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True Story Award 2021

Der Fall seines Lebens

Mario Melzer war Ermittler im NSU-Komplex. Als ihm Ungereimtheiten in der Polizeiarbeit auffielen, bemühte er sich um Aufklärung. Seine Behörde hat ihn nicht unterstützt, im Gegenteil. Was ein Polizist erleben kann, der gegen Rechtsextreme vorgeht.

Mario Melzer steht vor seinem Haus, einer Art Blockhütte, sie liegt an einem Hang am Ortsrand mit Blick auf den Thüringer Wald. Es ist Mittag, die Sonne scheint auf die Terrasse, taucht das Tal mit den Fachwerkhäusern in gleißendes Licht. Hierher ist Melzer 2012 gezogen, um Ruhe zu finden. In den Bergen suchte er Abstand zu seiner Arbeit, den jahrelangen Ermittlungen im rechtsextremen Umfeld und den grausigen Enthüllungen nach der Selbstenttarnung des NSU, jener rechtsextremen Terrorzelle, die zehn Menschen getötet hat. Melzer ist 49, klein, kräftig, und er redet ohne Pause, wie einer, der jeden Augenblick damit rechnet, dass sein Gegenüber das Interesse verlieren könnte. Zwischendurch sieht er sich immer wieder um und senkt die Stimme, als fürchte er ungebetene Zuhörer.

Melzer wurde schon öfter von Rechtsextremen bedroht. Aber nun fühlt er sich selbst in seinem eigenen Dorf nicht mehr sicher. Es ist, als sei Mario Melzer nach langen Jahren bei der Polizei vom Jäger zum Gejagten geworden.

1991 begann er beim Landeskriminalamt Thüringen. In den Neunzigerjahren hat er erst in der Sonderkommission Rechtsextremismus, später dann in der Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus Rechtsextreme verfolgt. Er ermittelte auch gegen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, das NSU-Trio, das damals noch nicht als Trio bekannt war. Mehrmals hat er Beate Zschäpe und auch Uwe Böhnhardt vernommen. Bevor die drei 1998 untertauchten.

Es gibt Fälle, die begleiten einen Polizisten ein Leben lang, die haben die Kraft, die Existenz zu beherrschen, und manchmal auch, sie zu zerstören. Der NSU-Komplex ist so ein Fall.

Seit dem 4. November 2011, dem Tag der Entdeckung des Trios, herrscht in Melzers Kopf der Konjunktiv. Er fragt sich bis heute, ob zehn Menschen vielleicht noch leben könnten, wenn es damals nicht diese Reihe von Fehlern, Pannen, Ungereimtheiten und Behinderungen bei den Ermittlungen gegeben hätte. Deshalb bemüht er sich auch als einer der ganz wenigen involvierten Polizisten um Aufklärung. Melzer sagt vor zahlreichen Untersuchungsausschüssen aus, er kritisiert die Polizeiarbeit, Kollegen und Vorgesetzte. Dass es dem Trio gelang unterzutauchen, nennt er ein Versagen der Sicherheitsbehörden. Das hat ihm Anerkennung gebracht von Anwälten, Politikern, Journalisten. Und 2016 hat ihn die Arnold-Freymuth-Gesellschaft, die sich als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Anschläge in Solingen und Hoyerswerda gründete, für sein »unerschrockenes und hartnäckiges Engagement als Aufklärer« geehrt.

Seine Behörde hat ihn jedoch nicht unterstützt. Im Gegenteil. Er wurde blockiert, versetzt und im Kollegenkreis isoliert. Nun verfolgt ihn seine Vergangenheit bis in sein Dorf.

Im Jahr 2013 hat die Autorin Mario Melzer schon einmal getroffen. Kurz nachdem er im NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag ausgesagt hatte, erschien im ZEITmagazin der Text über ihn und einen Kollegen, in dem beide zu dem Schluss kamen, dass man das Trio früher hätte fassen können. Damals war Melzer noch aktiver Polizeibeamter. Damals war er wütend, laut und vor allem kampfeslustig. Aber schon 2013 wurde er auf seiner Dienststelle beim LKA nicht mehr sehr geschätzt. Seitdem ging es mit seiner Laufbahn immer weiter abwärts. Als hätte er sich auf eine Talfahrt begeben, die nicht aufzuhalten ist.

Auf den ersten Blick hat sich Mario Melzer in den vergangenen sechs Jahren kaum verändert, er redet noch immer rastlos. Nur liegt in seinen Worten nun eine andere Dringlichkeit, die eines Menschen, der mit dem Rücken zur Wand steht, der um seine Existenz kämpft. Melzer kann nicht mehr arbeiten. Seit 2016 ist er krankgeschrieben. Seine Tagesstruktur, sein gesamter Lebensinhalt ist weggebrochen. Nun steht er vor seiner Hütte, und es ist sehr still. Jedem Geräusch horcht Melzer nach. Jeden Tag wacht er mit den Gedanken an den NSU auf und geht am Abend mit ihnen zu Bett. Er schläft keine Nacht durch. Manchmal wird die Panik so groß, dass er kaum noch Luft bekommt. So als würde sich der Boden unter ihm auftun und er ohne Halt in den Abgrund rauschen. Dann zweifelt er an allem, auch an sich selbst – ob es nicht besser gewesen wäre zu schweigen, zum Beispiel. Oft nimmt er seine Worte sogleich wieder zurück, wägt stets ab, ob und wie sie gegen ihn verwendet werden könnten. Mario Melzer wirkt wie traumatisiert. Dabei wollte er nur aufklären.

Melzers Fall zeigt, wie es einem Polizisten heute ergehen kann, der gegen Rechtsextreme ermittelt und sich für Aufklärung einsetzt.
Schon 1997, sagt Melzer, habe ihm André K., mutmaßlicher NSU-Unterstützer und führendes Mitglied der Kameradschaft Jena, der auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angehörten, gedroht: »Am Tag X bist du dran, du Scheißbulle!« Melzer zeigte K. daraufhin an, der zahlte eine Geldstrafe. Später musste André K. als Zeuge im NSU-Prozess über seine Verbindungen zum Trio aussagen.

Doch nun sollen die Drohungen aus Melzers Dorf kommen, aus seinem Rückzugsort. Es begann mit einer Art Streit unter Nachbarn. Von der Terrasse seiner Blockhütte deutet Melzer auf die Wiese neben seiner Hütte. Dort erblickt er an einem Wintermorgen im November 2018 zwei Kühe. Sie liegen reglos in ihrem Kot im Schnee.

Ein Nachbar hat Melzer auf die Rinder hingewiesen, er sei doch Polizist, vielleicht könne er sich darum kümmern? Und Melzer kümmert sich. Denn er hat beobachtet, dass die Kühe oft bei Minusgraden und ohne ausreichend Futter tagelang draußen im Frost stehen. Sie gehören Landwirten aus seinem Dorf. Melzer verständigt das Veterinäramt. Er hat die Tiere an jenem Tag auch fotografiert, auf den Bildern sieht man die beiden Rinder in ihren Exkrementen.

Die Kühe werden von einem Tierarzt untersucht, eine davon ist verendet. Die Landwirte, ein Paar, werden befragt. Melzer zeigt sie wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz an. Dann geschieht erst einmal nichts.

Aber nun soll die Frau des Paares im Dorf verbreitet haben, dass sie Melzer »wegmachen lassen wollen«. Das bestätigen zwei Zeugen gegenüber dem ZEITmagazin. Die Frau habe gesagt, sie würden »Leute aus Jena« kennen, erinnert sich einer der Zeugen, »die würden das für sie erledigen«. Mit »Leuten aus Jena« assoziiert der Zeuge Rechtsextreme, fast alle im Dorf kennen Melzers Vergangenheit. Auch Melzer hört davon, besorgte Nachbarn rufen bei ihm an und warnen ihn. Spricht man das Paar auf die Vorwürfe an, erklärt es, es habe Melzer niemals bedroht.

Früher als aktiver Polizist hätte Melzer solchen Sätzen vielleicht nicht viel Bedeutung beigemessen. Doch parallel zu Melzers beruflichem Abstieg hat sich die gesellschaftliche und politische Stimmung in Deutschland polarisiert. Melzer kann in den vergangenen sechs Jahren dabei zusehen, wie sich das Land mit der Ankunft der Flüchtlinge und durch den Aufstieg von Pegida/Thügida und der AfD spaltet. Nun führt in Melzers Heimat Björn Höcke die AfD. Ein Mann, den man Faschist nennen darf, wie kürzlich ein Gericht entschieden hat. Ein Mann, der zugleich Chef des rechten Flügels seiner Partei ist, in dem Melzer zum Teil auch das Umfeld des ehemaligen NSU vermutet. Mit dem Erstarken der Populisten wendet sich Melzers Vergangenheit als NSU-Aufklärer und Neonazi-Verfolger gegen ihn und wird zum vermeintlichen Drohmittel.

Bis heute weiß niemand, ob das Landwirtspaar tatsächlich Kontakt zu Rechtsextremen hat oder ob die beiden es im derzeitigen politischen Klima nur für besonders wirkungsvoll halten könnten, einen Mann wie Melzer damit zu ängstigen.
Nach allem, was Melzer in den vergangenen Jahren widerfahren ist, und nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem rechtsextremen Anschlag in Halle bekommen die Worte des Landwirtspaares für Melzer jetzt einen anderen Klang. Beunruhigend. Aus diesem Grund bleiben der Name von Melzers Wohnort und die Namen einiger Beteiligter, die darauf Rückschluss geben könnten, in diesem Text unerwähnt.

Laut Staatsanwaltschaft Meiningen geht im Januar 2019, zwei Monate nachdem Melzer das Paar angezeigt hat, beim Verfassungsschutz Thüringen ein anonymes Schreiben ein. Der oder die Verfasser(in) schildert darin die Bedrohung Melzers durch das Landwirtspaar, offenbar um die Behörden zu alarmieren. Wer diesen Text geschrieben hat, ist bis heute nicht geklärt. Daraufhin beginnt Melzers Arbeitgeber, das LKA Thüringen, wegen Bedrohung Melzers zu ermitteln, die Staatsanwaltschaft Meiningen übernimmt den Fall.

Von seiner Terrasse hat Melzer einen guten Blick auf das Dorf, er beschreibt es als gespalten. Es gibt Einwohner, die zu den Landwirten halten, aber auch einige, die auf Melzers Seite stehen, ebenso Ärger mit dem Paar haben und mit Melzer eine Art Bürgerinitiative gegründet haben. Der Landwirt ist ein alteingesessener Dorfbewohner, die Frau ist vor ein paar Jahren aus einem anderen Ort in Thüringen mit ihren Kindern zu ihm gezogen. Sie hat es in der Gegend zu einiger Bekanntheit gebracht. Schon Zeitungsartikel aus dem Jahr 2007 berichten über sie. Auch sie handeln von Anwohnern, die sich über sie und ihren damaligen Partner beschweren. Es geht um Tierquälerei und ein vorläufiges Tierhalteverbot für sie. In den Berichten steht, dass die Frau und ihr damaliger Partner zu keiner Stellungnahme bereit gewesen seien.

Auch im neuen Dorf mit neuem Lebensgefährten häufen sich die Anzeigen und Verfahren, die meist aber wieder eingestellt werden. Seit Mai 2019 gibt es im zuständigen Landratsamt eine eigene Arbeitsgruppe zum Tierhaltungsbetrieb des Landwirtspaares, den offiziell nur der Mann führt. Im Landratsamt weiß man um das »Aggressionspotenzial« des Paares. Und auch von den angezeigten Drohungen gegen Mario Melzer.

Wenn Melzer durch sein Dorf läuft, begegnet er den beiden fast jeden Tag. Sie fahren mit dem Auto an ihm vorbei, und ihre Tiere weiden noch immer auf der Wiese neben Melzers Blockhütte. Melzer erzählt, manchmal verfolgten die beiden ihn mit dem Wagen, und einmal habe der Mann ihm seine Faust entgegengereckt.

»Ein Scheißgefühl ist das«, sagt Melzer. Er war zuvor schon angeschlagen. Dieser Vorfall hat ihm die letzte Sicherheit geraubt – sein Zuhause. »Nun kann ich mir aussuchen, vor wem ich mehr Angst haben soll, vor den neuen oder den alten Rechten«, sagt er. Melzers Anwalt, Gerald Burkard, beschreibt Melzers Situation als latent bedrohlich. »Das ist wohl mehr als ein Nachbarschaftsstreit. Ein Gefährdungspotenzial ist nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, da die Personen, um die es geht, anscheinend nicht unauffällig in ihrem Sozialverhalten waren und man Kontakte zur rechten Szene nicht zwingend ausschließen kann.«

Wie konnte es so weit kommen? Wie gerät ein LKA-Beamter derart in die Defensive? Um das zu erklären, bittet Melzer ins Innere seiner Blockhütte. Sie ist klein, zwei Zimmer, alles holzvertäfelt. Er lebt allein, seine Partnerin wohnt in einem anderen Ort. Karierte Gardinen hängen vor den Fenstern, die Wanduhr schlägt zur vollen Stunde. Doch selbst hier drinnen fühlt sich Melzer nicht wirklich sicher, bei brisanten Themen wird er während des Gespräches immer wieder vor die Tür bitten – außer Reichweite des Handys. Er muss noch einmal tief in die Vergangenheit zurück, in die Neunzigerjahre, zu seinen Ermittlungen gegen die rechtsextreme Szene in Thüringen und den Gründen, warum seine damaligen Bemühungen scheiterten.

In den Jahren 1996 bis 1998 kam es in Jena zu mehreren Vorfällen, die Melzer in Erinnerung geblieben sind, die ihm zeigten, wie gefährlich das spätere NSU-Trio schon damals war. Am 2. September 1997 stießen Kinder vor dem Jenaer Theater auf einen Koffer mit einem Hakenkreuz darauf, darin lag eine selbst gebaute Bombe, gefüllt mit zehn Gramm TNT. Melzer hat die Bombe später auch gesehen. Für ihn deuteten alle Indizien auf die Kameradschaft Jena, der auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angehörten.

Aus dem rechtsextremen Umfeld bekam Melzer zusätzlich Hinweise, dass Uwe Böhnhardt Bomben bastle. »Für mich standen die Leute um Böhnhardt als Hauptverdächtige fest«, sagt er. Zugleich wusste Melzer damals schon, dass das Kameradschaftsnetzwerk von Tino Brandt, einem V-Mann des Verfassungsschutzes, angeleitet wurde. »Das war eine Bombe und keine Attrappe mehr, da hat es mir gereicht«, sagt Melzer. All das hat er später auch in den verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüssen erzählt. Die Öffentlichkeit erfuhr von Brandts Spitzeltätigkeit erst 2001. Während Brandt als V-Mann arbeitete, liefen 35 Ermittlungsverfahren gegen ihn, darunter eines wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Verurteilt wurde er nie.

Am 3. April 1996 hing eine Puppe mit einem Davidstern an einer Autobahnbrücke in der Nähe Jenas. Daneben standen ein Karton und ein Verkehrsschild mit der Aufschrift »Bombe«. An jenem Tag sollte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, bei einer Veranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald auftreten und diese Autobahn entlangfahren. Auf dem Karton fand man seinerzeit Uwe Böhnhardts Fingerabdrücke.

Im Zuge seiner Ermittlungen stieß Melzer darauf, dass Bubis zuvor bei einer Zusammenkunft der Freimaurerloge in Jena gewesen und dort von »offensichtlich der rechten Szene zugehörigen Jugendlichen« angesprochen worden war. Die hätten Bubis gefragt, ob er zu einer Diskussion mit ihnen bereit wäre. Melzer erfuhr davon und rief spontan beim Zentralrat der Juden an. Er sagt, er habe Bubis eindrücklich vor einem Treffen mit dieser Jugendgruppe gewarnt. Am Ende habe Bubis die Diskussionsrunde wohl abgesagt. Melzer hatte außerdem vor, mit einer Lichtbildmappe der Kameradschaft Jena nach Frankfurt zu reisen, um sie Bubis vorzulegen. Sein damaliger Chef beim LKA Thüringen, der inzwischen verstorben ist, habe ihm diese Reise jedoch untersagt, sagt Melzer. Er wolle sich selbst darum kümmern. Dazu kam es Melzers Wissen nach nicht.

Als Melzer im Oktober 2019 in den Nachrichten von dem antisemitischen Anschlag in Halle hörte, kehrte die Erinnerung an diesen Fall mit voller Wucht zurück. Im Nachhinein bekommt er für Melzer eine neue Bedeutung. Jetzt ist er froh über seine damalige Eigenmächtigkeit. »Gott sei Dank habe ich angerufen und Bubis gewarnt.« Und Melzer hat nun viele Fragen: Bis jetzt wisse man nicht, wie groß der NSU tatsächlich gewesen sei, wie viele das Trio unterstützt hätten. Melzer meint, man müsste nur in die Akten der damaligen Verfahren schauen und sich fragen: Wo sind die Verdächtigen von damals jetzt? Außerdem wurden beim Trio Adresslisten, »Todeslisten«, gefunden. Melzer würde gern erfahren, wer daraufsteht und ob die potenziellen Opfer angesprochen oder gewarnt wurden. Diese Tatsache ist besonders brisant, weil auch der ermordete Walter Lübcke auf einer solchen Liste des NSU auftaucht. Melzer fragt sich nun, ob er womöglich selbst auf so einer Liste ist.

Das sind die Fragen, die Melzer durch den Kopf gehen, wenn er allein in seiner Hütte sitzt. Fragen, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Wenn er davon erzählt, wird er immer lauter, redet immer schneller, alles scheint sich zu verdichten. Man kann körperlich spüren, wie sein Adrenalinpegel steigt. So ist es nun auch mit den Kühen und den Nachbarn: »Ich kann nicht wegsehen.« Wer ihn in diesen Augenblicken erlebt, ahnt, dass Melzers Beharrlichkeit auch anstrengend sein kann. Weil er unbequem ist und weil er kein Ende findet.

Der 26. Januar 1998, der Tag, an dem das Trio untertaucht, ist im Rückblick auch der Tag, an dem sich das Ende von Melzers beruflicher Karriere bereits ankündigt. Bei einer Durchsuchung der Garagen des Trios in Jena werden 1,4 Kilogramm TNT gefunden. Aber Melzer ist nicht dabei. Zur Durchsuchung ist er als einer der Ermittler, die damals vermutlich am meisten über das Trio wissen, nicht eingeteilt. An diesem Tag passieren verschiedene Fehler und Ungereimtheiten, die bis heute nicht völlig aufgeklärt sind. Obwohl Sprengstoff gefunden wird, kann Uwe Böhnhardt, wie es aussieht, vor den Augen der Polizei wegfahren. Was Melzer damals nicht weiß: Zuvor hat es Absprachen zwischen dem LKA Thüringen, der Staatsanwaltschaft und dem Verfassungsschutz gegeben. Eine Festnahme soll nur nach Rücksprache mit dem zuständigen Staatsanwalt erfolgen, der an jenem 26. Januar aber krank ist.

Mario Melzer wird erst am Nachmittag des 26. Januar 1998, als alle Kräfte mobilisiert werden, nach Jena gerufen. »Als ich mitgekriegt habe, dass die drei weg sind, bin ich ausgerastet.« Er überwirft sich darüber mit seinem Chef, dem Ermittlungsgruppenleiter. Bald darauf wird Mario Melzer in die Zentralstelle zur Bekämpfung der SED- und Funktionärskriminalität versetzt. Melzer widmet sich fortan Verbrechen aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Ab 1999 arbeitet er dann in der Korruptionsbekämpfung. Melzer ist raus.
Doch in seinem Inneren arbeitet der Fall weiter. Über Jahre liegt das Fahndungsblatt des BKA mit den Fotos der drei in Melzers Schreibtischschublade im Büro. Er sieht es jeden Tag. Eine Mordserie des Trios an Migranten in Deutschland hat aber auch Melzer nicht für möglich gehalten.

Als das Trio am 4. November 2011 auffliegt, will Melzer das BKA und die Sonderkommissionen, die gegründet werden, um sich mit den NSU-Morden zu befassen, unterstützen. Er bekommt aber keine Genehmigung vom LKA. Als potenzieller Zeuge dürfe er nicht an den Ermittlungen teilnehmen. Erst später kann er beim BKA aussagen. Seine Behördenleitung habe ihm zu verstehen gegeben, sein »Übereifer« sei unerwünscht, sagt Melzer. Aber er gibt keine Ruhe.

Er wird als Zeuge vor den ersten Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss geladen, das Thüringer Innenministerium und das LKA gewähren ihm jedoch nur eingeschränkte Akteneinsicht. Vor seinem Auftritt im NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss 2013 macht Melzer noch einmal Druck, schließlich bekommt er die Möglichkeit, im Thüringer Justizministerium Akten einzusehen. Was er darin liest, entsetzt ihn. Zum ersten Mal erfährt er von den Vorabsprachen zwischen dem Staatsanwalt, den Ermittlern und dem Verfassungsschutz vor der Garagendurchsuchung 1998. Das gebe es sonst nicht, sagt Melzer. Die Absprachen beinhalteten, dass sich der Einsatz nur gegen Uwe Böhnhardt richten, eine Festnahme nur nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft erfolgen und kein Auto durchsucht werden sollte. »Das alles hat mich schwer belastet«, sagt er. Die neuen Erkenntnisse hinterlassen bei Melzer den Eindruck, dass das Trio vielleicht gar nicht gefasst werden sollte.

Mit diesem Eindruck ist Melzer nicht allein. »Diesen Verdacht kann man schon haben«, sagt auch Thomas Matczak von der Kriminalinspektion Jena. Matczak war im Gegensatz zu Melzer bei der Garagendurchsuchung 1998 dabei, allerdings nur um das LKA-Team zu unterstützen. Er wunderte sich damals sehr darüber, dass Uwe Böhnhardt vor seinen Augen und denen seiner Kollegen einfach wegfahren konnte. Danach hat auch Matczak sich über den Einsatz bei seinem Vorgesetzten beschwert.

Wenn man Mario Melzer in seiner Hütte im Thüringer Wald nach den möglichen Ursachen für dieses Verhalten der Sicherheitsbehörden fragt, schweigt er lange. Schließlich sagt er nur ein Wort: »Quellenschutz.« Er vermutet, man wollte die Quellen des Verfassungsschutzes im Umfeld des NSU-Trios schützen.

Melzer sagt stundenlang in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen aus. Er nennt Namen, Fehler, und er kritisiert Vorgesetzte. Er sagt, danach habe er auf einmal ehemalige Kollegen der Soko und der Ermittlungsgruppe nicht mehr erreichen können. Sie hätten ihn gemieden. Es wird still in Melzers Büro. Mails bekommt er kaum noch, Anrufe werden selten. Er sagt, Kollegen hätten ihm geraten, sich krankschreiben zu lassen. »Die Wahrheit ist doch keine Krankheit«, antwortet er ihnen. Bis er tatsächlich krank wird. 2014 fährt er in den Urlaub nach Sri Lanka, danach sind seine Lymphknoten entzündet, nur eine Notoperation verhindert eine Sepsis. Bis heute ist nicht klar, was die Ursache dafür war.

Melzer will weiter aufklären, will begreifen, was geschehen ist. Aber in seiner Dienststelle gilt er fortan vielen als Nestbeschmutzer. Beim LKA Thüringen gibt es dann eine Strukturüberprüfung. »Dabei wurde festgestellt, dass meine Planstelle überflüssig ist.« Schließlich wird Melzer zur »Geschäftsaushilfe« in den Bereich Wirtschaftskriminalität versetzt. Vielleicht ist dies ein Zufall, aber daran kann Melzer nicht mehr glauben. Das LKA will sich dazu dem ZEITmagazin gegenüber nicht äußern. In einem Schreiben der Pressesprecherin heißt es: »Fragen in Bezug auf die Dienstorganisation, insbesondere was die Verwendung von Mitarbeitern in Ermittlungsgruppen betrifft, die sich mit Schwerer und Organisierter Wirtschaftskriminalität befassen, bleiben dienstlich verschwiegen.«

Melzer sieht sich in die Enge getrieben. »Und dann bin ich peu à peu erkrankt«, sagt er. Hoher Blutdruck, Sehstörungen, übersäuerter Magen, diffuse Schmerzen. Er kann nicht mehr schlafen, und wenn er doch einnickt, hat er Albträume. Er bekommt Panikattacken und fürchtet um seine Angehörigen und seine Partnerin. 2016 geht Melzer zum ersten Mal in eine Spezialklinik für psychosomatische Krankheiten. »Ich war mit Leib und Seele LKA-Ermittler.«

Wenn es um seine Gesundheit geht, wird Melzer sehr still. Er mag am liebsten gar nicht über seine körperlichen und seelischen Beschwerden sprechen, sie zerstören sein Selbstbild vom Polizisten als hartem Kerl. Auf seiner Terrasse zitiert er einen Spruch: »Junge darf nicht feige sein, muss zeigen, was er kann. Stell dich hart zum Leben ein, nur dann bist du ein Mann!«

Er gerät in eine Abwärtsspirale. Je mehr Melzer sich um Aufklärung bemüht, desto größer werden die Widerstände, und desto verbissener und verzweifelter kämpft er dagegen an. Diesen Widerspruch kann Melzer nicht auflösen, daran zerbricht er fast. Also warum gibt Melzer nicht auf? Warum streitet er offensichtlich gegen seine beruflichen Zukunftsaussichten und gegen sein eigenes Wohlbefinden für die Aufklärung?

Melzer stammt aus einer oppositionellen Familie, sein Vater saß in der DDR wegen Republikflucht im Gefängnis, ein Bruder war nicht in der FDJ, der andere NVA-Totalverweigerer. Melzer weiß, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören, unbequem zu sein. In der DDR wäre er mit Sicherheit kein Polizist geworden. Im Oktober 1989 demonstrierte Melzer für eine andere DDR, für Meinungs- und Pressefreiheit, nahm an den Erfurter Bürgerwachen teil. Diese Zeit hat ihn geprägt, die Hoffnungen und Sehnsüchte, seinen Glauben an Demokratie und Rechtsstaat. »Was ist aus den hehren Zielen geworden?«, fragt er jetzt. Damals dachte Melzer, er müsse nie mehr Angst haben, Tatsachen zu benennen, Kritik oder seine Meinung zu äußern. »Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder stumm sein werde, wenn Unrecht geschieht.« In seiner Hütte redet sich Melzer langsam wund. Wie erklärt er sich selbst, warum er blockiert wird, warum er schweigen soll? Er habe gegen den Korpsgeist verstoßen, sagt er.

Während seiner Polizeiausbildung machte Melzer ein Praktikum bei Helmut Krauße, der fast 20 Jahre lang Vize-Kripochef von Erfurt war, seit 2012 ist er in Pension. Für Melzer war Krauße der »Kriminalpolizeigott«, und Krauße sprach immer vom »unbedingten Aufklärungswillen«, den es brauche, um ein guter Ermittler zu sein. Das hat Melzer verinnerlicht. »Deswegen ziehe ich mein Ding durch, auch wenn der Apparat krank ist.« Deshalb kann er auch bei dem Landwirtspaar und den Kühen nicht wegsehen. Letztlich geht es auch im Dorf ums Prinzip, auch wenn ihn das alles an den Rand seiner Kräfte bringt.

Den letzten Schlag bekommt Melzer 2017, als er vor dem zweiten Thüringer Untersuchungsausschuss in Erfurt auftreten will und vom LKA nur eine eingeschränkte Aussagegenehmigung erhält. »Im Grunde durfte ich nichts sagen.« Es geht um Verbindungen zwischen Rechtsextremen und der organisierten Kriminalität. Melzer erinnert sich an den Tag im Ausschuss: Zwei Vertreter vom Innen- und vom Justizministerium hätten ihm gegenübergesessen, die beiden hätten ihn fortwährend darauf hingewiesen, dass er seine Aussagegenehmigung bereits überschreite. »Diese Kulisse wirkte auf mich sehr bedrohlich.« Schließlich habe die Ausschussvorsitzende, die Landtagsabgeordnete Dorothea Marx (SPD), zu seinem Schutz die Anhörung unterbrochen, sagt Melzer. Die beiden Ministeriumsvertreter seien mit ihm vor die Tür gegangen, um zu erfahren, was er sagen wolle. Daraufhin hätten sie entschieden, dass er dazu nicht sprechen dürfe. Damit war Melzers Anhörung beendet.

»Nach allem, was ich mir vom Systemumbruch erhofft hatte, war das die größte Klatsche in meinem Leben. Es verstößt gegen mein Demokratieverständnis.« Danach bricht Melzer völlig zusammen. Er zieht sich zurück, vertraut niemandem mehr, findet kaum noch die Kraft, seine Hütte zu verlassen.

Die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx erinnert sich, dass sie Melzer damals vor sich selbst schützen musste. Sie habe ihn belehrt, dass er nicht über verdeckte Ermittlungen aussagen dürfe, aber Melzer habe seinen Vortrag mit dem Satz begonnen: Er sei selbst als nicht offener Ermittler tätig gewesen. Offenbar habe er vorgehabt, darüber zu sprechen. »Ich muss meine Zeugen davor bewahren, sich selbst zu schaden. Aber es ist furchtbar, was mit Mario Melzer passiert ist«, sagt sie, »wie er kaltgestellt wurde.« In dem Fall sei es jedoch nicht um Melzer persönlich gegangen, sie hätte auch bei jedem anderen Zeugen so handeln müssen. Marx befürchtete außerdem, Melzer würde sich als Einziger aufopfern. Denn die meisten seiner Kollegen hätten es vorgezogen, sich nicht mehr so genau zu erinnern. Sie hätten wohl vor Augen gehabt, was mit Beamten geschehe, die redeten – wie Melzer. »Bei vielen Zeugen hatte ich das Gefühl, dass sie nicht sagen, was sie wissen.« Zugleich hätte sich Marx mehr Zeugen gewünscht, »die sich zu Fehlern bekennen und dafür entschuldigen«. Ein falsch verstandener Korpsgeist habe die Aufklärung massiv behindert. Es klingt bitter.

In seltener Übereinkunft aller politischen Fraktionen kam schon der erste Thüringer Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht 2014 zu der Einschätzung, dass die Fahndung der Sicherheitsbehörden nach dem Trio »ein einziges Desaster« gewesen sei. Die Vielzahl falscher oder nicht getroffener Entscheidungen lasse sogar »den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu«.

Und im Abschlussbericht des zweiten Thüringer Untersuchungsausschusses von 2019 wird der Informationskurs der thüringischen Regierung angegriffen. Die Abgeordneten wollten wissen, wen die Polizei als Spitzel in der organisierten Kriminalität einsetzte. Doch die Landesregierung berief sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017. Das besagt im Kern, dass bei sensiblen geheimen Quellendaten das Schutzinteresse des Staates höher wiege als das Aufklärungsinteresse eines Parlaments. Im Prinzip bestätigt das Urteil Melzers Verdacht, dass im Zweifel die Aufklärung nicht ganz so wichtig ist wie der Quellenschutz.

Wenige Wochen nach dem Thüringer Untersuchungsausschuss soll Melzer auch vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg aussagen, doch er ist krank. »Ich hatte einen Nervenzusammenbruch.« Es greift sein Innerstes an, faktisch wieder mundtot zu sein. Denn auch dort hätte Melzer kaum etwas sagen dürfen.

Wer Mario Melzer ein paar Stunden zuhört, fühlt sich danach angeschlagen. Merkwürdig ermattet, als würde sich seine Ohnmacht auf einen übertragen. Melzer läuft in seiner Blockhütte hin und her, redet und kommt nicht zur Ruhe. Er kennt alle Details, jede Einzelheit erscheint ihm wichtig. Für ihn wirkt alles ganz nah und schlüssig. Der NSU hat Melzers Leben unterwandert. »Ich bin wie tätowiert«, sagt er.

All das kommt zusammen, als im vergangenen Jahr auch noch der Streit in seinem Dorf eskaliert, die tote Kuh neben seiner Hütte liegt und das Landwirtspaar seine Drohungen gegen Melzer verbreitet haben soll. Zugleich wird die AfD mit Björn Höcke an der Spitze bei den Landtagswahlen zweitstärkste Kraft in Thüringen. Und der Verfassungsschutz rechnet den rechten Flügel der Partei, den Höcke führt, und die Junge Alternative der AfD 2019 erstmals dem rechtsextremen Spektrum zu. Nun kommt es Melzer manchmal vor, als beginne vor seiner Hütte Feindesland.

Am späten Nachmittag verlässt Melzer sein Heim. Auf der Terrasse schaukelt die Hängematte aus dem Sommer. Unentdeckt kann sich Mario Melzer nicht durch sein Dorf bewegen. Jeder Gang, jeder Besuch wird registriert. Als er in seinen alten Mercedes steigt und durch den Ort fährt, trifft er an einer Kreuzung auf den Gastwirt des Ortes. Melzer nickt ihm kurz zu. Der Gastwirt war einer derjenigen, die Melzer damals anriefen, er warnte ihn, dass »etwas gegen ihn im Busch« sei. Der Gastwirt sagt, in seiner Dorfkneipe seien ein paar Gäste gewesen, die sich über die Drohung des Landwirtspaares gegen Melzer unterhalten hätten und darüber schockiert gewesen seien: »Die kamen zu mir und meinten entsetzt, die Frau habe gesagt, dass sie Leute kennen, die den Melzer mal schnell wegmachen würden.« Später geht der Gastwirt selbst auf das Paar zu und stellt es zur Rede, da habe die Frau zu ihm gesagt, »sie würden Leute in Jena kennen, die den wegmachen könnten«. Der Gastwirt ist empört, zugleich regt er sich darüber auf, wie schlecht das Paar seine Tiere behandele. »Melzer ist kein Panikmacher«, sagt der Gastwirt. »Aber ob die tatsächlich Rechte kennen, bezweifle ich.« Das hat er auch der Polizei erzählt, als die ihn dazu befragte.

Ein weiterer Bekannter von Melzer aus einem Nachbarort, Mario Urbach, beschreibt die etwas unheimliche Stimmung im Dorf. Viele hätten Angst vor dem Paar. Urbach kandidierte im vergangenen Herbst für die Grünen in der Region. Er bat Melzer, ihn beim Kleben der Wahlplakate zu begleiten. Auch Urbach hat Ärger mit dem Landwirtspaar und schon juristische Auseinandersetzungen mit ihm hinter sich. »Während Mario Melzer und ich Plakate aufhängten, hat uns das Paar die ganze Zeit mit dem Auto verfolgt und beobachtet«, sagt Urbach.
Anruf bei dem Landwirtspaar: Die Frau ist am Telefon. Sie redet eine halbe Stunde ohne Pause sehr laut und aggressiv. Der Mann mischt sich ab und zu aus dem Hintergrund ein. Sie streitet alles ab, ihre Tiere seien zum Teil mehr als 20 Jahre alt, die fielen schon einmal tot um. Ihr Partner und sie wollten nur ihre Ruhe haben. Niemals hätten sie Mario Melzer bedroht. Sie würden überhaupt keine Rechtsextremen kennen. »Wenn Melzer keine erfüllende Arbeit hat und ihm langweilig ist, soll er etwas anderes machen.«

Was Melzer am meisten trifft, ist die Tatsache, dass Bewohner seines Ortes das Gefühl haben, er, der NSU-Aufklärer, habe abgewirtschaftet. Er sei einer, der zum Abschuss freigegeben ist. Einer, dem man vielleicht einfach so drohen kann.

»Es ist eine Frechheit, dass eine Auseinandersetzung mit mir im zivilen Leben in Zusammenhang mit dem NSU gebracht wird und man mein Leben bedroht«, sagt Melzer. Und wer wisse denn wirklich sicher, ob das Paar nicht vielleicht doch Kontakt zu Rechtsextremen hat?
Die rechte Szene, glaubt er, werde sich bestärkt fühlen durch die Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wird.

Was sagt das über unser Land und unsere Sicherheitsbehörden aus? Sind Zeugen wie Melzer für das Funktionieren eines Rechtsstaates nicht von entscheidender Bedeutung?

Jede neue Schlagzeile trifft Mario Melzer nun persönlich – der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag in Halle, die Drohungen eines »NSU 2.0« gegen die Anwältin Seda Basay-Yildiz, sie hatte im NSU-Prozess mehrere Opferfamilien vertreten. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Drohungen gegen die Anwältin offenbar aus den Reihen der hessischen Polizei stammen. »Das macht einen noch unsicherer«, sagt Melzer. Er weiß, dass viele Mitarbeiter aus den Sicherheitsbehörden die AfD wählen. Jahrelang hat zum Beispiel Ringo Mühlmann die Presseanfragen beim LKA Thüringen beantwortet – auch die zu Mario Melzer. Er sitzt nun für die AfD im Erfurter Landtag als deren innenpolitischer Sprecher. All das – die mangelhaften Ermittlungen im NSU-Komplex, der Umgang mit ihm als Zeugen, die fehlende Unterstützung seines Arbeitgebers – hat Melzers Vertrauen in die Sicherheitsbehörden zerrüttet, ihn seiner Gewissheiten beraubt. »Ich bin Beamter auf Lebenszeit. Mein Glaube in die Demokratie ist erschüttert.«

Mario Melzer ist ein Staatsdiener, der vom Staat enttäuscht ist. Wie es mit ihm weitergeht, weiß er nicht. Er versucht nun, seinen Tagesablauf zu strukturieren, zwingt sich, seine Hütte zu verlassen und Freunde zu treffen, wie es ihm sein Arzt empfohlen hat. Und er liest Polizeizeitschriften und Fachliteratur, um nicht den Anschluss zu verlieren. Melzer hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er eines Tages wieder in seinem Beruf arbeiten kann. Die Entscheidung über seine Zukunft werde immer weiter hinausgeschoben, sagt er. Einmal im Monat muss Melzer zum Arzt, sich neu krankschreiben lassen. Von seiner Dienststelle habe er das letzte Mal im vergangenen Frühjahr gehört, sagt er. Ab und zu telefoniert er mit einer Sekretärin wegen der Atteste. Zermürbender als die Enttäuschung ist die Ungewissheit.
Gern würde man das LKA Thüringen dazu befragen. Auf Anfrage schreibt die Sprecherin an das ZEITmagazin, dass man aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskünfte zu personalrechtlichen Angelegenheiten geben dürfe. Das Schreiben endet mit dem Satz: »Sobald Herr Kriminalhauptmeister Melzer seine Dienstfähigkeit zurückerlangt, darf ich Ihnen versichern, dass er entsprechend seinem Statusamt im Landeskriminalamt Thüringen verwandt wird.«

Ende 2019 stellt die Staatsanwaltschaft Meiningen das Verfahren gegen das Landwirtspaar wegen der Bedrohung von Melzer ein. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft sagt, es sei nicht zu ermitteln gewesen, von wem das anonyme Schreiben an den Thüringer Verfassungsschutz stamme. Und es sei festgestellt worden, dass die Beschuldigten »keinerlei rechte Bezüge nach Jena« hätten. Die Bedrohungslage habe sich nicht bestätigt. Was vor allem auch daran liege, dass die Drohung nicht gegenüber Melzer persönlich geäußert worden sei. Auf die Staatsanwaltschaft wirkt es wie ein Nachbarschaftsstreit. Melzer und sein Anwalt haben gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt.

Mario Melzer hatte eigentlich vor, in seinem Dorf neu zu bauen. Er wird das jetzt lassen. Nun denkt er darüber nach, ob er vielleicht nach Kanada auswandern sollte. In den richtig tiefen Wald.