“

Die anderen finden, dass Kai das Glück herausfordere. „Der zeigt einfach keine Demut“, sagt Gerd. Manfred schüttelt nur den Kopf.

Zehn Tage später schreibt Kai dem stern eine Whatsapp-Nachricht: „Habe ne akute Abstoßung und liege auf 74. scheibenkleister“.

Die 74 ist die kardiologische Intensivstation der Uniklinik. „das kann immer passieren“, schreibt er. Er habe Atemnot. Bekomme Cortison und das Blut gewaschen.

Dass der Körper das fremde Herz abstößt, ist das größte Risiko nach der OP. Deswegen schlucken Transplantierte unzählige Tabletten. Sie schwächen damit ihr Immunsystem. Und doch geschieht es immer wieder.

Die Fußball-WM beginnt, und in der Rehaklinik warten nur noch Manfred und Gerd. Gerds Tochter hat eine Deutschlandfahne an die Zimmerlampe geklemmt. Aber die Stimmung ist schlecht. Gerd kapselt sich ab. Eine Woche lang geht er nicht zum Mittagessen. Die Anwendungen lässt er sausen. Er ist kurz davor, abzubrechen. Er liegt auf seinem Bett, eine Infusion läuft in seinen Arm, ein Medikament, das die Schlagkraft seines Herzens stärken soll. „Das hier soll nicht mein Hospiz werden“, sagt er.

Auf seinem Tisch liegt ein roter Ordner, darin seine Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht. Seine Frau weiß, dass er nicht am Leben gehalten werden will, wenn die Ärzte keine Hoffnung mehr haben. Auch dass er nicht erwarten würde, dass sie ihn pflegt.

Früher, als er seine Lehre als Tischler im Oldenburger Land machte, nagelte er Särge für Fremde zusammen. Sah, wenn die Familien sich noch einmal verabschiedeten. „Fand ich immer komisch, wenn sie kamen, um die Leiche anzuschauen.“ Damals war der Tod nur Teil seines Jobs. Heute fragt sich Gerd, ob und wie lange er noch kämpfen will.

Er hat das Zureden der Ärzte satt. Schon als er 2013 auf ein Herz wartete, stellte sich ein Arzt an sein Bett: „Der sagte: ‚Denken Sie doch an Ihre Familie. Nehmen Sie endlich das Kunstherz.‘ Den hätte ich fast rausgeschmissen. Der will mir was von Verantwortung erzählen.“
Er schildert, wie er mit seiner ersten Frau zwei Kinder großzog. Wie er den Job umstellte. Wie eines Nachts sein Herz aussetzte, er nur überlebte, weil seine Ex-Frau ihn reanimierte. Wie er im Koma lag und alle Angst hatten, er könnte ein Pflegefall bleiben. Wie seine Ehe daran zugrunde ging. „Ich bin allein in eine Wohnung gezogen”, sagt er. „Dann habe ich meine Frau kennengelernt. Wieder heiraten. Wieder ein Kind. Wieder kämpfen. Uns absichern. Und dann steht der da und erzählt, ich soll Verantwortung übernehmen!“


JULI

Derselbe Arzt ruft ihn ein paar Wochen später ins Arztzimmer. Sebastian Rojas ist Herzchirurg an der Uniklinik, 35 Jahre alt, seine dunklen Haare ergrauen schon. Fast jeden Freitag kommt er und setzt sich mit einer Kollegin aus der Rehaklinik ins Arztzimmer.

„Moin, Herr Kuck, wie ist denn die körperliche Verfassung?“, fragt er.

Gerd hat sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gesetzt. „Na ja, nach fünf Schritten bekomme ich oft Schwindel.“ Die beiden Ärzte gehen die Blutwerte durch, Nieren werden schlechter, Belastbarkeit auch, Aortenklappe schwächelt.

„Und wenn wir Ihren Herzschrittmacher auf 90 oder 95 Schläge in der Minute hochstellen, ein bisschen mehr rausholen?“

Gerd schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Dann kann ich nachts nicht mehr pennen”, sagt er. Normalerweise liegt seine Herzfrequenz bei 82. „Man merkt das schon, mal eben 15 Schläge mehr.“

„Das sind die Möglichkeiten, die wir noch haben”, sagt Rojas. Dann wechselt er das Thema. Er und Gerd kennen sich inzwischen gut. Über die Schwestern hat der Arzt mitbekommen, dass Gerd den Mut verliert.

„Was können wir noch für Sie machen? Wenn man beschäftigt ist, hat man weniger Zeit zum Grübeln”, sagt Rojas. „Kunsttherapie, Malen?“
„Nee“, sagt Gerd.
„Computerkurse?“, fragt die Ärztin.
„PC habe ich“, sagt Gerd.
„Es gab mal ein jungen Mann, der bei uns ein Koch-Praktikum gemacht hat“, sagt die Ärztin.
„Ich habe schon umgeschult, einen dritten Beruf wollte ich eigentlich nicht lernen.“
Die Ärzte lachen verlegen.

„Verstehen Sie, Herr Kuck“, setzt Rojas noch einmal an. „Sie haben diese Erkrankung. Und Sie sind intelligent. Das sind genau die Leute, die Probleme bekommen.“
„Ich finde das ganz nett, dass Sie sich so bemühen“, sagt Gerd. „Das löst aber bei mir genau das Gegenteil aus.“ Seine Stimme bebt. „Jetzt sind es 18 Monate HU mit der Zeit 2013. Bei mir ist jetzt eigentlich Feierabend mit Warten!“
Es breitet sich eine lange Stille aus.

„Na gut“, sagt Rojas, um das Gespräch zu beenden.

Gerd ist in diesen Tagen allein. Der Einzige von den vieren, der noch in der Rehaklinik wartet. Seinen Freund Manfred mussten sie wieder nach Hannover bringen. Wie immer, wenn es kritisch wird. „Scheint was Ernsteres zu sein“, schreibt Manfred uns per Whatsapp aus der Uniklinik. „Fieber, Schüttelfrost, etc.“ Infektanzeichen. Aber noch wisse niemand, wo im Körper die Entzündung lauert und welche Bakterien es sind. Dann antwortet er nicht mehr.

Dafür meldet sich Kai per Whatsapp. Er habe sich von der Abstoßung erholt. Sei wieder zu Hause. Fahre sogar wieder Fahrrad.
Gerd weiß nicht, was aus Kai geworden ist. Es interessiert ihn auch nicht. Wenn er in diesen Tagen zum Blutdruckmessen geht, antwortet er nur noch genervt.

„Wie war die Nacht?“, fragt die Schwester. „Dunkel“, sagt er.

„Dieses Alleinsein macht ihn fertig“, sagt seine Frau Insa am Telefon. „Dass nun auch Manfred nicht mehr bei ihm ist. Dieses Gefühl, vergessen worden zu sein.“ Er habe ihr angekündigt, dass er abbrechen wird. „Am 27. Oktober hat er Geburtstag. Am 26. ist Schluss“, sagt sie. „Das wäre die Entscheidung für den Tod.“

In Oldenburg öffnet Insa Tage später die Tür zu ihrem neuen Haus. Stolz zeigt sie die hohe Diele. Die Wände sind noch kahl, die Stimmen hallen. Eine Treppe führt hinauf. „Wenn es ganz schlimm kommt, können wir eine Etage abtrennen und vermieten“, sagt sie.
Aber alles ist für Gerds Rückkehr vorbereitet. Sie haben keine Gardinen, nur Plissees, wegen der Keime. Auch keine Pflanzen. Und einen komplett wischbaren Boden. Gerds Immunsystem wird schwach sein.

Insa weiß, was alles passieren kann. Sie ist gelernte Krankenschwester, heute arbeitet sie in der Sozialberatung einer Klinik, Schwerpunkt Palliativversorgung. Herzpatienten meidet sie, die gehen ihr zu nah.

Einmal war sie mit Gerd auf der Beerdigung eines Mitpatienten. „Das war in einem Friedwald”, sagt sie. „Da hat er mir gesagt, das würde er auch gut finden.“

Ihre Tochter spielt im Wohnzimmer. Sie ist ein selbstständiges und ruhiges Mädchen. Klassensprecherin. Seit dem Winter geht sie zu einer Kindertherapeutin. „Sie macht sich ihre Gedanken übers Sterben“, sagt Insa. „Wenn sie mich weinen sieht, sagt sie: ,Mama, das ist normal, das geht auch wieder vorbei.‘ Schon abgeklärt. Aber es stimmt ja auch.“

Gerds Frau hat sich an das Leben am Abgrund gewöhnt. Nachts legte sie früher die Hand auf ihn, um ihn atmen zu spüren. Aber nie wurde die Angst so groß, dass sie es nicht aushalten konnte. „Dieser Mann ist beeindruckend und großartig, bei aller Starrköpfigkeit. Nicht so ein Normalo.“ Sie machte ihm damals den Antrag. „Er hätte nicht gefragt. Er hätte mich nicht dazu bringen wollen, einen so kranken Mann zu heiraten. Aber andersrum hat er gleich Ja gesagt.“ Sie haben sich eckige Ringe ausgesucht. Weil das Leben nicht immer rund ist.


AUGUST

Nach zwei Wochen endlich eine Whatsapp, ein Lebenszeichen von Manfred, der immer noch in der Uniklinik liegt. Er bekommt reichlich Antibiotika, aber es gehe ihm wieder ganz gut, schreibt er uns. „Wurde ja Zeit.“

Als er zurückkommt, ist es Mitte August. Gerd hat Manfred wieder. Aber beiden macht die Sommerhitze zu schaffen. Sie liegen meist auf ihren Zimmern, Klimaanlage an, Fenster verschattet.

Bei Gerd hat gestern das Telefon geklingelt. Um 23.48 Uhr. Verwählt. „Um die Zeit! Ich dachte, das ist ein Herz. Ich hätte ausrasten können.“
Ein paar Tage später, es ist ein Samstag, klingelt es bei Manfred. Ein Herz, wirklich ein Herz.

Er wird so schnell wie möglich in die Uniklinik gebracht. Die Ärzte informieren auch uns.
Wenige Stunden später. Manfred liegt jetzt auf Station 15, ein paar Stockwerke über den OP-Sälen. Er wartet noch auf das Herz. Trägt ein Krankenhaushemd. Um sein Bett sitzen seine Frau Christina, seine zwei Söhne und seine Schwiegertochter.

„Schade für Gerd, dass ich angerufen wurde”, sagt er. Die beiden haben eben telefoniert. „Er drückt mir die4 Daumen.“ Manfred schüttelt den Kopf, als ob er es nicht fassen könnte. „Ausgerechnet heute Morgen haben wir darüber gesprochen, was ist, wenn ich abgerufen werde. Gerd sagte nur: ,Dann gehe ich gar nicht mehr raus.‘“

Manfreds Frau hat sich an ihn gekuschelt. „Wenn du wieder wach bist, ist alles schön”, sagt sie. Manfred rechnet vor, wie es weitergehen könnte. 10. Oktober: Bad Fallingbostel. 18. November: nach Hause. „Sagen wir, am 1. Advent, Papa”, sagt der jüngere Sohn. Er ist 24. Er streichelt Manfreds Bein.

In diesen Stunden geht irgendwo in diesem Land das Leben eines Menschen zu Ende, der entschieden hat, seine Organe zu spenden. Zwei Herzchirurgen aus Hannover waren am Nachmittag zu ihm geflogen. Der Datenschutz verbietet es, mit auf die Reise zu gehen oder mehr über den Spender zu erfahren. Nur die beteiligten Mitarbeiter dürfen beide Seiten kennen. Das Ärzteteam meldet kurz nach 21 Uhr, dass das Spenderherz in Ordnung ist. Ein paar Minuten später schieben die Pfleger Manfred in den Aufzug zum OP.

Sebastian Rojas, der immer freitags zur Visite in die Rehaklinik kommt, ist einer der drei Chirurgen. Er schaut sich am Computer noch einmal die CT-Bilder von Manfreds Oberkörper an. „Nicht so einfach“, sagt er. „Er ist schon so oft voroperiert.“

Der OP-Saal liegt im vierten Stock. Durch das Fenster blickt man in die Dunkelheit der Stadt. Drinnen ist alles weiß ausgeleuchtet. Manfred liegt schlafend auf dem Tisch. Man sieht nur seinen Oberkörper, Kopf und Beine sind abgedeckt. Neun Menschen versammeln sich um ihn, drei Chirurgen, zwei Anästhesisten, drei OP-Pflegerinnen und ein Kardiotechniker, der die Maschinen bedient.

Das Spenderherz ist noch unterwegs, aber Rojas beginnt schon, durch die Haut an Manfreds Brust zu schneiden. Die Spitze des Skalpells steht unter Strom. Mit ihr brennt sich Rojas durch die Hautschichten. Es riecht verschmort. Mit einer elektrischen Säge zerteilt er das Brustbein. Kurbelt mit einem großen Spreizer Manfreds Brustkorb auseinander. Schiebt damit auch die Lungenflügel beiseite, das Herz liegt zwischen ihnen. Kurz vor Mitternacht klingelt das Telefon in der Saalecke: „Das war das Herz”, sagt ein Pfleger. „Das Team steigt jetzt ins Flugzeug.“

Chef am Tisch ist heute der Chirurg Gregor Warnecke. Er ist Professor, Leiter des Transplantationsprogramms der Uniklinik. Es ist eines der größten Europas. Warnecke hat heute schon zwei anderen Patienten eine neue Lunge transplantiert. Er und Rojas legen nun Manfreds Herz, die umgebenden Gefäße und das Kunstherz frei. Es ist eine mühsame Arbeit mit Pinzette und Skalpell, das Gewebe hat das Kunstherz und die Kabel umwachsen. Überall ist Narbengewebe, sie müssen es vorsichtig vom Herzmuskel und den Gefäßen lösen.

Um 1.54 Uhr schieben zwei Männer eine große Box auf einem Rollwagen in den Saal. Durch das Plexiglas sieht man das Herz, groß wie eine dicke Männerfaust.

Ethiker nennen die Organspende auch das Verteilen von Lebenschancen. Manfreds einzige Chance liegt in dieser Box. Das Herz ist die letzte und größte Spende eines ihm unbekannten Mannes, der keine Chance mehr hatte, aber ihm eine schenkt.

„Wir sind jetzt an der Maschine“, ruft Warnecke in den Saal. Die Maschine, eine Anlage aus Schläuchen, Pumpen und Filtern, überbrückt die Zeit, in der das alte Herz schon außer Funktion gesetzt, das neue aber noch nicht eingepflanzt ist.

Es vergeht eine halbe Stunde, dann greift Warnecke tief in Manfreds Brust. Hebt sein altes Herz heraus. Es ist viel größer als sein neues. Jahrzehntelang hat es alles gegeben. Nun liegt es in einer Stahlschüssel. Erschlafft und flach wie ein Fladen. Manfreds aufgespannter Brustkorb ist leer.

„Geht gleich los, Jungs“, ruft Rojas den beiden Kollegen zu, die das Spenderherz in einer blauen Schüssel bereitgelegt haben. Nur ein Stofftuch bedeckt es.

Um 3.30 Uhr stellt die Schwester das Radiogerät in der Saalecke an. „Lauter bitte“, ruft Warnecke, „sonst werde ich ganz langsam.“

Minuten später legen sie das Herz in Manfreds Brusthöhle. Mit einem blauen Faden vernähen sie es Stück für Stück mit seinem Körper, mit seinen Gefäßen. Um 4.30 Uhr öffnen sie die letzte Klemme. Das Herz füllt sich mit Blut. Es dauert einen kurzen Moment, bis es sich bewegt, bis es pumpt. Von selbst. Wenn ein Herz bekommt, was es braucht, Blut, Nährstoffe und Sauerstoff, schlägt es los.

Am Anfang unregelmäßig. Immer wieder macht es Pausen. Sekundenlang.

Rojas und Warnecke klopfen dann mit ihren Pinzetten dagegen. Bei jedem Stups schlägt es, als würde es sich erschrecken. Sie wissen, dass es Zeit braucht, um Fahrt aufzunehmen. Deswegen läuft die Herz-Lungen-Maschine weiter. Diese Phase ist die entscheidende. Funktionieren Manfred und das Herz gemeinsam?

39 Mal in der Minute schlägt es. Das reicht nicht. Sie vernähen einen Herzschrittmacher, stellen ihn auf 92 Schläge die Minute. Dann geben sie dem Herzen Zeit, sich an den Körper zu gewöhnen und daran, dass es wieder pumpen muss. Rojas und Warnecke machen eine Pause. Lassen Manfred mit offener Brust zurück, der Anästhesist und die OP-Pfleger bleiben im Saal.

Es ist nun kurz nach fünf am Morgen. Warnecke und Rojas sitzen an einem Tisch in einem Technikraum, die Kaffeetassen in ihren Händen. Rojas fallen die Augen zu. Die Stimmung ist gedrückt. „Viel wird davon abhängen, ob Herr Elligsen gleich von der Maschine runterkommt“, sagt Warnecke. Er erinnert sich daran, dass es Diskussionen gab, ob man Manfred in seinem Alter überhaupt auf die HU-Liste setzen soll. Mit 65 wird kaum noch jemand transplantiert. Manfred ist 70, er gehört zu den Ältesten, denen sie hier je ein Herz eingepflanzt haben. „Am Ende haben wir Ärzte ein Sechs-Augen-Prinzip. Zwei waren dafür, einer dagegen“, sagt Warnecke.

Manche Mediziner wollen, dass bei der Verteilung der Organe die Erfolgsaussichten einer Transplantation stärker ins Gewicht fallen. Sie vergleichen es mit einem Katastrophenfall, einer Situation, in der nicht allen geholfen werden kann. Es gibt ein Wort dafür, triagieren. Es stammt aus dem Französischen und bedeutet: sortieren.

Um kurz vor sechs gehen sie zurück in den OP. Draußen über der Stadt wird es hell. Sie schauen auf die Monitore, dann wieder in Manfreds Brustraum. Mit verschränkten Armen stehen sie da. Gucken besorgt. Der Anästhesist hat die Kreislaufmedikamente hochgestellt, das Herz schlägt regelmäßig, aber es erzeugt nicht genügend Druck in den Gefäßen. Und je länger ein Herz nicht gut pumpt, desto eher leiden andere Organe. Die Maschine ersetzt zwar das Pumpen, aber sie kann es nie so gut wie ein Herz. Sie wollen Manfred unbedingt ohne Maschine aus dem Saal schieben.

Sie geben dem Herzen noch einmal Zeit, warten neben Manfred. Rojas fallen immer wieder die Augen zu.

Um 7.55 Uhr sagt Warnecke: „Das ist Mist hier. Letzter Versuch. Noch mal mehr Maschine. Dann schauen wir, ob das Herz richtig anspringt.“ Manfred hat bereits zehn Beutel Spenderblut bekommen. Das ist etwa die Hälfte des Bluts, das durch seinen Körper fließt.
Dann keimt Hoffnung auf. Der Blutdruck steigt, obwohl die Kreislaufmedikamente etwas reduziert wurden. Vorsichtig setzen sie die Leistung der Maschine herab.

Eine Schwester kommt in den Saal. „Der Sohn hat gerade angerufen.“
„Sag ihm, dass wir länger brauchen“, sagt Rojas.

Um 9.10 Uhr ist die Maschine aus. Das Herz hat es doch noch geschafft.
Sie lösen die Schläuche der Maschine, ziehen die mit Blut getränkten Tücher aus Manfreds Oberkörper. Drehen die Kurbel, die seinen Brustkorb offen hält, die Rippenbögen schließen sich. Sie nähen sie mit einem Draht aus Titan zusammen. Mit einem Faden verschließen sie die Haut. Um kurz nach elf Uhr schieben sie Manfred auf die Intensivstation.

Es war eine lange Transplantation, fast elf Stunden. Die Belastung für Manfreds Organe war groß. Sein Gesicht ist aufgequollen, wie immer, wenn ein Patient während der Transplantation an der Herz-Lungen-Maschine liegt. Aber auch Manfreds Nieren haben Probleme bekommen.

Nur drei Tage vergehen. Manfred kämpft noch auf der Intensivstation. Da klingelt auch Gerds Telefon. Um 3.20 Uhr, mitten in der Nacht, schreibt er uns eine Whatsapp: „es geht los“.

Als Stunden später die Sonne aufgeht, liegt er in einem Vier-Bett-Zimmer in der Uniklinik und wartet auf die OP. „Manfred und er machen es zusammen“, sagt Gerds Frau. Sie hält seine Hand.
„Ist das nicht toll?“

Eine Krankenschwester kommt durch die Tür, Ayse, eine alte Bekannte aus Gerds langer Klinikzeit. Sie ist über die Jahre eine Freundin geworden. Sie hat Tränen in den Augen. „Ach, Katze, ich fass es nicht!“, sagt sie.

Katze ist sein Spitzname hier. Gerd hatte damals einen Mitpatienten namens Maus. Mit dem ging er im Foyer immer spazieren. Maus war langsam. Gerd noch schnell. Also Katze.

Gegen Mittag kommt Professor Warnecke ins Zimmer, stellt sich vor Gerds Bett. „Wir müssen noch abwarten, was unser Team vor Ort sagt. Es gibt immer Gründe, warum ein Herz eine Macke haben kann.“

Gegen 16 Uhr klopft Manfreds Frau Christina. Sie will ihm Glück wünschen. „Gerd“, sagt sie, „das werde ich gleich alles Manne erzählen. Der bekommt das mit. Der freut sich.“ Den Glücks-Teddy, den Manfred aus dem Fenster werfen wollte, hatte sie am Sonntag vor Gerds Tür gestellt. Gerd wollte den Teddy aber nicht, jetzt sitzt er in einem Sessel auf dem Flur der Rehaklinik.

Christina sieht müde aus. Die Sorgen um Manfred zehren an ihr. „Ich habe nie so an den Spender gedacht. Aber jetzt. Der hat das so gewollt. Das ist toll.“ Gerd nickt und schließt die Augen.

Immer noch keine Nachricht vom Herzen. Jedes Mal, wenn auf dem Flur die automatische Tür zu hören ist, schauen alle in die Richtung. „Nicht, dass die jetzt anrufen und sagen: ,Is nich!‘“, sagt Gerd. „Na ja, es hat doch immer alles länger gedauert“, sagt Insa.

Um 18 Uhr kommt eine Schwester ins Zimmer, nur um zu sagen, dass sie nichts wisse. Gerd schaut aus dem Fenster auf die Krankenhausdächer.

Dann steht Rojas vorm Bett. „Wir akzeptieren das Herz jetzt. Nehmen das raus. Machen ein paar Messungen.“ Gerd und Insa küssen sich. Er lacht. „Ab morgen habe ich wieder Puls.“

Sie schieben ihn in den Einleitungsraum, wo die Anästhesisten auf ihn warten. „Schlaf gut, Katze“, ruft ihm Schwester Ayse hinterher. Sie ziehen Gerd eine grüne Haube über den Kopf. Insa hält seine Hand. Dann schließt sich die Tür.

Zwei Minuten später kommt Insa weinend aus der Schleuse. „Er hat gesagt: Das Leben geht weiter. Damit meint er: auch ohne ihn.“ Eine Ärztin streicht Insa über die Schulter: „Der schafft das!“

Insa fährt nach Hause, sie will heute mit ihrer Tochter in einem Bett schlafen. Sie rechnet erst am frühen Morgen mit einem Anruf.

Doch in der Klinik vergehen Stunden, ohne dass etwas passiert. Gerd liegt immer noch im Einleitungsraum, die Tür bleibt verschlossen. Kurz nach 22 Uhr, das stern-Team ruft Doktor Rojas an. „Wir haben gerade das Herz abgesagt”, sagt er. „Das Team hatte alles fertig für den Transport. Aber es war einfach nicht gut genug. Der rechte Ventrikel war etwas vergrößert. Das Herz hatte Probleme.“ So knapp habe er es auch noch nie erlebt.

Und Gerd? „Der will erst einmal mit niemandem auf dieser Welt reden. Das habe ich auch seiner Frau gesagt.“
Sie organisieren Gerd ein Zimmer auf Schwester Ayses Station. Und Pizza und Bier.

Und nun? „Man muss das Positive sehen“, sagt Rojas. „Er steht jetzt oben auf der Liste.“

Sechs Tage später sitzt Gerd in Bad Fallingbostel auf der Terrasse. Insa war die vergangenen Tage bei ihm. Hat ihn aufgebaut. Gerd sagt schon Sätze wie: „Lieber so, als dass es mit einem schlechten Herzen in die Hose geht.“

In der Kantine gibt es heute Spaghetti Bolognese. Ein recht neuer HU-Patient setzt sich zu Gerd. „Mann, Mann, Mann”, sagt der Neue. „Bin jetzt schon in der achten Woche.“ Gerd sagt nichts.

Draußen kündigt sich der Herbst an, fast zehn Monate hat er nun wieder voll. Von Manfred hat er lange nichts gehört. „Geht aufwärts, glaube ich”, sagt er. „Aber seine Frau würde mir auch nicht alles sagen, um mir keine Angst zu machen.“

In Wahrheit geht es Manfred schlecht. In den ersten Tagen nach der Transplantation schien er sich zu erholen. Die Ärzte zogen den Beatmungsschlauch aus seinem Hals. Aber nun wird er wieder schwächer. Seine Frau Christina schreibt uns: „Es ist wie in einem Albtraum.“ Seine Lunge arbeite nicht mehr gut. Die Ärzte hätten sogar die Herz-Lungen-Maschine wieder anschließen müssen. Außerdem arbeiteten seine Nieren nicht. Vor allem aber erlahme sein Darm. Verdacht auf Darmverschluss. Wieder eine OP, dieses Mal schneiden sie unten am Bauch auf. „Das ist alles eine Katastrophe”, schreibt Christina.
Gerd erfährt davon nichts.

Doktor Rojas fährt nach Bad Fallingbostel, um Gerd aufzumuntern. Er kocht für die HU-Patienten. Es gibt Rinderfiletstreifen und Salat. Danach Crème brûlée.


SEPTEMBER

5. September, 4.30 Uhr. Gerd schreibt uns eine Whatsapp: „Hallo, es ist wieder soweit. Zweiter Versuch“.

Er wartet im selben Zimmer wie voriges Mal. Im Bett schräg gegenüber liegt ein Mann von Mitte 40. Ein drahtiger Typ, sehr sportlich. Er ist seit zwei Jahren krank. War Unternehmer, jetzt ist er ein Sozialfall. Die Ärzte wollen ihm ein Kunstherz verpassen. Er schaut Gerd und seinen Kasten am Gürtel an wie ein Tier im Zoo. „Sie sind der Erste, bei dem ich das so live sehe. Wie schwer ist das?“ – „Zwei Kilo. Aber ich hoffe, dass ich es morgen los bin“, sagt Gerd.

Ein paar Stunden später tritt Professor Warnecke durch die Tür. „Gutes Herz!“, sagt er. „Ich hab auch richtig Bock zu operieren heute.“ Warnecke konnte ausschlafen. „Das sind doch schon mal die besten Voraussetzungen”, sagt Gerd. „Aber richtig freuen will ich mich erst, wenn die OP-Tür aufgeht.“

Sie schieben ihn nach unten. Wieder verabschiedet sich Insa im Einleitungsraum. Sie kommt heraus, schaut noch einmal zurück, dann schließt sich die Tür. „Diesmal hat er wenigstens nicht gesagt, dass das Leben für mich weitergeht”, sagt sie. „Er wollte mir letztes Mal die Erlaubnis geben, normal weiterzuleben, wenn er nicht mehr ist.“ Sie weint und lächelt.

Dieses Mal habe sie noch stärker seine Angst gespürt, sagt sie, seinen kalten Schweiß. Er habe gezittert. Gerd weiß inzwischen, wie es Manfred geht.

Um 14 Uhr liegt Gerd auf dem OP-Tisch. „Boah, war der erleichtert, als er endlich eingeschlafen ist“, sagt die OP-Schwester.
Die Chirurgen beginnen ihre Arbeit.

Die Stimmung ist gut. Sie unterhalten sich über Gebrauchtwagen und die Führerscheinprüfung eines syrischen Kollegen, während sie Gerds Gefäße freilegen.

In den Nachrichten ist in diesen Tagen wieder von einem Skandal die Rede. In Essen soll ein angesehener Chirurg Patienten Lebern transplantiert haben, die es wohl gar nicht nötig hatten. Warum, ist noch unklar. „Scheiße, das macht wieder so viel zunichte”, sagt Warnecke, während er mit dem Skalpell um Gerds altes Herz herum schneidet.

Immerhin greifen offenbar die Kontrollen, die nach dem Göttinger Skandal eingeführt wurden. Dort hatte vor Jahren ein Arzt Patienten in den Akten kränker gemacht, als sie waren, um an Organe zu kommen. Nun werden die Akten regelmäßig von externen Fachleuten auf Plausibilität geprüft. So fielen die Essener Fälle auf.

Um 16.30 Uhr kommen zwei Chirurgen mit der Box herein. Einer der beiden ist Italiener, bekannt für seine Witze. Er hat zum Einmarsch einen „Südtiroler Jodler“ auf seinem Tablet-Computer angestellt und tanzt dazu mit dem Herz in den Saal.

Doch plötzlich bricht Hektik aus. Gerds Brustkorb füllt sich mit Blut. Es ist der Moment, als Warnecke den alten Herzschrittmacher herauszieht. Sie stellen alle Sauger in Gerds Brusthöhle auf maximale Kraft. Wenn die großen Gefäße rund ums Herz beschädigt werden, kann ein Mensch innerhalb von Minuten verbluten. „Jetzt muss das hier funktionieren!“, ruft Warnecke und greift tief in den Blutsee. Sucht nach dem Leck. Wahrscheinlich hat sich beim Rausziehen des Schrittmachers eine Kanüle von einer großen Vene gelöst. Warnecke bekommt sie zu packen, befestigt sie wieder. Die Sauger pumpen den See aus Blut aus Gerds Brustkorb. Eine Minute später ist wieder Ruhe eingekehrt.

Um 17.15 Uhr legt Warnecke Gerds altes Herz in eine Stahlschüssel. An den Rändern ist es schwarz, vom Stromskalpell versengt. Das neue Herz liegt bereit. Es ist groß genug für Gerd. Und es schimmert rosig.

Warnecke näht die Hauptschlagader am neuen Herzen fest, drückt auf das Organ, schüttelt es, damit alle Luft entweicht. Er sticht mit einer Nadel oben in die Herzspitze, wartet, bis nach Sekunden nur noch Blut aus dem Loch heraussprudelt, dann näht er das Loch zu.

Um 18.40 Uhr macht das neue Herz seinen ersten Schlag. Gelbes Abendlicht scheint durch die Fenster. Warnecke trinkt seinen Kaffee. Dieses Mal wirkt er optimistischer. Gerds Werte sind besser, als es Manfreds waren. Schon eine halbe Stunde später beginnt der Kardiotechniker, die Maschine zurückzufahren. „Aber bitte mit viel Liebe”, ruft ihm die Anästhesistin zu. „Sieht schön aus“, sagt die Chirurgin.

Die Maschine ist aus, Gerd und das Herz schaffen es schnell allein.
Kurz vor 23 Uhr bringen sie Gerd auf die Intensivstation. Alle sind gelöst.

Manfred und Gerd liegen nun wieder auf demselben Flur. Zwischen ihnen nur ein paar Zimmer.
„Es fühlt sich alles so unwirklich an“, schreibt uns Gerds Frau per SMS am Mittag danach.

Die beiden Frauen tun sich zusammen. Manfred und seine Christina wohnen in Langenhagen, nördlich von Hannover. Gerds Frau brauchte aus Oldenburg fast drei Stunden mit dem Auto. Also lässt Christina sie bei sich schlafen.

Fünf Tage nach Gerds Transplantation sitzen die beiden am Frühstückstisch. Am Nachmittag fahren sie wieder zu ihren Männern. Manfred so zu sehen koste sie Kraft, sagt Christina. „Bevor ich zu ihm hochgehe, trinke ich einen Kaffee oder wasche mir besonders lang die Hände.“ An dem einen Tag hätten die Ärzte sie gebeten, ihre Söhne zu rufen. „Da dachte ich schon, das war’s.“ Sie spricht leise.

Insa schaut sie traurig an. Bei ihrem Gerd haben sie den Beatmungsschlauch drei Tage nach der OP gezogen, er schafft es allein. Er sehe immer noch aus wie ein Michelin-Männchen, sagt sie, so viel Wasser habe sich eingelagert. „Aber er hat den Daumen gehoben, als er das erste Mal wach war.“ Und nach dem ersten Zähneputzen habe er ihr gesagt: „Küss mich jetzt!“

Bislang nahmen die beiden Familien den gleichen Weg. Das schweißte sie zusammen. Nun, da sich die Verläufe unterscheiden, spürt man die Vorsicht, mit der Insa von den kleinen Erfolgen berichtet.

Die beiden erzählen, dass sie gestern Abend mit einem Hugo vor dem Fernseher saßen, ein bisschen Ablenkung, doch ausgerechnet dann diskutierte Anne Will über Organspende. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte die Debatte ausgelöst. Die Zahl der Spender ist im Laufe des Jahres 2018 zwar gestiegen, aber es sind immer noch viel zu wenige. Spahn will, dass jeder Mensch automatisch Spender ist, wenn er nicht zu Lebzeiten widersprochen hat und seine Angehörigen nicht dagegen sind.

Insa und Christina geht das zu weit. Sie beide tragen zwar einen Spenderausweis bei sich. „Aber ich würde die Leute nicht zwingen wollen”, sagt Christina. Beide wünschen sich, dass die Menschen, wenn sie das nächste Mal einen Personalausweis beantragen, einen Zettel mitbekommen, der sie über Transplantationen aufklärt. Und wenn sie ihren neuen Ausweis abholen, dann sollen sie ein Kreuz machen müssen. Ja oder nein. Und wenn sie es ändern wollen, dann sollen sie wiederkommen.

Christina führt durchs Haus. Sie leben am Stadtrand, nahe am Wald und an einem Teich. Christina hält die Stille zu Hause schwer aus. „Am Anfang riefen noch alle möglichen Leute an“, sagt sie, „aber jetzt blinkt abends nicht mal mehr der Anrufbeantworter.“
An den Wänden hängen Malereien von Manfred. Farbenfrohe Bilder. Eine Frau, die mit einem Schirm durch den Regen läuft. Und im Wohnzimmer ein edel gekleidetes Paar. Er hält sie fest im Arm.

„Mir fehlt Manne so sehr“, sagt Christina. Einer ihrer Söhne habe gesagt: „Mama, wir werden uns immer um euch kümmern.“ Christina presst die Lippen zusammen. „Das klingt fast, als wäre ich bald alleine.“ Manfred ist zwar wieder stabil. Aber noch immer bekommt er Morphin, hängt jede Nacht an der Dialyse, braucht immer wieder die Beatmungsmaschine.

Es ist ein wochenlanges Auf und Ab. Mal schreibt Christina: „Es geht langsam vorwärts. Ich bin mir sicher, dass er es schafft.“ Und dann: „Gestern früh musste Manne reanimiert werden. Es geht ihm aber besser.“

Gerd wird eine Woche nach der Operation von der Intensiv- auf eine Beobachtungsstation verlegt.

Ende September nimmt er das Handy wieder selbst in die Hand: „Hallo, jetzt geht’s mir schon wieder besser. Kleine Schritte aber in die richtige Richtung“.


OKTOBER

Tage später tritt er aus der Uniklinik in die Herbstsonne. Der Wind bläst ihm ins Gesicht. „Herrlich!”, sagt er. Er hält sich an einem Rollator fest, trägt Kittel und Mundschutz, um sich vor Keimen zu schützen. Seine Schritte sind klein. Er ist dünn geworden. Sein Gewicht schoss von 91 Kilogramm vor der OP auf fast 120 danach. Jetzt ist das Wasser wieder raus, und er wiegt 83. „Pommesbeine”, sagt er.

Das erste Mal seit Jahren führt kein Schlauch und kein Kabel mehr in seinen Körper. Er wollte gar nicht mehr aus der Dusche raus.
Seine Hände zittern noch. „Das sind die Immunsuppressiva, damit mein Körper das Herz nicht abstößt. Ich lass mir den Kaffee jetzt nur halb voll geben.“

Ein alter Freund ist zu Besuch, auch Kunstherz-Träger. Die beiden gehen Richtung Bistro. „Hast du von Manfred gehört?”, fragt der Freund. „Nee, was denn?“ – „Der hat dieses Sprechgerät für den Hals bekommen, womit er jetzt wieder reden kann. Und weißt du, was sein erster Satz zu Christina war?“ – „Ich liebe dich?“, fragt Gerd. „Nein. ,Ich will Fanta!‘ Ist das nicht geil?“ Die beiden lachen. Aber Gerds Augen werden rot.

Manfred liegt Wochen später immer noch auf Intensiv. Zimmer 14. Er kann sich kaum rühren. Christina ist an seiner Seite. Mit aller Kraft dreht er seinen Kopf. Sprechen kann er gerade nicht. Aber seine Augen schauen wach. Christina will DVDs für den Fernseher im Zimmer organisieren. Wir sprechen ihm Mut zu, dass die offenen Stellen an seinem Bein hoffentlich schnell verheilen. Ob er denn von Gerd wisse? Er nickt. Auch dass er schon auf Reha ist? Er nickt wieder. Und schließt fest die Augen. Es ist ein Zeichen der Freude.

Gerd schickt uns ein paar Tage danach Fotos von seinem luxuriösen Zimmer samt Ledercouch und Teichblick. „So schön kann Reha sein“. Auf Whatsapp ändert er seinen Status. Vorher stand da „Unter Strom“, jetzt „Ohne Akkus“. Die Tage in der Reha füllen sich mit Massagen, Moorpackungen, Ergometer-Training, Treppenlaufen. Er feiert seinen 52. Geburtstag. Dieses Mal gehört er zu jenen, die nach drei Wochen die Koffer packen.

Am 31. Oktober – 359 Tage nachdem Gerd den Rohbau seines Hauses verließ – kommt er wieder heim. Er meldet sich per Videoanruf aus dem Esszimmer: „Ja, hier bin ich”, sagt er in die Kamera. „Wir haben alle drei gerade geweint. Ich bin erst mal durch alle Zimmer.“ Im Gesicht sieht er wieder etwas fülliger aus. Gleich soll es Schnitzel mit Pommes geben. Seine Tochter kocht. Und abends wollen sie dann raus auf die Straße. Halloween feiern. „Ich nehme meinen Mundschutz mit. Dann bin ich eben der Krankenhausgeist.“ Die drei lachen.


NOVEMBER

Ein Telefonat mit Gerd. Er überlegt, der Spenderfamilie bald einen Brief zu schreiben. In Berlin arbeiten die Politiker gerade an einem Gesetz, das der Deutschen Stiftung Organtransplantation erlauben soll, solche Briefe in anonymer Form weiterzuleiten. „Aber die Gedanken müssen sich eh noch setzen“, sagt Gerd. Er weiß nichts von seinem Spender. Aber er fragt sich, wie es dessen Familie geht.

Im Schnitt leben Herztransplantierte nach ihrer OP noch etwa zehn Jahre. Sieben von zehn Transplantierten schaffen zumindest drei. Gerd hat sich schnell erholt. Und er ist vorsichtig. Er mag sich nicht vorstellen, dass er noch einmal ein Herz brauchen könnte.

Mit Manfreds Frau habe er gerade wenig Kontakt. Es falle ihm schwer. Ihm selbst gehe es ja so gut. „Aber Manfred“, sagt Gerd.

Die Adventszeit beginnt. Manfred liegt immer noch auf Intensiv. Christina schreibt uns, sie hoffe, dass er im Frühjahr nach Hause komme. Es gehe gerade aufwärts.


DEZEMBER

Gerd schmeißt Anfang Dezember eine Party. Es gibt Wein und Bier. Gerd bekommt Fresskörbe in Klarsichtfolie geschenkt. Die Leute lauschen, als er von seinem Jahr in einer anderen Welt erzählt. Es sind alte Freunde und Bekannte, niemand aus der Klinikzeit.

Eine Woche später schreibt Christina eine Nachricht: „Mein Manne ist gestern eingeschlafen. Wir sind unendlich traurig.“

Seine Bauchspeicheldrüse hatte sich entzündet. „Es passierte innerhalb von zwei Tagen”, sagt Christina später am Telefon. Als er das letzte Mal wach war, habe er sie an der Hand gestreichelt. „Das hat er so nie gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass er sich da verabschiedet hat.“
Sie sagt: „Wer weiß, was passiert wäre, wenn es früher ein Herz für ihn gegeben hätte?“ Für vieles müsse man aber auch dankbar sein. „Früher habe ich gebetet: Guter Gott, lass ihn so lange leben, bis die Kinder erwachsen sind.“ Das hat er geschafft.
Nur mit ihren Söhnen und deren Partnerinnen trägt sie Manfred zu Grabe, drei Tage vor Heiligabend.


HEUTE

Vier Menschen auf einem Flur waren sie. Vom Zufall zusammengewürfelt. Drei Menschen mit einem neuen Herzen sind sie nun. Wieder zerstreut über das Land.
Kaum etwas wissen sie noch voneinander.

Nadja geht es gesundheitlich gut. Ihr Sohn lebt noch bei seinem Vater. Der Streit um ihn hat sie aufgerieben. Vor Gericht hat sie durchgesetzt, dass sie ihn nun regelmäßig sehen darf.

Auch Kai ist fit geblieben. Nur etwas zugenommen hat er über den Winter. Er freut sich aufs Frühjahr, wenn er mit seiner Tochter ins Freibad gehen kann.

Und Gerd hat Ende Januar wieder angefangen zu arbeiten. Im Einzelbüro, damit er sich nicht bei jedem hustenden Kollegen ansteckt. Sein Mut nimmt langsam zu. Er hat sogar schon ein Basketballspiel besucht. In einer Halle mit fast 6000 Menschen.
Wenn man ihn nach Manfred fragt, erzählt er, dass die beiden Frauen oft miteinander telefonieren. Und er sagt: „Wir waren die beiden letzten. Wir waren uns ganz nah.“
Sein Herz schlägt nun durchschnittlich 79 Mal in der Minute, es hat sich an Gerd gewöhnt. „Ich fühle eine tiefe Demut“, sagt er. „Ich werde auf das Herz aufpassen.“