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True Story Award 2021

I don't want to die!

»Ich will nicht sterben!« Das schrieb John Chau vor seinem Tod im November 2018 in sein Tagebuch. Der Missionar versuchte die Bewohner einer abgelegenen Insel zum Christentum zu bekehren. Sie erschossen ihn mit Pfeilen. Eine Geschichte über einen getriebenen Mann und ein einsames Volk.

14. November 2018, Port Blair [Hauptstadt der Andamanen, Indien]

Ich bin in einer geheimen Wohnung in Port Blair, seit elf Tagen. In dieser Wohnung festzustecken hieß für mich auch, kein richtiges Sonnenlicht zu sehen, und meine schöne Bräunung hat begonnen zu verschwinden, auch die dicke Hornhaut an meinen Füßen.
Ich habe mich fit gehalten, indem ich Liegestütze, Beinkicks und Kniebeugen gemacht habe. Viel Zeit habe ich mit Beten und Lesen verbracht.

Gestern Abend habe ich die Fischer getroffen, sie sind alle gläubig. Es lief gut – ich vertraue ihnen, auch wenn es eine ziemliche Sprachbarriere gibt; der Heilige Geist wird uns leiten.
Gott, ich danke Dir, dass Du mich auserwählt hast, der Überbringer Deiner frohen Botschaft zu sein für die Menschen von der Insel North Sentinel.
Der Plan ist, heute Abend aufzubrechen und gegen vier Uhr die Küste zu erreichen. Von dort werde ich über die nächsten vier Tage schrittweise Kontakt aufnehmen, mit Fischen und Geschenken.

Soli Deo Gloria!
– John Chau

Ein zehnspuriger Highway am Rande von Kansas City in den USA, ein steinerner Flachbau, auf dessen Fassade in weißen Lettern »Church« steht, Kirche. Frauen in Abendkleidern und Männer in Anzügen steigen aus ihren Autos und reihen sich ein in eine lange Schlange. Es ist der 5. April 2019. Vierhundert Menschen haben sich angemeldet zur Gedenkfeier für John Chau, der knapp fünf Monate zuvor getötet wurde, mit 26 Jahren.

Man erwartet Trauernde. Stattdessen: lautes Lachen, Umarmungen, Wiedersehensfreude. Im Innern ein dunkler Saal mit großer Bühne, Lautsprecherboxen, Scheinwerferlicht. An einem Stand werden T-Shirts verkauft wie auf einem Popkonzert, sie tragen den Aufdruck: »Jesus ist es wert – trotze der Angst«. Flyer für Workshops, zu denen man sich anmelden kann, liegen aus, zum Beispiel: »Wie du deine muslimischen Nachbarn erreichst«.

Ein Pärchen tritt auf die Bühne, die beiden haben ein paar Jahre als Missionare in Jordanien gelebt. Der Mann sagt: »John Chau hat seine Angst überwunden, um nach North Sentinel Island zu gehen. Er wollte zwischen den Sentinelesen leben. Er wollte ihr Freund und ihr Bruder werden. Aber kurz nachdem er ankam, bezahlte John den höchsten Preis.«

Die Frau sagt: »Wir sind so geehrt, dass wir ihn ausbilden und entsenden konnten. Er war der erfolgreichste Mann, den ich je gekannt habe.«

Für die Menschen, die sich hier treffen, hat John Chau fast den Status eines Heiligen – für sie kann es kein Zufall sein, dass er dieselben Initialen trägt wie ihr Erlöser. JC.

Nach seinem Tod schrieben Zeitungen rund um die Welt über John Chau, fasziniert von dieser Erzählung, die klang wie aus einem vergangenen Jahrhundert: Indische Ureinwohner töten amerikanischen Missionar mit Pfeil und Bogen.

Eingeladen zur Gedenkfeier in Kansas hat All Nations, eine evangelikale Missionsagentur. Sie war, so könnte man es sagen, John Chaus Arbeitgeber, sie hatte ihn als Missionar engagiert.

All Nations spricht ungern mit Journalisten. Auch an diesem Abend sind Medienvertreter nicht willkommen. Man kann nur hoffen, dass keinem auffällt, dass eine Journalistin aus Deutschland anwesend ist.

Es geht an diesem Abend viel um John Chau. Aber nicht nur. Es geht auch darum, 250.000 Dollar zu sammeln, um weitere Missionare in die Welt zu schicken, zu »Unerreichten«, wie All Nations jene Menschen nennt, die nichts von Jesus Christus wissen. Indianerstämme am Amazonas, Hirtenvölker in Westafrika, Nomaden in der asiatischen Taiga.

John Chau hatte sich die Superlativ-Mission ausgesucht: Er wollte eines der isoliertesten Völker der Erde bekehren. Ein Volk von Jägern und Sammlern, das seit Jahrtausenden auf einer einsamen Insel im Indischen Ozean lebt und sich von Fischen und Wildschweinen ernährt. Ein Volk, das den Ruf hat, jeden, der diese Insel betritt, zu töten. Ein Volk, über das man ansonsten kaum etwas weiß: Niemand kann sagen, welche Sprache diese Menschen sprechen, an welche Götter sie glauben, wie viele von ihnen es überhaupt gibt. Es ist gesetzlich verboten, ihre Insel zu betreten. Sie ist einer der letzten unerkundeten Orte in einer Meter für Meter durchkartografierten Welt. Für Anthropologen ist die Existenz der Sentinelesen ein Wunder. Für einen evangelikalen Missionar wie John Chau war es die ultimative Herausforderung.


Tagebuch, 15. November 2018, North Sentinel, 5.30 Uhr

Bin gerade auf dem Boot [der Fischer, Anm. d. Red.]. Gestern Abend gegen 20 Uhr abgereist. Als wir die Ostküste entlangfuhren, sahen wir Bootslichter in der Ferne und wichen ihnen aus.
Gott selbst beschützte uns vor den Patrouillen der Küstenwache und der Marine.

Um 4.30 Uhr liefen wir in die Bucht ein, und als die Sonne begann, den Osten der Insel zu beleuchten, sprangen ich und zwei der Männer ins seichte Wasser.
Die toten Korallen sind scharf, und ich habe schon einen kleinen Kratzer an meinem rechten Bein. Jetzt sehen wir eine Hütte von sentinelesischen Insulanern, und wir warten, dass sie rauskommen.

Am 21. November 2018, wenige Tage nach John Chaus Tod, postete John Middleton Ramsey ein Foto auf Instagram. Es zeigt ihn selbst und John Chau, Arm in Arm, beide mit Sonnenbrille im Haar, im Hintergrund die trockene und weite Landschaft der Golanhöhen im Nahen Osten. Darunter schreibt er: »Unser lieber Freund John starb als Märtyrer (...). Es ist ein Trost, zu wissen, dass du bei Gott bist, aber wir werden dich vermissen.«

In den Stunden und Tagen danach gingen mehr als 600 Kommentare bei Ramsey ein. Er und John Chau wurden als »Zombie-Christenroboter« beschimpft, als »ignorante Amerikaner«, als »Scheiß-Schwachköpfe«. Scrollt man durch die Kommentare, erkennt man zwei Lager. Das eine, eher kleine bilden jene, die John Chau verteidigen. Das andere, sehr viel größere besteht aus denen, die ihn verachten und verurteilen, auch unter ihnen sind Christen.

Sie stehen auf den zwei Seiten einer Debatte, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder neu geführt wird: Wie ist mit Völkern umzugehen, die außerhalb der industrialisierten Zivilisation stehen? Sollten sie unangetastet bleiben wie Ausstellungsstücke in Museen – Berühren verboten! –, um so ihre Kultur zu erhalten? Oder ist das unverantwortlich, weil ihnen damit ein modernes Leben verweigert wird, ein Leben mit Bildung und medizinischer Versorgung?

Im Norden von Köln öffnet John Ramsey die Tür zu der WG, in der er seit ein paar Monaten lebt. Er trägt weißes Hemd und Jackett, gerade hat er einen langen Arbeitstag hinter sich. Ramseys Mutter ist Deutsche, sein Vater Amerikaner, beide sind tiefgläubige Christen, er wuchs in Japan und den USA auf, ging nie zur Schule, weil seine Mutter ihn zu Hause unterrichtete, begann sein Studium mit 15, seinen ersten Job als Makler mit 20. Jetzt ist er 23 und arbeitet für die Immobilienagentur seines deutschen Onkels.

Ramsey lernte John Chau im Sommer 2015 auf einer Israel-Rundreise für junge amerikanische Christen kennen. Als sie sich am Flughafen begegneten, dachte Ramsey, dass Chau sich wohl für einen besonders coolen Typen halte. »Er war anfangs nicht sehr offen«, sagt Ramsey. Dann begriff er, dass Chau einfach etwas schüchtern war.

Der lange John Ramsey und der kleine John Chau freundeten sich an, sie fuhren auf Fahrrädern die Promenade von Tel Aviv entlang, besuchten den See Genezareth, Jerusalem, die Golanhöhen.

Später, nach der Reise, fuhr Chau immer wieder zu Ramsey, der damals mit seinen Eltern und Geschwistern in der Nähe von Seattle lebte. Bei einem seiner Besuche weihte Chau die Ramseys in seinen Plan ein. Er erzählte davon, wie feindlich sich die Sentinelesen gegenüber Fremden verhielten und dass er sie erlösen wolle.

Chau sagte damals, seine eigene Familie stehe seinen Plänen kritisch gegenüber. Deshalb bat er Ramseys Mutter um Hilfe. Auf etwa zehn Seiten Papier hatte er seinen Lebenslauf aufgeschrieben sowie alles, was er über die Sentinelesen wusste. Ramseys Mutter, eine gelernte Redakteurin, überarbeitete den Text, dann schickte Chau ihn nach Kansas City.
Es war seine Bewerbung für All Nations.


Brief von John Chau an seine Geschwister und Eltern, geschrieben auf North Sentinel Island

Brian und Marilyn und Mom und Dad,
Ihr denkt vielleicht, dass ich verrückt bin mit dieser ganzen Sache, aber ich glaube, dass es das wert ist, diesen Menschen die frohe Botschaft zu verkünden. Bitte, seid nicht böse auf sie oder auf Gott, falls ich getötet werde. Dies ist keine sinnlose Sache – das ewige Leben dieses Stammes ist zum Greifen nahe, und ich kann es kaum erwarten, sie um Gottes Thron versammelt zu sehen.
Ich liebe Euch alle.

John Chau wuchs im Nordwesten der USA auf, in einem Ort namens Vancouver im Bundesstaat Washington. Nach Portland, der nächstgelegenen Großstadt, braucht man mit dem Auto 20 Minuten. Es ist eine Gegend voller Wälder und Nationalparks, nicht weit vom Meer.

Das Haus der Familie Chau liegt am Ende einer breiten Straße in einem Viertel, in dem im Frühjahr die Kirschbäume blühen. Zwei Stockwerke, drei Garagentore, ein gepflegter Vorgarten, in dem ein Springbrunnen plätschert. Ein Fußabtreter mit den Worten: »Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen. Josua 24:15«. Spinnweben überziehen die Klingel, offenbar ist länger kein Besuch mehr hier gewesen. Auch nach mehrmaligem Läuten öffnet niemand.

Durch die großen Fenster sieht man ein Stillleben des Wohlstands: ein Kamin, ein Klavier, an den Wänden gerahmte Familienfotos von lächelnden Eltern mit lächelnden Kindern. Es ist eine Wäre-Idylle. Wäre da nicht das Wissen um John Chaus Tod.
Auf eine Mailanfrage, ob er und seine Frau bereit seien, sich zu einem Gespräch zu treffen, antwortet Patrick Chau, der Vater: »Danke, ich möchte nicht.«

Auch wenn es nicht möglich ist, mit John Chaus Eltern über seine Kindheit und Jugend zu sprechen und darüber, wie es kam, dass die Sentinelesen zu seiner Obsession wurden, so lässt sich sein Leben doch in weiten Teilen rekonstruieren: aus Gesprächen mit Freunden und Weggefährten und aus den unzähligen Spuren, die John Chau im Internet hinterlassen hat – seinem Blog, den vielen Videos, seinen Facebook- und Instagram-Posts.

John Chau ist als jüngstes von drei Kindern aufgewachsen, er hat einen Bruder, Brian, und eine Schwester, Marilyn. Die Eltern sind Lynda und Patrick Chau, sie eine amerikanische Anwältin, strenggläubig, er ein chinesischer Psychiater, der während Maos Kulturrevolution aus China floh. John Chau hat auf seinem Instagram-Account Fotos aus seiner Kindheit hochgeladen: Familienausflüge in die Berge, Urlaub im Yellowstone-Nationalpark, er mit seinen Geschwistern und Eltern am Meer.

John besucht eine christliche Privatschule. Als Kind liest er Robinson Crusoe, die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der Jahrzehnte auf einer einsamen Insel verbringt – und dort auf einen Ureinwohner trifft und ihn missioniert. Er wolle später auch so leben, soll der zehnjährige John seinem Vater gesagt haben.

Mit 16 fährt John Chau gemeinsam mit Schulkameraden nach Mexiko, um dort mitzuhelfen, ein Waisenhaus aufzubauen. Es gibt ein Video davon, wie er von dieser Reise erzählt, die für ihn eine Art Erweckungserlebnis gewesen sein muss. Etwas nervös steht er vor seinem Publikum, ein sportlicher Jugendlicher in Poloshirt und Jeans, der sagt: »Wir können uns nicht einfach Christen nennen und dann am nächsten Tag feiern gehen, uns zudröhnen, uns besaufen – und ein Leben leben, das total dem widerspricht, wozu Christus uns berufen hat.«

Dann zitiert er aus der Bibel: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.«

Dieser sogenannte Missionsbefehl aus dem Matthäusevangelium – für evangelikale Christen wie John Chau ist er die Rechtfertigung, gar eine Aufforderung, überall auf der Welt die Menschen zum Christentum zu bekehren.

Noch als Schüler beginnt John Chau, im Internet nach den entlegensten Orten der Welt zu suchen. Auf einer Website, die »unerreichte Völker« auflistet, stößt er erstmals auf die Sentinelesen. Gegenüber Freunden sagt er, er sehe es als seine Berufung, auf diese Insel zu fahren und ihren Bewohnern von Jesus Christus zu erzählen.

Damals mag das als Hirngespinst eines Teenagers erschienen sein. Heute wirkt es eher so, als habe John Chau in jener Zeit einen Gedanken gefasst, der ihn nicht mehr losließ, bis er im November 2018 schließlich versuchte, ihn in die Tat umzusetzen.

Nach der Schule geht John Chau an ein evangelikales College in Oklahoma, wo er Gesundheitswissenschaften und Sport studiert. Zweimal reist er nach Südafrika, um bei einem Fußballprojekt in den Townships auszuhelfen. Später wird er mit syrischen Flüchtlingskindern im Irak arbeiten.

In seiner Freizeit ist John Chau viel in der Natur unterwegs. Er geht fischen, wandern, Kajak fahren, zeltet im Schnee, überlebt den Biss einer Klapperschlange.

Chau hat zwei große Leidenschaften, und die geplante Mission auf North Sentinel vereinigt sie: an entlegene Orte reisen. Und seinem Gott treu dienen.

Im Nachhinein erkennt man, wie sehr Chau sein Leben auf dieses eine Abenteuer ausgerichtet hat: Er absolviert eine Ausbildung zum Wildnis-Rettungssanitäter, um sich notfalls selbst verarzten zu können. Er lässt sich in einem neunwöchigen Kurs beibringen, wie man sich innerhalb kurzer Zeit unbekannte Sprachen aneignen kann. Er lebt monatelang als Ranger in einer einsamen Waldhütte. Er fährt mehrmals auf die Andamanen, die Inselgruppe im Indischen Ozean, zu der auch North Sentinel gehört, und knüpft Kontakte zu der kleinen christlichen Gemeinde dort.

Der Höhepunkt seiner Vorbereitung ist ein Rollenspiel, das die Missionsagentur All Nations organisiert. Chau wird in einem einsamen Wald irgendwo in Kansas ausgesetzt. Stundenlang läuft er zwischen den Bäumen hindurch, bis er auf Menschen trifft, die in einer unverständlichen Sprache auf ihn einreden und ihn mit Speeren bedrohen. Diese Übung mit verkleideten Amerikanern soll ihn auf das vorbereiten, was ihn auf North Sentinel möglicherweise erwartet.

Die letzten Wochen vor seiner Weiterreise nach Indien verbringt John Chau in Südafrika bei einem Freund, er ist eine Art Mentor für Chau, und auch er ist Missionar. Der Abschied sei sehr anders gewesen als sonst, sagt der Freund am Telefon. »So muss es sich in Kriegszeiten angefühlt haben, wenn Eltern ihre Kinder in die Schlacht ziehen ließen.«

Mitte Oktober 2019, mehrere Monate nach dem ersten Mailwechsel, schreibt Patrick Chau, der Vater, in einer weiteren E-Mail, er sei nun doch bereit, zu sprechen. Allerdings nur über die Philosophie, an die er glaube: den Konfuzianismus. Und am liebsten in Form von Textnachrichten per WhatsApp.

Er habe seine Kinder christlich erzogen und leider nur selten mit John über die konfuzianische Philosophie gesprochen, schreibt er. Die evangelikale Ideologie sei zu dominant gewesen.

Aus seinen Nachrichten liest man eine ungeheure Wut heraus. Patrick Chau kritisiert den kolonialen Charakter des Christentums, er kritisiert den Missionsbefehl. Er vergleicht seinen Sohn mit einem Dschihadisten, der für den »Islamischen Staat« im heiligen Krieg gestorben ist. Er schreibt: »Das Extremistische ist immer böse, egal, ob es im Namen des Islams passiert oder im Namen des Christentums.«
Ob er mit seinem Sohn gestritten habe, als er von dessen Mission hörte? Ob er je versucht habe, ihn davon abzuhalten? Er schreibt: »Wir waren uns einig, dass wir uns nicht einig werden. Keine weiteren Fragen zu John.«


Tagebuch, 15. November 2018, North Sentinel Island, 10 Uhr

Gegen 8.30 Uhr habe ich versucht, Kontakt aufzunehmen. Ich hatte zwei große Fische (einen Barrakuda und die Hälfte eines Thunfischs) auf das Kajak gelegt und begann zu der Hütte zu paddeln, die wir gesehen hatten. Als ich ungefähr 350 Meter entfernt war, hörte ich Frauengeplapper.

Dann sah ich Bewegung am Strand. Zwei BEWAFFNETE Sentinelesen kamen angerannt und schrien mich an. Ich brüllte: »Mein Name ist John, ich liebe euch, und Jesus liebt euch. Jesus Christus hat mir die Vollmacht erteilt, zu euch zu kommen. Hier ist etwas Fisch!«

Als ich sah, dass sie Pfeile in ihre Bögen spannten, nahm ich den halben Thunfisch und warf ihn ihnen entgegen. Sie kamen näher. Dann ließ ich den Barrakuda runterrutschen, meine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass ich fast in Schussweite war. Ich paddelte rückwärts, sodass ich sie weiterhin sehen konnte, und als sie an die Fische kamen, drehte ich mich um und paddelte wie noch nie in meinem Leben zurück zum Boot. Ich spürte etwas Angst, aber war vor allem enttäuscht, dass sie mich nicht auf Anhieb akzeptiert haben.

»Bitte waschen Sie sich zuerst die Hände, bevor Sie meinen Vater begrüßen«, sagt die Frau, die im Süden der indischen Hauptstadt Neu-Delhi die Tür zu ihrer Wohnung öffnet.

Ihr Vater Triloki Nath Pandit ist 84 Jahre alt, er hat Parkinson im Frühstadium, Diabetes, Herzprobleme. Zur Begrüßung küsst er Frauen den Handrücken. Pandit hat seine weißen Haare gescheitelt und ein kragenloses Leinenhemd angezogen.

Triloki Nath Pandit ist Anthropologe, von Mitte der Sechziger- bis Anfang der Neunzigerjahre lebte er auf den Andamanen, nicht weit von North Sentinel. Außer den Sentinelesen selbst gibt es wohl keinen Menschen auf der Welt, der North Sentinel besser kennt als er. Pandit ist der einzige Wissenschaftler, der die Insel jemals betreten hat. Über seine Besuche hat er ein schmales Buch geschrieben, es heißt The Sentinelese, vergilbt liegt es vor ihm.
»Ich wollte da nie hin«, sagt er.

1966, nach seinem Studium, bekam Pandit einen Job bei der nationalen anthropologischen Behörde Indiens und wurde auf die Andamanen beordert.

Vier Tage brauchte das Schiff damals vom indischen Festland auf die Hauptinsel, einen Flughafen gab es noch nicht. Der Gouverneur beauftragte Pandit, mit einer Gruppe von Polizisten und Marine-Offizieren nach North Sentinel zu fahren, um »freundschaftlichen Kontakt« zu den Bewohnern aufzubauen.

Sie näherten sich der Insel, die so groß ist wie Manhattan. Durch ihre Ferngläser sahen sie den Strand, dahinter dichten Wald. Sie sahen auch Menschen. Als sie auf Gummiboote umstiegen und näher kamen, waren die Menschen verschwunden.
Sie betraten die Insel und fanden einen schmalen Weg, der in den Wald führte. »Nach etwa einem Kilometer öffnete sich eine Lichtung. Es war wie in einem Traum! Ich erinnere mich noch heute, wie die Sonne hineinschien«, sagt Pandit.

18 simple Hütten aus Ästen und Blättern standen dort, mehrere kleine Feuer brannten, bemalte Wildschweinschädel lagen herum. Kein Mensch war zu sehen, wahrscheinlich hatten sich die Bewohner im Wald versteckt.
Die Besucher hinterließen ein paar Geschenke: Plastikeimer, Stoffe, Süßigkeiten. Erst als sie in ihren Gummibooten wegfuhren, sahen sie wieder Gestalten am Strand.

Pandit war überwältigt. Dieses winzige Volk hatte es geschafft, sich dem Lauf der Menschheitsgeschichte zu entziehen. Das antike Griechenland, die chinesische Han-Dynastie, das Persische Reich. Die Entdeckung Amerikas, die industrielle Revolution. Der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg, die Erfindung der Glühbirne, des Autos, der Atombombe. Diese Menschen hatten von alldem nichts mitbekommen. Die Sentinelesen waren die Sentinelesen geblieben. Ein Volk, das so lebte wie damals, als es noch Säbelzahntiger auf der Erde gab.

Äußerlich sehen sie wie Afrikaner aus: schwarze Haut, krause Haare. Wissenschaftler haben belegt, dass die Sentinelesen von den Menschen abstammen, die vor mehr als 50.000 Jahren Afrika verließen und den asiatischen Raum besiedelten.
Andere Urvölker verloren ihren Lebensraum, weil sie irgendwann dem Fortschritt im Weg standen, weil irgendjemand anfing, Bäume zu fällen, Straßen zu bauen, Bodenschätze auszugraben. An North Sentinel aber zogen die Schiffe vorbei. Die Insel hat keinen natürlichen Hafen, sie ist umgeben von Riffen, die sich nur mit flachen, kleinen Booten passieren lassen. Ein Stück Land, das nie attraktiv war für die Außenwelt – bis es genau dadurch zur Attraktion wurde, als einer der letzten unberührten Flecken der Erde.

Nach der ersten Expedition Mitte der Sechziger schickte die Regierung der Andamanen den Anthropologen Pandit alle paar Monate nach North Sentinel. »Aber wir durften nie wieder das Innere der Insel betreten«, sagt er. »Wann auch immer wir kamen, patrouillierten die Sentinelesen am Strand entlang, mal mit einer Axt über der Schulter, mal mit gespanntem Bogen.«
Pandit und seine Gruppe brachten Geschenke, die sie rasch am Strand ablegten, ehe sie wieder verschwanden. Einmal hatten sie ein lebendes Hausschwein dabei. Es war den Sentinelesen, die nur ihre dunklen Wildschweine kannten, so suspekt, dass sie es mit Pfeilen durchlöcherten und am Strand verscharrten.

1974 begleitete Pandit ein Filmteam, das darauf bestand, sich der Insel immer weiter zu nähern – bis plötzlich ein Pfeil im Bein des Regisseurs steckte. »Die Sentinelesen haben den Schützen gefeiert, sie lachten laut und waren zufrieden«, sagt Pandit.

Er glaubt, einen der Gründe zu kennen, weshalb die Sentinelesen allen Eindringlingen so feindselig gegenüberstehen: Ende des 19. Jahrhunderts, Indien war noch britische Kolonie, legten britische Soldaten auf North Sentinel an. Sie nahmen eine sentinelesische Familie – Vater, Mutter, vier Kinder – gefangen und brachten sie nach Port Blair. Die Eltern wurden sehr schnell sehr krank und starben. Die Briten schickten die Kinder zurück auf die Insel, mit vielen Geschenken, aber vielleicht auch mit ein paar Krankheitserregern. Gut möglich, dass damals viele weitere Sentinelesen ums Leben kamen. Ihr Immunsystem hat wenig Abwehrkräfte gegen die Viren und Bakterien der Außenwelt.

Der diensthabende britische Offizier schrieb später in seinen Memoiren: »Diese Expedition war kein Erfolg. Wir können nicht sagen, dass wir mehr gemacht haben, als ihre Furcht vor und ihre Feindseligkeit gegenüber Fremden gesteigert zu haben.«

Mehr als zwei Jahrzehnte lang besuchte Triloki Nath Pandit die Insel immer wieder. Erst 1991 gelang ihm das, was all die Jahre sein Auftrag gewesen war: einen »freundschaftlichen Kontakt« aufzubauen. Vor ihm auf dem Wohnzimmertisch hat er Fotos von jenem Tag ausgebreitet: Hüfttief steht er im Wasser, streckt die Arme aus, in den Händen hält er Kokosnüsse. Und die Sentinelesen nehmen sie entgegen. Er strahlt, sie strahlen. Es war die erste echte Begegnung – und es sollte auch die letzte sein.

War es denn wirklich nötig, dass die Welt die Sentinelesen kennenlernte? Auf den Andamanen hatten einst mehr als zehn verschiedene Stämme von Ureinwohnern gelebt. Dann kamen die Briten, später die Inder, es kam das moderne Leben. Für Menschen, die zwar mit Pfeil und Bogen umgehen konnten, aber nicht wussten, was ein Auto ist, war da kein Platz. Aus Jägern wurden Bettler. Menschensafaris zu den letzten Wilden wurden angeboten. Es gibt Filme, die zeigen, wie indische Touristen nackte Ureinwohner auffordern, für sie zu tanzen, und ihnen dafür ein wenig Essen auf die Straße werfen.
Vielleicht war es besser, die Sentinelesen einfach in Frieden zu lassen.

Genau das war es, wozu Pandit den indischen Behörden riet: »Den Sentinelesen fehlt es an nichts, habe ich gesagt. Und wenn sie uns brauchen, dann werden sie uns aufsuchen.«

Tatsächlich setzte damals ein Umdenken ein, auch in anderen Teilen der Welt. Länder wie Brasilien, Peru, Ecuador und Bolivien hatten bereits Gesetze verabschiedet, um ihre Ureinwohner vor unerwünschtem Kontakt von außen zu schützen. Nun errichtete die indische Regierung eine Schutzzone um North Sentinel herum. Seitdem patrouillieren Marine und Küstenwache durch die Gewässer. Niemand darf sich der Insel auf weniger als fünf Kilometer nähern. Bei Verstoß drohen Geld- und Gefängnisstrafen.
Triloki Nath Pandit freute sich über das neue Gesetz, auch wenn es bedeutete, dass er seine neuen Freunde nie wiedersah.


Tagebuch, 15. November 2018, North Sentinel Island, 13.50 Uhr

Ich wurde von den Sentinelesen beschossen ... von einem Kind, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht ein Teenager. Aber ich will von vorn beginnen: Nach einem Essen aus Linsen und Reis habe ich ins Wasser gekackt (ungefähr anderthalb Kilometer vom Haus der Sentinelesen, sodass ich mir keine Sorgen machen musste, dass sie es sehen).

Dann haben wir zwei große Fische auf mein Kajak geladen und meinen kleinen Schutzkoffer – darin meine Hilfsausrüstung mit Arterienklemmen, Kompressen, Thoraxpflaster und zahnmedizinischen Zangen, um Pfeile zu entfernen ... und leider war da auch mein Pass drin; dazu hatte ich noch meine wasserfeste Bibel und einige Geschenke dabei: Scheren, Pinzetten, Sicherheitsnadeln, Angelschnur und -haken, Tauwerk und Gummischläuche.

Dann, als ich vom Wasser aus niemanden sah, arbeitete ich mich mit meinem Kajak durch die Untiefen des toten Korallenriffs vor. Ich habe ein paar Geschenke an den Fischen befestigt und bin dann zur Hütte gepaddelt, von der ich beim Anfangskontakt vertrieben worden war. Ich hörte Rufe aus der Hütte. Ich kam ein bisschen näher, und als sie (ungefähr sechs, soweit ich sehen konnte) mich anschrien, versuchte ich, ihre Worte nachzuplappern.
Sie brachen in Lachen aus, wahrscheinlich hatten sie Schimpfwörter benutzt oder mich beleidigt.

Ich sang ein paar Lobpreislieder, und sie verstummten. Ein Kind und eine junge Frau tauchten auf, ihre Bögen gespannt. Ich habe die ganze Zeit mit den Händen gewinkt, um zu sagen: »Keine Bögen!«, aber ich glaube, sie verstanden meine Mitteilung nicht.

Das kleine Kind hatte jetzt einen Pfeil. Also hielt ich ihnen eine kleine Predigt, ich begann mit der Schöpfungsgeschichte, und ich stieg aus meinem Kajak, um ihnen zu zeigen, dass auch ich zwei Beine habe.

Ich war nur ein paar Zentimeter entfernt von einem unbewaffneten Mann, und ich gab ihm einen Packen von den Scheren und Geschenken, während die anderen dazukamen, und dann nahmen sie mir das Kajak ... und das kleine Kind schoss auf mich mit einem Pfeil – direkt in meine Bibel, die ich vor meiner Brust hielt.

Ich nahm den Pfeilschaft, er war in meiner Bibel gebrochen, und ich spürte die Pfeilspitze. Sie war dünn, aber sehr scharf. Ich stolperte zurück, und ich erinnere mich, dass ich das Kind anschrie.

Ich musste fast anderthalb Kilometer zurück zum Boot [der Fischer] schwimmen. Obwohl ich jetzt kein Kajak mehr habe und auch meinen kleinen Koffer und den Inhalt nicht mehr, bin ich dankbar, dass ich noch immer das geschriebene Wort Gottes habe.
Es ist eigenartig – obwohl, nein, es ist ganz natürlich: Ich habe Angst.

Da, ich habe es gesagt. Ich bin auch frustriert und unsicher. ICH WILL NICHT STERBEN!

Wäre es klüger, aufzuhören und jemand anderen weitermachen zu lassen? NEIN. Das glaube ich nicht – ich sitze hier ohnehin fest, ohne Pass und weitab von allem. Ich könnte es immer noch irgendwie zurückschaffen in die USA, hierzubleiben scheint den sicheren Tod zu bedeuten.

Blickt man beim Anflug auf die Andamanen aus dem Fenster, sieht man weiße Sandstrände und türkisfarbenes Wasser. Es sind Hunderte Inseln, nur ein paar Dutzend sind bewohnt. Das Flugzeug ist voll mit indischen Paaren, die in ihre Flitterwochen reisen. Die Andamanen sind die Malediven Indiens. Wunderschön. Und hochgradig gefährdet.

Der Tsunami im Jahr 2004 traf die Andamanen besonders hart, auch North Sentinel. Doch als die Behörden einen Helikopter zu der Insel schickten, um nachzusehen, ob die Sentinelesen Hilfe benötigten, zielten diese mit Pfeilen auf den Eindringling. Die Behörden folgerten, dass ihre Hilfe nicht benötigt wurde. Offenbar hatten die Sentinelesen es geschafft zu überleben, während auf den Inseln rundherum Tausende Menschen gestorben waren.

Auf einem Hügel über Port Blair, der Hauptstadt der Andamanen, steht die Polizeiwache. Das Büro des Chefs ist holzvertäfelt, an der Wand hängen Pfeile, als Dekoration. Dependra Pathak, 55, ist der oberste Polizist der Andamanen.

Pathak hat normalerweise viel mit Diebstählen zu tun, er hat Mordfälle aufgeklärt, manchmal muss er sich mit Wilderern herumschlagen. Am 19. November 2018 leuchtete in seinem Posteingang eine E-Mail des amerikanischen Konsulats in der südindischen Stadt Chennai auf. Pathak begann zu lesen und ahnte schnell, dass er den kompliziertesten Fall seiner Karriere vor sich hatte.

In der E-Mail stand, die Sentinelesen hätten mutmaßlich einen amerikanischen Staatsbürger getötet. John Chaus Mutter hatte das Konsulat informiert.

Pathak leitete die Ermittlungen ein. Die Polizei stieß auf fünf Fischer und zwei Hintermänner, die John Chau geholfen hatten, und nahm sie fest. Pathak ließ das Boot beschlagnahmen, das sie benutzt hatten. Und er las die Tagebucheinträge und Abschiedsbriefe, die John Chau an den letzten drei Tagen seines Lebens verfasst hatte, insgesamt 13 Seiten, handgeschrieben.

Er fertigte zwei Akten an. In der einen ermittelte er »gegen unbekannte Sentinelesen« wegen Mordes. In der anderen ermittelte er gegen die Fischer und die Helfer.

Zweimal fuhr Pathak mit einem Team aus Beamten und Experten auf einem Boot der Küstenwache an North Sentinel heran. Sie sahen Menschen am Strand, hielten aber Abstand. »Jeder, der zu ihnen geht, gefährdet ihre Gesundheit. Die Keime, die wir tragen, kennen sie nicht«, sagt Pathak. Wissenschaftler hatten ihm von dem britischen Offizier erzählt, der jene sentinelesische Familie gekidnappt hatte, deren Eltern verstarben; und von den unzähligen anderen Fällen im Rest der Welt, in denen isolierte Gruppen den Kontakt mit modernen Erregern nicht überstanden hatten.

Aus der Ferne machten Pathak und sein Team Fotos, entwarfen Skizzen, rekonstruierten den Vorfall. Einer der festgenommenen Fischer war dabei und berichtete, was geschehen war.

Er erzählte, wie John Chau ihnen 25.000 Rupien, umgerechnet 315 Euro, gab. Wie sie ihn als Fischer tarnten. Wie er sie immer wieder bat, Fische zu fangen, damit er sie den Sentinelesen bringen konnte. Wie sie einen Sicherheitsabstand zur Insel hielten. Wie er sein faltbares Kajak benutzte, um zwischen dem Boot der Fischer und der Insel hin- und herzupaddeln. Wie er, wenn er auf ihrem Boot saß, die meiste Zeit damit verbrachte, Tagebuch zu schreiben. Wie er ihnen das Tagebuch am Morgen des dritten Tages überreichte und sie bat, es an seinen Freund Alex weiterzugeben. Wie er zu ihnen sagte »go-go« – und sie für diesen Tag aufs offene Meer fuhren. Und wie sie ihm Zeichen gaben, dass sie am Abend wiederkommen würden, um nach ihm zu sehen.

So steht es in der Zusammenfassung der dicken Akte, aus der Pathak jetzt vorliest in seinem Büro.

Als die Fischer am Abend zur Insel zurückkehrten, sahen sie John Chau nicht mehr. Sie warteten die ganze Nacht, aber Chau blieb verschwunden. Was sie sahen, früh am nächsten Morgen, war eine Gruppe von Sentinelesen am Strand. Ein Mann schleifte etwas hinter sich her, etwas Lebloses. Die Fischer schauten genauer hin und erkannten den Körper eines Hellhäutigen in schwarzer Unterhose. John Chau. Die Sentinelesen schaufelten eine Grube, in der sie den Körper verscharrten.

»Nachdem sie diesen Vorfall gesehen hatten, verließen die Fischer North Sentinel«, liest Pathak aus der Akte vor. Am nächsten Tag fuhren die Fischer nach Port Blair, wo sie John Chaus letzten Wunsch erfüllten und seinem Freund Alex das Tagebuch gaben. Wenig später wurden sie festgenommen.

Dependra Pathak sagt, es sei seine Aufgabe, die Gesetze des Landes umzusetzen – und die gälten auch in North Sentinel. Selbst wenn die Sentinelesen nicht wüssten, dass es ein Land namens Indien gebe, seien sie immer noch Bewohner dieses Landes. Allerdings ist es so, dass sich in diesem Fall die Gesetze widersprechen.

Einerseits ist es verboten, North Sentinel zu betreten. Andererseits ist es verboten, einen anderen Menschen zu töten. Hätten die Sentinelesen John Chau nicht auch vertreiben können, statt ihn umzubringen?

Aber war es wirklich Mord, wie es in der Akte steht? Oder war es Selbstverteidigung? Und gilt nicht ausgerechnet in den USA ein Gesetz, wonach es erlaubt ist, auf Menschen zu schießen, die unbefugt ins eigene Haus eindringen?

Am Ende hat Pathak keine Sentinelesen verhaftet, geschweige denn sie in einen Gerichtssaal gezerrt. Er ist der Meinung, dass in diesem Fall nur jene bestraft werden sollten, die vorsätzlich illegal gehandelt haben. »Die Fischer wussten, dass es verboten war. Sie taten es trotzdem. Und sie wussten, dass sie John Chau in den sicheren Tod schickten.«

Die Fischer verbrachten mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Im Moment sind sie frei und warten auf den Prozess gegen sie, der bald beginnen soll. Die Anklage lautet auf fahrlässige Tötung.


Tagebuch, 15. November 2018, North Sentinel Island

Ich schaue mir den Sonnenuntergang an, es ist wunderschön – ich muss ein bisschen weinen ... frage mich, ob es der letzte Sonnenuntergang ist, den ich sehe, bevor ich an dem Ort bin, wo die Sonne niemals untergeht.

Ich vermisse meine Mutter und meinen Vater und Brian und Marilyn und jemanden, mit dem ich sprechen kann und der mich versteht.

Ich habe nie zuvor so viel Trauer und Schmerz empfunden. WARUM! Warum musste ein kleines Kind auf mich schießen? Seine schrille Stimme hallt noch nach in meinem Kopf. Vater, vergib ihm und all den Menschen auf der Insel, die versuchen, mich zu töten, und vor allem vergib ihnen, wenn es ihnen gelingt!

HERR, ist diese Insel Satans letzte Festung? Wo niemand Deinen Namen gehört hat und niemand eine Chance hatte, Deinen Namen zu hören?

HERR, ich brauche Deine Stärke und Deinen Schutz. Der Plan für morgen ist, mich abzusetzen, und dann wird das Boot tagsüber wegfahren und am Abend zurückkommen. Wenn es schiefgeht, müssen die Fischer nicht mein Sterben bezeugen.

Der Anwalt der Fischer sagt, man könne versuchen, in ihr Dorf zu fahren, wenn man sie treffen wolle. Sie seien aber sehr ängstlich nach ihrer Zeit im Gefängnis.

 

Nach zwölf Stunden Fahrt mit Auto und Fähre erreicht man Webi, was »verstecktes Dorf« bedeutet. Der Ort besteht aus ein paar Straßen, mehreren Hütten und drei Kirchen, drum herum Regenwald und Reisfelder. Die Menschen, die hier leben, sehen nicht aus wie Inder, eher wie die Bewohner Myanmars. Sie gehören zum Volk der Karen, die sich vor etwa 90 Jahren auf den Andamanen niederließen und seitdem vor allem vom Reisanbau und Fischfang leben. Optisch ist John Chau zwischen ihnen nicht groß aufgefallen.

Die Karen sprechen ihre eigene Sprache und sind sehr gläubig, Anfang des 19. Jahrhunderts wurden sie von amerikanischen Baptisten missioniert. Die Fischer, so hatte es der Polizeichef Dependra Pathak gesagt, wussten, was sie taten, als sie John Chau nach North Sentinel brachten, es sei ihnen nicht nur um Geld gegangen, sondern auch um den christlichen Glauben.

In der nahe gelegenen Bucht kommen gerade ein paar Dutzend Holzboote mit gefüllten Netzen vom Meer zurück. Die Boote sind lang, zehn, fünfzehn Meter, und bunt bemalt. In so einem Holzboot wurde John Chau gefahren.

Männer waten ans Ufer. Kennen sie die Fischer, die John Chau nach North Sentinel brachten?
»Kennen wir nicht«, sagt einer.
»Die könnten gerade ein paar Tage auf dem Meer sein«, ein anderer.
»Die sind am anderen Ende der Bucht.«
»Die sind an einem anderen Strand.«

Viele Antworten, keine führt zu den Fischern. Aber man erhält eine Telefonnummer. Es ist die Nummer eines Mannes, den alle nur Alex nennen. Er lebt in Port Blair und war ein enger Freund von John Chau. Der Polizeichef hatte Alex den »Strippenzieher« genannt.


Brief von John Chau an Alex, geschrieben auf North Sentinel Island

Alex – ich bin Dir und Deinem Gehorsam gegenüber Gott so dankbar, und dafür, wie Du Dein Allerbestes gegeben hast, dieser Mission zu dienen. Es könnte sein, dass ich sterbe, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, Dir meinen Dank auszudrücken.
Ich werde Dich wiedersehen, Bruder – und denk dran, wer zuerst im Himmel ist, gewinnt.

 

»Ich wusste schon, dass du anrufen wirst«, sagt Alex. »Lass uns treffen, Telefonieren ist nicht sicher, ich weiß nicht, ob sie uns zuhören.«
Ein Restaurant in Port Blair. Noch bevor das Essen bestellt ist, beginnt Alex zu reden, als habe er monatelang gewartet. Es ist das erste Mal, dass er sich mit einem ausländischen Journalisten trifft. Er hatte viele Anfragen, er hat keine beantwortet. Jetzt aber, sagt er, ertrage er es nicht mehr, wie schlecht im Internet über John Chau gesprochen werde.

Alex heißt mit vollem Namen Alexander Kalluthundil Sam. Er ist Inder, Ende zwanzig, geboren und aufgewachsen in Port Blair. Mit seinem Vollbart, seiner Brille und seinen gegelten kurzen Locken könnte er auch ein Start-up-Unternehmer aus dem Silicon Valley sein. Er hat etwas Weltläufiges, dabei hat er Indien noch nie verlassen.

Sam ist von Beruf Programmierer, oder er war es, denn nach der Sache mit John hat er seinen Job verloren. Wie die Fischer saß auch er in Untersuchungshaft. Und auch er wird bald vor Gericht stehen.
Alexander Kalluthundil Sam ist ein tiefgläubiger Christ. Er lernte John Chau vor drei Jahren kennen, als der wieder einmal auf den Andamanen war.

Sam und Chau waren zwar an sehr unterschiedlichen Enden der Welt aufgewachsen, hatten aber eine Gemeinsamkeit: Beide trugen seit Jahren den Gedanken mit sich herum, die Sentinelesen zu retten.

Sam glaubt, es sei eine Illusion, diese Menschen dauerhaft von der Moderne abriegeln zu können. Früher oder später werde die Welt zu ihnen kommen, in Form von Touristen, Abenteurern, Wilderern. Denen aber seien die Ureinwohner gleichgültig, es gehe ihnen nur um den eigenen Nutzen, den eigenen Profit. John Chau dagegen habe die Sentinelesen langsam und vorsichtig an das Leben von heute heranführen wollen. Sam sagt, Chau hätte ihnen wirklich helfen können.

Auf den Andamanen gingen John Chau und Alexander Kalluthundil Sam gemeinsam fischen und wandern, sie gingen auch gemeinsam in die Kirche. Sam wurde zu Chaus wichtigstem Helfer, ohne ihn wäre Chau nie nach North Sentinel gekommen. Es war Sam, der für Chau die geheime Wohnung anmietete, in der er sich die elf Tage vor seiner Abreise versteckte. Und es war Sam, der die Fischer überredete, Chau mit auf ihr Boot zu nehmen.

»Wir waren gut vorbereitet«, sagt Sam. Sie hatten verschiedene Szenarios entwickelt. Hätten die Sentinelesen John Chau akzeptiert, wäre er bei ihnen geblieben, vielleicht für zwei Jahre, vielleicht für zwanzig, vielleicht für immer. Es war auch ein Szenario, dass er stirbt. Ihr Ziel sei gewesen, dass niemand da draußen von der Mission erfahre, egal, wie sie enden würde. Weder die indischen Behörden sollten davon wissen noch der Rest der Welt. Aber dann, nachdem Sam das Tagebuch, das ihm die Fischer überreicht hatten, abfotografiert und an All Nations gesandt hatte – so wie John Chau und er es vereinbart hatten – und nachdem All Nations John Chaus Mutter über den Tod ihres Sohnes informiert hatte, passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Die Mutter wandte sich an das amerikanische Konsulat und schickte


Auszüge aus dem Tagebuch an die Washington Post.

Sam sagt, er gehe im Moment ungern vor die Tür, wo er Menschen treffen würde, die er kennt. »Ich bereite mich mental darauf vor, dass ich bald ins Gefängnis muss.« Sollte er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden, könnte das eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren bedeuten.
Die letzten Tage in Port Blair, als er seinen Freund in der geheimen Wohnung versteckte, habe er gemerkt, dass John Chau sich Sorgen machte, sagt er. Dass da ein enormer Druck war. »Er hatte sich neun Jahre lang vorbereitet. Viele Menschen waren beteiligt. Und er wusste, wie wichtig es ist.«

Am Tag der Abreise packten sie zusammen. Sam brachte Chau zum Strand, wo sie mit den Fischern verabredet waren. »Wir haben uns umarmt, und er hat gesagt:Goodbye, bro, I love you. Wir haben gebetet. Dann ist er langsam vorgelaufen zum Wasser, wo die Fischer schon warteten.«

Alex Kalluthundil Sam sagt: »Ich bete, dass ich in diesem Leben noch sehen werde, wie den Sentinelesen das Licht gebracht wird.«
John Chaus Mentor in Südafrika hatte am Telefon gesagt: »Ich hoffe, dass Johns Geschichte ein Feuer entfacht und andere Menschen an diesen Ort gehen wollen.«

Und John Middleton Ramsey in Köln hatte gesagt: »Ich wurde von ein paar Leuten angeschrieben mit den Worten: John hat mich inspiriert, und ich will jetzt zu diesem Stamm.«


Tagebuch, 16. November 2018, 6.20 Uhr

Aufgewacht nach einem ziemlich erholsamen Schlaf, jetzt auf dem Weg zur Insel. Ich hoffe, dies ist nicht meine letzte Notiz, aber wenn doch, dann sei es zur Ehre Gottes.

Ich werde zur Hütte zurückkehren, bei der ich schon war. Ich bete, dass alles gut geht.

John Chau