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True Story Award 2021

Es geht bergab

In der Schweiz ist ein uraltes Bergdorf ins Rutschen geraten. Was kann man tun gegen die Kräfte der Natur? Und soll man diesen Kampf überhaupt führen?

Solange er etwas zu erledigen habe, sei es leichter zu ertragen, sagt er.
Solange er die Wiesen mähe.
Solange er das Heu einfahre.
Solange er zu den Kühen gehe.
Solange er sich schneller bewege als der Berg.

Deshalb ist jeder Tag besser als die Nächte, in denen er daliegt und lauscht. Und jeder Morgen eine kurze Rettung ins Tun, auch dieser.

Acht Uhr, zwei Grad, erstes Licht. Am Himmel über Graubünden verblasst der Mond, da zieht Georgin Bonifazi los, läuft in schweren Stiefeln aus dem Dorf und stapft über taunasse Weiden, um seine Herde zu zügeln, wie er es nennt, um das halbe Hundert Kühe und Kälber in seinem Besitz näher zum Stall zu holen, ehe der Winter kommt, der Schnee. Bonifazi folgt einem Weg hoch über dem Tal, bereits als Kind ist er ihn gegangen. Jetzt ist er 55, ein stämmiger Mann mit den Falten eines Draußenmenschen, Bergbauer wie schon der Vater, Großvater und Urgroßvater. Wie weit er auch zurückblickt in seiner Familiengeschichte, alle seine Vorfahren haben auf und von dem Stück Land gelebt, auf dem jetzt seine Kühe grasen, und stets war die Arbeit eine generationenübergreifende Angelegenheit.

So ist auch Georgin Bonifazi an diesem Morgen nicht allein. Mit ihm geht seine Frau Annette, die er Anni nennt – und die seinen Vornamen Dschordschín ausspricht, in weichem, altem Rätoromanisch. Da geht außerdem der schlaksige Ursin, zweiter von drei Söhnen. Da hüpft Ladina, einzige Tochter und Jüngste.

Eine Biegung, eine Kuppe, dahinter die Herde, dampfend in der Kälte. Schnell hat die Familie sie zusammengetrieben.
»So, Mesdames«, sagt Bonifazi zu den Tieren.
»Komm, Rubia, komm!«, ruft Ladina, die Tochter, ihrer Lieblingskuh zu.
Dann trottet die Herde los, unter Kuhglockengeläut, und Bonifazis Frau Annette sagt leise: »In Augenblicken wie diesem frag ich mich: Werden wir das je wieder tun? Oder ist dies unser letzter Herbst?«

Auf den ersten Blick sieht es aus, als treibe die Familie ihre Tiere einem Idyll entgegen. Da klebt ein Dorf an einem Hang: ein Kirchlein, umringt von ein paar Häusern. Aber etwas stimmt nicht. Der Berg, der den Ort überragt, ist nackt; mehr Schutt als Fels. Der Kirchturm steht schief. Durch die Mauern einiger Höfe ziehen sich Risse. In den Weiden klaffen Löcher. Zweimal schon haben die Bonifazis eine ihrer Kühe bis zum Bauch in der Wiese versinken sehen.

Sie verlieren gerade den Boden unter den Füßen.

Im Osten der Schweiz, inmitten der Alpen, geschieht etwas, von dem noch niemand genau sagen kann, ob es sich eher um den geologischen Gang der Dinge handelt oder um ein menschengemachtes Unglück, um ein uraltes Spiel der Kräfte oder um einen Vorgriff auf die Zukunft. Ein Berg kollabiert. Fels bröckelt, Spalten tun sich auf. Ein ganzer Hang rutscht ab. Und mit ihm rutschen Georgin Bonifazi, seine Familie und seine Tiere, rutscht ein komplettes Dorf, Brienz auf Schweizerdeutsch, Brinzauls auf Rätoromanisch, in Georgin Bonifazis Worten: »unser Daheim«. Es rutschen Häuser und Ställe, Brunnen und Gärten, Straßen und Spielplatz, Kirche und Friedhof. Es rutschen 82 Menschen in einer uralten Siedlung, auf Landkarten noch ein trügerisch fester Punkt, 1144 Meter hoch gelegen, wobei auch diese Zahl an Gültigkeit verliert, wie jede Gewissheit. Denn das Dorf rutscht mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Jahr ins Tal. Und es rutscht immer schneller.

Warum gerät ein Berg in Bewegung? Was kann man tun, um ihn aufzuhalten? Sollte man etwas tun? In Brienz wird derzeit eines der ältesten und zugleich aktuellsten Menschheitsthemen verhandelt, das von Macht und Ohnmacht gegenüber der Natur. Da sind lauter Fragen, die sich an immer mehr Orten auf der Erde stellen und auf die selbst in diesem kleinen Dorf fast jeder eine andere Antwort gibt, je nach Mitteln und Möglichkeiten, abhängig von der eigenen Mobilität und dem jeweiligen Standpunkt, nicht nur im übertragenen Sinne.

Ein Sommergast hat sein Haus ausgeräumt.
In der Kirche beten sie den Rosenkranz.
Ein Zugezogener läuft mit Zollstock durchs Dorf, misst, wie sich überall Risse weiten, und sucht noch das Maß, wie lange er es aushält.
Die Gemeinde hat die Mobilfunknummern der Bewohner gesammelt, für den Fall einer Evakuierung.
Annette Bonifazi hat eine Tasche gepackt, Pässe, Impfausweise, Fotoalben mit Bildern der Kinder.
Ihr Mann lenkt sich mit Arbeit ab, ihm bleibt nichts anderes übrig, er kann seine Tiere und Weiden nicht fortschaffen wie andere ihre Möbel. »Selbst wenn«, sagt Georgin Bonifazi, »wo sollte ich dann hin? Es ist doch alles besetzt.«
Als Schweizer Bergbauer auf seiner Scholle hat er plötzlich mehr mit einem Fischer auf den Malediven gemein als mit einigen seiner Nachbarn, davon wird noch die Rede sein.

Doch jetzt, an einem Herbsttag 2019, leuchtet in einem Büro in der Gemeinde Thusis, 15 Kilometer talabwärts von Brienz gelegen, ein Bildschirm auf. Höhenlinien, Felsverläufe, eine topografische Karte des Piz Linard, 2768 Meter hoch. Auf einer Flanke des Berges schwarze Dachquadrate, das Dorf in digitaler Fassung. Darüber liegen, wie von einem wütenden Kind gemalt, lauter Pfeile, alle zeigen in Richtung Tal, einige leuchten rot. Der Rutsch.

Am Schreibtisch steht Stefan Schneider, ein schmaler Brillenträger, verglichen mit Georgin Bonifazi eher Drinnentypus. Er benutzt Begriffe wie Schuttkegel, Murgang und Niederschlagsereignis, er ist Geologe, Berge sind für ihn Physik. »Die Alpen sind Dynamik«, sagt er, »es gibt viele Rutschgebiete in der Schweiz.« Soweit er wisse, bewege sich Brienz seit Generationen. Das klänge beruhigend, würde Schneider nicht anfügen: »Nun rutscht es allerdings sehr schnell.«

Schneider leitet ein Geologie- und Ingenieurbüro, mit Kollegen hat er den Berg unter Beobachtung genommen wie ein Arzt einen Intensivpatienten. Er weiß: Das Stück Hang, das den Halt verliert, misst gut einen mal zwei Kilometer. Eine Fläche, etwa so groß wie Monaco. Und mittendrauf das Dorf.

Überall da draußen hat Schneider Messpunkte installiert. Spiegel, GPS-Sender, Radar. Ein Frühwarnsystem. Bewegen sich drei der Punkte innerhalb eines Tages um einen Zentimeter, erhält Schneider eine automatische Mail. Der Berg schickt ihm Botschaften, oft mehrmals pro Woche:

14:08:34 Brienz, TCA1800, Geschwindigkeitsschranke Limit 1 überschritten. Verschiebung: –0,011 m.

Würden sich drei Messpunkte zugleich um drei Zentimeter verschieben, bekäme Schneider eine SMS auf sein Handy. Das müsste nichts bedeuten. Aber es könnte auch eine Katastrophe ankündigen, als Wissenschaftler spricht Schneider von »Szenarien«.
Denkbar sind zwei.

Der Hang von Brienz könnte endgültig so ins Rutschen kommen wie ein Stück Butter in der heißen Pfanne. Das Dorf müsste geräumt werden.

Oder der Fels oberhalb des Ortes, wo der angeschlagene Berg schon wund und offen liegt, könnte abbrechen, in Teilen oder ganz. Was Berg war, würde als Steinlawine erst Brienz überrollen und dann im Tal die Gleise des Glacier Express begraben, die Straße nach Davos verschütten, den Albula-Fluss aufstauen. Eine Kettenreaktion, Ende schwer abzusehen.

Der Geologe Schneider hat ausgerechnet, dass bis zu 22 Millionen Kubikmeter Stein auf Brienz niedergehen könnten. Als vor zwei Jahren einige Täler weiter ein Bergsturz Teile des Örtchens Bondo verwüstete und acht Menschen in den Tod riss, waren es drei Millionen Kubikmeter.

All das könnte sich mit einem Ruck von nur drei Zentimetern ankündigen. Und Schneider müsste überlegen, ob es an der Zeit ist, einen Krisenstab einzuberufen.

Noch ist das nur Hypothese. Noch lässt sich in Brienz eines Morgens bloß ein Fenster nicht mehr öffnen. Noch schwingen eines Abends Türen durch, statt wie gewohnt ins Schloss zu fallen. Noch beginnen Flaschen, achtlos oder absichtlich auf dem Esstisch abgelegt, zu rollen. Noch fällt hin und wieder der Strom aus, weil irgendwo im Boden ein Kabel reißt. Noch hört Annette Bonifazi, die einige Ferienhäuser am Dorfrand putzt und lüftet, gelegentlich in der Stille einer leeren Küche ein Rauschen aus dem Abfluss. »Dann ist wieder ein Wasserrohr geborsten.«

Dass Familien wie die Bonifazis ausharren, hat weniger mit Mut, Trotz oder Leichtsinn zu tun, als es den Anschein hat. Auch nicht allein mit Verwurzelung, die man sogar noch auf brüchigem Fels verspüren kann. Es wäre ein Fehler, sich Georgin Bonifazi als reinen Romantiker oder als zeitverlorenen Schrat auszumalen. Er beantwortet E-Mails rasend schnell, sein Hof ist ein Biobetrieb, auf neuestem Stand.

Doch wer wäre so dumm, ihm diesen Hof jetzt abzukaufen? Und mit welchem Geld sonst sollte Bonifazi sich und seiner Familie andernorts ein neues Leben aufbauen?

Die Versicherungen haben mitgeteilt, dass sie die Brienzer erst auszahlen können, wenn deren Häuser vertragsgerechte »Totalschäden« sind: unbewohnbar, einsturzgefährdet, abgerissen. Ersetzt würde auch dann nur der Wert der Gebäude, nicht der des Bodens.

Land war bislang nichts, was verloren ging. Land wurde gewonnen. Alles andere schien undenkbar. Die Klauseln der Versicherer, die Regeln des Marktes, die Gesetze der Politik, die Logik des Menschseins – sie erzählen vom Erschließen und Erobern der Natur, nicht vom Rückzug. Macht euch die Erde untertan.

In Thusis, am Schreibtisch des Geologen Schneider, geht es deshalb nicht nur darum, den Hang von Brienz zu beobachten, seine Bewegung in Pfeile, Kurven, Charts zu übersetzen. Die Politik hat Schneider und mit ihm ein halbes Heer von Experten in mehreren Büros und mehreren Städten beauftragt, den Rutsch zu stoppen. Sie sollen schneller sein als der Berg. Sie sollen ihn »sanieren«; so sagt es der Präsident des Gemeindeverbundes, zu dem Brienz gehört.

Doch die Wissenschaftler sind gerade erst dabei, den Berg zu verstehen.
»Zeitlich betrachtet sind wir Menschen ja so was wie der letzte Schnipp in der Erdgeschichte«, sagt Schneider. Jetzt denkt er sich von montags bis freitags durch ein Jahrmillionenwerk aus Stein.

In der Gegend um Brienz, so viel ist klar, hat die Tektonik besonders gründlich gewirkt. Der Berg liegt in einem Gebiet, das die Geologen »Aroser Schuppenzone« nennen. Die Kräfte, die erst den Urkontinent Pangaea zerrissen und ihn dann als Europäische und Afrikanische Platte wieder zusammenschoben, dazwischen die Sedimente eines einstigen Meeres ... diese Kräfte waren hier besonders gewaltig. Sie zogen, quetschten, stapelten Schichten, die Hunderte von Kilometern zurückgelegt hatten, wild durch- und übereinander. Und sie hinterließen ein fragiles Ergebnis. Wobei das Wort »Ergebnis« falsch ist. Ein Ergebnis steht fest, statt sich zu bewegen.

In Brienz haben die Wissenschaftler mittlerweile Bohrer in den Boden getrieben und einiges herausgefunden. Alter Stein liegt auf jungem, harter auf weichem. Das Dorf ist auf einem etwa 200 Millionen Jahre alten Fels erbaut, »Allgäu-Formation«, frühes Hettangium. Dieser Fels drückt auf 100 Millionen Jahre alten Schiefer namens »Flysch«, Kreidezeit. Rund 150 Meter unter der kleinen Kirche, so tief, wie der Kölner Dom hoch ist, ist dieser Schiefer unter Last und Druck zersplittert. Entstanden ist eine dünne Schicht wie aus Schotter, die der Geologe Schneider »Rutschhorizont« nennt, zehn Meter stark und nass von Wasser, das dort durch den maroden Berg rinnt.
»Das Wasser ist der Schlüssel«, sagt Schneider.

Das Wasser schmiert den Rutsch. Das Wasser lässt den Berg gleiten. Jeder Regentropfen, jedes Sommergewitter, jeder Herbstschauer.
Oder taut hoch über Brienz der Berg auf?

Schneider zieht die Schultern hoch. Alle fragen ihn das. Eigentlich sucht ein Geologe Antworten in der Vergangenheit, aber jetzt drängt die Gegenwart, »und jeder verlangt eine sofortige Erklärung«.

Am tauenden Permafrost könne es in Brienz kaum liegen, sagt Schneider, dazu sei der Berg über dem Dorf nicht hoch genug.
Auch hat es in jüngster Zeit nicht mehr geregnet als früher, nicht im Jahresmittel.

Und doch ist da etwas, ein Muster: Immer im Frühjahr rutscht der Hang besonders schnell. Wenn mit dem Ende des Winters der Schnee taut, wird die Erde mit Wasser getränkt, kontinuierlich und wochenlang.
Der letzte Winter war sehr warm und schneereich. Das geht oft miteinander einher.

»Und mit dem Klimawandel wird sich der Wasserkreislauf in der Atmosphäre beschleunigen«, sagt Schneider. Regen, der einmal fiel, könnte zweimal fallen. Und Schnee, der einmal schmolz, könnte wieder tauen und noch mal fallen.

Oben in Brienz sagt der Bergbauer Georgin Bonifazi: »Regen ist nicht mehr Regen.«
»Bei jedem Wetter denke ich andersrum als früher«, sagt seine Frau Annette. »Wenn’s lange Trockenperioden hat, war das früher schlecht. Jetzt ist es gut.«
»Bei jedem Knall denke ich, die Steine kommen«, sagt eine Nachbarin.
»Sobald unsere Katze für einen Tag verschwindet, denke ich immer, das ist ein Zeichen«, sagt eine andere.

Georgin Bonifazi hat in diesem Sommer eine seiner Weiden aufgegeben, » La Mola«, nicht nur seine Kühe tragen Namen. Die Wiese sei so wirr gewellt »wie ein verzogenes Tischtuch«, man könne dort nicht mehr mähen, sagt er.

Wenn Bonifazi von seinem Hof am Ortsrand den Kapellenweg, die Voia Tgaplotta, hinauf zum Dorfplatz geht, kommt er am Hof seiner verstorbenen Eltern vorbei. Die Wände geborsten, Fenster schief in den Angeln. Um zu zeigen, was schon jetzt verloren ist, führt er hinein in das Haus, das nur noch Hülle ist. Die Böden schief, im Bad seiner Kindheit die hellblauen Fliesen geplatzt. In einem Spiegelschrank steht noch eine Flasche 4711. In der Küche hängt ein Kalender von 2015, dem Todesjahr der Mutter. Im Flur Jagdtrophäen an der Wand. Im Vorbeigehen streichelt Bonifazi die kalkweiße Schädelplatte eines Sechsenders. »Mein erster«, sagt er.

Wie in diesem Haus könnte es bald in jedem sein. Fast alles in Brienz wird mit den Augen des Abschieds betrachtet und in vielem eine Ankündigung dessen gesehen, was bevorsteht.

Geborgen im Moment scheint im Dorf nur noch Hermann Bossi zu sein, neben dessen Haus auf dem Kirchhügel die Geologen eine ihrer Kameras installiert haben, um den Fels im Blick zu behalten. Das graue Gerät hinter Glas kümmert Bossi nicht weiter, weil er sich Schutz von jemand anderem verspricht.

Bossi ist ein kleiner Mann mit Cäsarenstirn, 79 Jahre alt und als Sakristan der Kirchgemeinde Hüter des Gotteshauses auf dem Felssporn. Die Kirche wurde vor Jahrhunderten dem Dorfheiligen Calixtus geweiht, einem Mann, als römischer Sklave geboren, zum Christen bekehrt, zum Papst aufgestiegen, als Märtyrer gestorben.

»Calixtus mit C, nicht mit K«, sagt Bossi, schreit es eher. Nicht weil er streng wäre, sondern weil Schwerhörigkeit ihn umschließt.
Jeden Herbst hat Bossi etwas Besonderes zu erledigen, so jetzt wieder. Das jährliche Patrozinium steht an, eine Prozession durchs Dorf zu Ehren des Calixtus mit C.
»Und ich bereite das vor!«, ruft Bossi.

Mit dem schleifenden Schritt eines alternden Mannes betritt er die Kirche. Steinboden, Holzgestühl, in der Apsis goldglänzend ein dreiflügeliger Altar, 500 Jahre alt und aus der Werkstatt des berühmten Bildhauers Ivo Strigel, womöglich vom Meister selbst geschnitzt.
Dörfer werden oft unterschätzt.

In der Sakristei öffnet Bossi Schubladen und Schränke, streckt sich bis zu den obersten Fächern, zieht eine sonnenförmige Monstranz hervor, legt ein silbernes Kreuz zurecht, »für den Wettersegen«. Dann läuft er hinüber ins Pfarrhaus, wo samtene Fahnen hängen, bestickt mit einer Muttergottes voller Sanftmut und Calixtus in päpstlicher Pracht. Schließlich macht sich Bossi daran, den Kirchturm hinaufzusteigen, der um einen halben Meter aus dem Lot ist.

Stufen knarren, Bossi keucht, zweimal stolpert er. Spinnweben, Vogelkot, Wind im Gebälk. Unten die Dächer des Dorfes. Auf einer Weide nah am Stall Georgin Bonifazis Kühe. Im Garten vor Bossis Haus buckelt sich seine Frau Maria durch verblassende Pracht. Solange etwas blüht, bindet sie daraus Sträuße für die Kirche, jeden zweiten Sonntag, öfter kommt der Pfarrer nicht mehr.

Die katholische Gemeinde hat einen entlegenen Munitionsbunker der Armee gemietet, eine leer stehende Halle auf festem Grund, Platz für den Kirchenschatz und den Strigel-Altar, was Hermann Bossi missfällt. Er und seine Frau haben nicht mal eine Tasche gepackt. »Wird’s nicht brauchen«, sagt er, als er oben ist, schwer atmend. Mit den Knöcheln seiner Hände schlägt er an eine Glocke, die die Brienzer im Jahr 1912 in den Turm gehängt haben. Und dann fährt er mit den Fingerkuppen über eine Inschrift im Metall:

Lubrica saxa manu retine caliste potenti! Atque tuere tuum sancte patrone locum.

Eine Übersetzung würde lauten: Durch deine mächtige Hand, Calixtus, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, heiliger Patron, diesen Ort. Der alte Mann im Turm sagt es anders: »Der heilige Calixtus behütet uns. Es ist noch nichts Gravierendes passiert, es gab keinen Toten. Das ist vielleicht ein Beweis.«

Wenn die Geschichte eines Dorfes zu Ende gehen könnte, wird ihr Anfang besonders interessant. Wer war der Erste, der hier siedelte? Was trieb ihn auf diesen Hang, von dem der Bergbauer Bonifazi sagt, eigentlich sei er ein Paradies: Südlage, sogar im Dezember Sonne, stets genug zu fressen fürs Vieh. Hat der erste Siedler seinen Ahnen einen Gefallen getan? Hätte der zweite etwas merken müssen? Der dritte? Wann haben die Menschen begriffen, dass etwas nicht stimmt?

Das wisse er nicht genau, sagt der Gemeindeschreiber von Brienz, als er das Archiv am Dorfbrunnen aufschließt und so schnell verschwindet, wie er gekommen ist. Er hat Dringlicheres zu tun. Als Gemeindeschreiber verwandelt er Politik in Akten, Aufgaben in Aufträge, die Straße zum Dorf hat sich wieder verschoben, das Jahresbudget für 2020 muss neu berechnet werden, alles ist in Bewegung.
Also müssen alte Bücher über früher sprechen.

Es könnte ein des Kämpfens müder, ausgedienter römischer Soldat gewesen sein, der den Hang für sich entdeckte. Damals herrschte in der Gegend reges Hin und Her, über Julier- und Septimerpass. Der Ortsname, so die Vermutung, hat sich aus dem lateinischen primum solum entwickelt, erste Hofstatt. Das Wort verformt sich rasch, zunächst zu Brienzola, urkundlich erwähnt um 840, als das Reich der Karolinger zerfiel und die neuen Herren eine Art Inventur machten.

Im Jahr 1627 erbitten ein Jacob und eine Dominica die Taufe ihrer Tochter Ursula. Es ist der älteste erhaltene Eintrag im Geburtsregister.
1689 fleht ein Andrea Durisch vor dem Dorfgericht »demietigst« um Gnade für seine »Geschweie«, seine Schwägerin Barbla, die Jahre zuvor wegen Ehebruchs aus dem Ort verbannt wurde.

Laut altem Urkundenbuch des Dorfes werden »in gutem wyllen« Wiesen zugesprochen und Wälder verteilt. Wenn ein Bauer sein Vieh auf der Weide eines anderen grasen ließ, wird »Alpfrevel« angezeigt und »Alpgerechtigkeit« eingefordert. Es geht »fürohin und zu allen Zeiten« um Land, von dem man annimmt, es sei unverrückbar.

Dann bricht in der Nacht zum 31. März 1874 mitten im Ort ein Feuer aus, »und in wenigen Stunden war das schön gelegene Bergdörfchen bis auf einen kleinen Teil eingeäschert«, so steht es im Freien Rhätier. 24 Häuser und 26 Ställe niedergebrannt, nur zwölf stehen noch, unter den Geschädigten finden sich Bossis und Bonafazis. Die Zeitung berichtet von einer »furchtbaren Schicksalsstunde«. Zwar seien »Hülfsmannschaft und Spritzen« schnell vor Ort gewesen, »allein man hatte kein Wasser. Brienz hat einen einzigen Brunnen, kein Bächlein, keinen Weiher.« Was noch nicht brannte, rissen die Bauern eilig ab, um das Holz ihrer Höfe vor den Flammen zu retten. Wer konnte, löschte mit Milch.

Danach stiegen die Brienzer in den Wald über dem Dorf und rodeten Bäume für den Wiederaufbau.

Vier Jahre nach dem Feuer, 1878, nach tagelangem Novemberregen, begann der nun kahle Berg über Brienz zu bröckeln. In jener Zeit, so erzählen es die Bewohner heute, entdeckten ihre Vorfahren auch seltsame Schlenker in den Wegen.
Vielleicht, sagen einige Brienzer, war es mit dem Fällen des Waldes um das Dorf geschehen.

Allerdings hatte es schon Jahre zuvor wenige Hundert Meter entfernt einen großen Felssturz gegeben. Die Geologen sagen, vermutlich sei der Hang schon mit dem Ende der Eiszeit ins Rutschen geraten, unwesentlich, unmerklich, unumkehrbar. Als Kind wurde der Bergbauer Bonifazi von seinem Vater vor einem zerklüfteten Vorsprung im Berg gewarnt, vor dem Bonifazis Vater schon von seinem eigenen Vater gewarnt worden war: dem Bot dallas Fessas, dem »Spaltenhügel«. Einst soll ein ganzer Ochse darin verschwunden sein. Noch zwei Tage hätten die Brienzer das Tier aus dem Berg brüllen hören, heißt es bis heute.
Womöglich wäre der Hang also auch ohne das Roden nach dem Dorfbrand abgesackt.

Korrelation oder Koinzidenz, nachträglich schwer zu trennen. Und der Berg äußert sich nicht.

Es geschah in diesem Sommer, an einem Tag im August. Georgin Bonifazis Tochter Ladina hatte Ferien und war im Tal im Freibad gewesen, als der Postbus zurück nach Hause eine andere Strecke fuhr als sonst.
Etwas musste passiert sein.

Ladina ist elf, eines der wenigen Kinder im Dorf, einziges Mädchen. »Gibt hier leider nur Buben«, sagt sie.
Sie möchte Bäuerin werden wie ihre Mutter. Oder Tierärztin. Oder Krankenschwester.
Sie hätte gerne ein Pferd. Manchmal sattelt sie im Stall des Vaters einen Strohballen und reitet darauf.
Es kann langweilig sein unter Erwachsenen.

An jenem Tag aber, an dem der Postbus auf dem Weg hinauf ins Dorf abbog, wo er sonst geradeaus fuhr, war ein Fels aus dem Berg über Brienz gebrochen. Immer wieder fallen Brocken aus der Wand, dieser war einer der größten, die Geologen aus der Stadt schätzten ihn später auf 150 Tonnen. Mit dumpfen Schlägen stürzte der Fels durch den Rest von Wald, zerbrach einige Bäume, sprang über die Straße, rollte auf eine Weide und blieb neben dem Spielplatz liegen.
Nachdem Ladina auf Umwegen nach Hause gekommen war, lief sie zum Stein und stieg hinauf.
»Erstbegehung«, sagt ihr Vater Georgin und lächelt.

Hin und wieder können Kinder Schrecken in Spiel verwandeln. Dennoch fragen sich Ladinas Eltern: Was macht das mit ihr?
Als der Stein stürzte, war im Dorf schon klar, Brienz würde nicht nur im Fall eines akuten Kollapses geräumt, sondern aller Voraussicht nach auch, wenn sich die Rutschgeschwindigkeit des Hangs auf zwei Meter im Jahr beschleunigt. Die Bonifazis hatten eine Informationsbroschüre Evakuierungsablauf erhalten, darin eine Checkliste:

– Packen Sie Ihr Notgepäck.
– Bereiten Sie Ihre Wohnung für Ihre Abwesenheit vor: Elektrogeräte ausschalten, Gas- und Wasserhahn schliessen, offene Flammen löschen, Fenster schliessen und Haustüre abschliessen.
– Nehmen Sie Ihre Haustiere mit.
– Passieren Sie bitte die Kontrollstelle »Brücke Belfort«.

Ein Treck von Verlorenen wäre da unterwegs, mitten in der Schweiz.

Jetzt, im Herbst, sagt Ladina, sie habe nicht so sehr Angst vor den Steinen. Sie hatte lange Angst, dass der Kirchturm kippt und ihre Lieblingsnachbarin im Haus direkt darunter erschlägt, »die alte Rosa«. Nun ist Rosa gestorben, der Turm steht weiterhin, und Ladina hört die Erwachsenen von »Evakuierung« sprechen. Ladina sagt, jetzt sorge sie sich, von anderen getrennt zu werden. Ihre Schule liegt einen Ort weiter westlich auf der Bergflanke, dort lebt auch Minna, ihre Freundin aus der fünften Klasse. Im Fall der Fälle soll die Familie allerdings in den nächsten Ort ostwärts fliehen.

»Wenn der Berg rutscht, und ich bin zu Hause«, sagt Ladina, »dann laufe ich mit meinen Eltern fort, aber ich komme nicht mehr zu Minna.«
»Und wenn der Berg rutscht und ich in der Schule bin«, sagt sie, »dann komme ich nicht mehr zu meinen Eltern.«
Ladina hat sich überlegt, dass sie dann bei Minna unterkommen könnte. »Nur zum Schlafen«, sagt sie, »nicht zum Wohnen.«

Eine Möglichkeit gäbe es eventuell, den Berg zu stoppen. Die Kunde ist schon ins Dorf gedrungen.

Die Geologen denken an einen Tunnel. An einen Entwässerungsstollen, den sie oberhalb des Dorfes quer durch den Berg treiben könnten. Knapp unterhalb des »Rutschhorizonts«. Der Tunnel würde das Wasser auffangen und ableiten. Den Hang trockenlegen. Und so das Dorf bewahren und auch die Schienen und Straßen im Tal.
Vielleicht.

Das Ganze ist eher Idee als Plan, die Experten wissen nicht, ob der weiche Stein auch noch einen Stollen verträgt. Sie können auch noch nicht sagen, wo viel Wasser fließt und wo wenig. Sie kippen oben im Berg Farbe in den Boden und warten, dass unten etwas rauskommt. Wörter wie »diffus« und »Drainierbarkeit« fallen. Es würde Jahre dauern, bis ein solcher Tunnel fertig wäre.

Ganz am Rande des Dorfes lebt ein Paar, das nicht weiß, ob es so lange warten will. Und was es von einem Tunnel halten soll.

Die Plattners, Hanspeter und Colette. Er leitet eine kleine Firma für Gebäudetechnik, Heizung, Sanitär. Sie malt. Er ist ein drahtiger Typ, einst Skiakrobat, Mitglied der Schweizer Nationalequipe. Sie schmal und mit der Körpersprache eines Menschen, der stets zu frieren scheint. Er ist der Mann, der mit dem Zollstock durchs Dorf läuft. Sie die Frau, die bei jedem Knall aufhorcht.

Vor einigen Jahren, als ihre Kinder groß geworden waren, zogen sie herauf nach Brienz und sanierten einen verlassenen Stall. Jetzt ist da wieder Leben und Licht, »alles beheizt nur mit Sonne und Holz«, sagt er.

Sie hatten sich diesen Ort zum Altwerden ausgesucht, mit Sicht gen Süden, fast schon Italien. Aber nun hat Hanspeter Plattner sich einen abschließbaren Autoanhänger für sein Werkzeug gekauft und einen Stellplatz im Tal gemietet; mit all den Hämmern, Zangen, Schraubschlüsseln bringt er seine berufliche Existenz in Sicherheit. Seine Frau hat nicht nur eine Tasche gepackt, sondern mehrere. Darin fast ein ganzes Leben, ihr Hochzeitskleid, »vor 36 Jahren selbst genäht«, Geburtstagsgeschenke der Kinder, Filzstiftbilder, Glückwunschkarten:

Lieber Papa. Ich schenke Dir ein Gutschein für einmal rasenmähen. Nico

Jeden zweiten Tag fotografiert Hanspeter Plattner den Berg aus derselben Perspektive. Jeden Monat misst er per Laser, ob sich sein Haus verformt. Als vor einigen Jahren eine größere Schuttlawine niederging und eine Staubwolke das Dorf verdüsterte, blieb Plattner nicht daheim, sondern streifte sich eine Stirnlampe über und lief wie ein Höhlenforscher durch die Straßen, dem Lichtkegel hinterher.
Noch ist er nicht fortgezogen, aber es wirkt, als habe er sich schon in die Rolle des Dokumentars geflüchtet.

Aus dieser Distanz heraus, in ihrem Haus am Rand des Dorfes, haben die Plattners eine Meinung gefasst: Jetzt macht sich die Erde etwas untertan. Der Mensch hat verloren. Er hat hier oben nichts mehr zu suchen.
Sie sagt, sie wolle nicht noch einen Tunnel, »die Alpen haben längst zu viele Wunden«.
»Die meisten getrauen sich das nicht auszusprechen«, sagt er.
»Ist es wirklich legitim, dass wir alles tun, um ein Dorf mit 80 Einwohnern zu behalten, auf Kosten der Allgemeinheit?«, fragt sie.
All der Stress, das Warten, die Unwägbarkeiten, der Beton, die Millionen. Warum Geld und Gestaltungskraft nicht für ein neues Brienz an einem sicheren Ort verwenden?

Die Plattners würden weniger verlieren als die Bauersfamilie Bonifazi, aber verlangen die Bonifazis deshalb zu viel? Wer will sich anmaßen, das zu entscheiden. Es gibt kein Richtig und kein Falsch in dieser Angelegenheit, keinen objektiven Standpunkt, nur lauter subjektive Sichtweisen. Es geht um Fortschrittsmut und Demut vor den Bergen. Es geht um Geld, das zählbar ist, und um Heimat, die unbezahlbar ist. Brienz ist ein Präzedenzfall. Es hat in Europa hin und wieder Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sturmfluten gegeben, oft Katastrophen aus dem Nichts. Aber wer hat schon Erfahrung mit einem schleichenden Heimatverlust durch Naturgewalt?

Vieles, was sich im Dorf abspielt, geschieht zum ersten Mal. Da sei ein Schweigen, das es früher nicht gegeben habe, sagt Georgin Bonifazi. Man will nicht immer über den Rutsch reden. Oder möchte nicht hören, was die anderen denken. Die Ängstlichen werden ängstlicher, die Zornigen zorniger, die Arbeitsamen arbeitsamer und die Gläubigen gläubiger.

»Der Rutsch zeigt, wer glaubt und wer nicht«, sagt Hermann Bossi, der schwerhörige Sakristan. »Wer nicht glaubt, ist vage, auch im Leben.«
Georgin Bonifazi meldet sich hin und wieder mit Ideen beim Amt für Naturgefahren. Er wird fast verrückt, wenn dort jemand zwei Wochen Urlaub nimmt, macht er doch auch nicht. Er kennt den Berg von Kindheit an und glaubt zu wissen, wo besonders viel Wasser fließt. Neulich hat er den Geologen eine Mulde gezeigt, unter der schon sein Vater eine unterirdische Quelle vermutete. Jetzt wird ein Weg hinauf planiert und auch dort gebohrt.
Die Plattners denken sich unterdessen immer weiter weg aus dem Ort.

Und im Internet steht nun auch eine Ferienwohnung knapp außerhalb des Rutschgebietes zum Verkauf, laut Annonce ein »Glanzstück«.
Nicht nur der Berg ist in Bewegung, auch das Dorfgefüge. Kleine Risse überall. Soziologen würde wohl vor allem der Spalt zwischen den eher Mobilen und den eher Ortsgebundenen interessieren. Zwischen den fluchtfähigen Anywheres mit ihrem leichten Gepäck und den Somewheres mit ihrem Vieh.

Mag sein, dass Begriffe wie Anywheres und Somewheres zu groß sind für das kleine Brienz, dass sie in ihrer Absolutheit den Einzelnen unrecht tun. Aber selbst in diesem Schweizer Dorf kommt ein Konflikt auf: Die modernen Mobilen spüren plötzlich Demut gegenüber der Natur – oder auch nur gegenüber einer vom Menschen aus dem Gleichgewicht gebrachten Natur. Und die traditionsbewussten Sesshaften drängen darauf, dass die Moderne all ihre Mittel nutzt, um ihren Lebensraum zu retten.

Wann soll man ein Almdorf hoch oben in einem Gebirge oder eine Insel inmitten eines Ozeans halten – und wann aufgeben? Die Frage wird sich öfter stellen, je klarer der Klimawandel sich auswirkt. Und sie wird anfangs vor allem in den empfindlichen geografischen Peripherien verhandelt werden: in Lagunen, auf Halligen, an Bergflanken. Wer da für einen Rückzug aus der Welt von deren Rändern her plädiert, argumentiert strategisch logisch, ließe aber viel Ursprüngliches und Einzigartiges zuerst verschwinden.

Überlebt Brienz? In dieser Frage wird der Berg mitentscheiden. Sich von einem Tunnel beruhigen lassen oder den Menschen ihre Grenzen zeigen. Womöglich wird das Dorf in Graubünden, wo sich beinah Beispielloses tut, einmal ein Beispiel sein. Nur weiß noch niemand, wofür.
So vergehen die Tage, so rutscht der Hang, so bricht ein Sonntag an.

Im Tal, in Thusis, trägt der Geologe Stefan Schneider hoffentlich sein Handy bei sich. Ein Wissenschaftler im Wettlauf mit einem Berg. Er denke oft »an die Menschen oben im Dorf«, hatte Schneider in seinem Büro gesagt, es sei »eine Ehre, aber auch eine große Verantwortung«, dass sie ihm anvertraut seien. »Falls sich das zuspitzt, wird es eine große Herausforderung, den Leuten zu sagen: Es ist Zeit, zu gehen.«
Auf dem Berg hat Georgin Bonifazi seine Kühe in den Stall geholt.

In der Kirche betet die Gemeinde ihren Rosenkranz fürs Dorf, dann greift Hermann Bossi die Fahnen mit den Stickbildern der Muttergottes und des heiligen Calixtus, und die Alten von Brienz ziehen aus zu ihrer Prozession, angeführt von einem jungen Pfarrer in goldenem Messgewand. Zusammen sind sie wenig mehr als zehn. Der Kies des Kirchhofs knirscht unter ihren Schuhen, es geht steinerne Treppen hinab und zwischen Ställen und Höfen hindurch. In den Gassen Geruch von Weihrauch und Sonntagsbraten, Kuhmist und Holzfeuer. Über den Dächern schwere Wolken.

»Gott Vater im Himmel!«, ruft der Pfarrer.
»Erbarme dich unser«, antwortet sein Gefolge.
»Heiliger Calixtus!«
»Bitte für uns.«
Aus dem Gemurmel hallt Bossis Stimme.
»Bewahre dieses Dorf.«

Sie gehen an diesem Tag nur eine kleine Runde. Früher führte die Prozession bis zu einer Kapelle im Berg, das ist jetzt zu gefährlich. Nach zehn Minuten sind sie zurück auf dem Friedhof. Der Pfarrer sprengt Weihwasser auf die Gräber von Rosa Liesch-Caviezel, Calixt Bonifazi-Thomann und Sieri Bonifazi-Bossi. Die Lebenden singen "Großer Gott, wir loben dich" und ziehen wieder in die Kirche ein, da beginnt es sachte zu regnen.


HINTER DER GESCHICHTE

Recherche: Der Autor besuchte das Dorf erstmals im Mai dieses Jahres, im Herbst verbrachte er eine knappe Woche dort.
Dilemma: Als am Ende Regen ein- setzte, steckte der Reporter in einem Zwiespalt. Die Szene war symbolträchtig – aber ob manche an so einem Zufall zweifeln würden? Er steckte Stift und Notizblock weg, holte sein Handy aus der Tasche, öffnete eine Regenradar-App und machte zum Beweis einen Screenshot.
Nach der Recherche: Seit seiner Rückkehr aus der Schweiz kontrolliert der Autor täglich in derselben App das Wetter in Brienz – und freut sich über jedes Sonnensymbol.