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True Story Award 2021

Lufthunger

Goran Simic ist Krankenpfleger, 33 Jahre alt, gesund und gehört keiner Risikogruppe an. Als er an Covid-19 erkrankt, macht er sich zunächst keine Sorgen. Dann kämpfen die Ärzte um sein Leben.

Tag 1 – Dienstag, 24. März 2020

Der alte Mann, der am Vormittag auf die Intensivstation im zweiten Stock des Klinikums Fürstenfeldbruck bei München geschoben wird, ist ein Falschnegativer. So nennen die Ärzte hier Sars-CoV-2-Infizierte, die sie erst später als solche erkennen. Der Mann leidet unter starker Atemnot und hat Fieber, aber ein Abstrich aus seinem Rachen wurde negativ getestet. Verdacht auf Influenza, lautet die Diagnose.
Vier Pflegefachkräfte und eine Internistin kümmern sich um den Patienten in der Box 9, einem abgetrennten Abteil. Sie tragen weder Schutzanzüge noch FFP3-Masken. Der Patient ist kurzatmig, er muss mit einer Gesichtsmaske nicht-invasiv beatmet werden. Zwei Tage später liegt das Ergebnis der Analyse seines Lungensekrets vor. Sars-CoV-2 positiv.
Einer der Pfleger heißt Goran Simic. Seine Geschichte wird in diesem Text anhand von medizinischen Daten, Dokumenten, Erfahrungsberichten von ihm selbst, seiner Frau, den behandelnden Ärzten und Pflegern und durch Beobachtungen an Kliniken rekonstruiert.
Simic ist 33 Jahre alt, zwei Meter groß, 107 Kilogramm schwer. Er ist Fan von Dinamo Zagreb, Ehemann von Ana, Vater von Marta, sie ist sechs Monate alt. Er arbeitet seit fünf Jahren als Anästhesiepfleger im Klinikum Fürstenfeldbruck, seit einer Woche auf der Covid-Intensivstation.
Er legt dem alten Mann in Box 9 an diesem Tag einen Zugang für Infusionen. Er berührt ihn am Arm.
Vielleicht ist es da passiert.

Tag 4 – Freitag, 27. März

Das Robert Koch-Institut veröffentlicht seinen täglichen Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit 2019 (Covid-19), ausgelöst durch das Virus Sars-CoV-2. Stand an diesem Tag in Deutschland: 42 288 bestätigte Fälle, 253 Verstorbene, Anteil der Verstorbenen: 0,6 Prozent. Das mittlere Alter liegt bei 82 Jahren. Der jüngste Tote war 42 Jahre alt, der älteste 100.
Im Frühdienst fühlt sich Simic abgeschlagen. Er hat Kopfschmerzen und erhöhte Temperatur. Seine Füße brennen. Er wird abgestrichen, wie auch die anderen Kollegen, die mit ihm am Dienstag den alten Mann versorgt haben, und geht gegen Mittag nach Hause.
Die Familie Simic lebt in einer Wohnanlage, etwa fünf Autominuten vom Klinikum entfernt. Goran Simic ist Krankenpfleger geworden, weil er Menschen helfen wollte und glaubte, dass er mit der Ausbildung überall auf der Welt einen Job finden könnte. In Kroatien, wo Simic geboren wurde, verdiente er 800 Euro netto im Monat. In Deutschland ist sein Gehalt mehr als dreimal so hoch.
An diesem Freitagmittag beschließt Simic, dass sie die Wohnung nicht mehr verlassen, bis er den Befund erhält. Er isoliert sich im Schlafzimmer. Seine Frau stellt ihm das Essen vor die Tür. Sie unterhalten sich über WhatsApp-Video und desinfizieren die Toilette vor und nach jeder Nutzung. Er sorgt sich nicht um sich, nur um seine Tochter. Er ist Nichtraucher, macht Fitnesstraining, hat keine Vorerkrankungen. In seinem Alter geht eine Corona-Infektion in der Regel vorüber wie eine Erkältung.

Tag 5 – Samstag, 28. März

»Goran«, sagt die Ärztin am Telefon, und er weiß sofort, was sie ihm mitteilen wird. Er ist der Einzige aus der Gruppe, der positiv getestet wurde. »Brav zu Hause bleiben, Goran«, sagt sie, dann legt sie auf.
Die Symptome von Covid-19 variieren, ohne dass man bislang eine Erklärung dafür hat. Fieber, trockener Husten, Müdigkeit, leichte Atemnot, das alles unterscheidet sich nicht von einer Grippe.
Bei Goran Simic sind es Kopfschmerzen. Sie nehmen zu, sein Appetit ab. Er ist erschöpft, hat Muskelkater, obwohl er nur rumliegt. Er nimmt Paracetamol und Novalgin gegen die Schmerzen und um das Fieber zu senken.
Um 17.33 Uhr veröffentlicht Simic einen Post in der Facebook-Gruppe »Bayern hält zusammen«, in der sich Menschen über Corona austauschen. Sie hat fast 60 000 Mitglieder. Er will hier Corona-Tagebuch führen. »Mein Ziel ist, euch zu informieren, wie es ist, wenn ein Mensch darunter leidet. Mein Ziel ist nicht, Panik auszubreiten. Im Gegenteil, wir brauchen derzeit keine Panik und müssen zusammenhalten. Euch muss aber klar sein, das Virus ist hochansteckend«, schreibt Simic.
Der alte Mann aus Box 9 stirbt an diesem Tag. Er war 79 Jahre alt.

Tag 6 – Sonntag, 29. März

Goran Simic schreibt bei Facebook: »Die Kopfschmerzen werden schlimmer, und sie sind nicht mehr auszuhalten. Habe wieder Fieber bekommen, 38,6 Grad. Ich brauche was gegen Schmerzen, muss 112 wählen. Der Bereitschaftsdienst braucht gegen vier Stunden, um mich zu besuchen. Es ist nicht auszuhalten (Novalgin und Paracetamol bringen nichts!).«
Simic packt eine Tasche. Boxershorts, T-Shirts, Pyjama, Kulturbeutel, Handyladegerät. Er wird im Rettungswagen in die Notaufnahme des Klinikums Fürstenfeldbruck gefahren.
Um festzustellen, ob ein Mensch krank ist, werden seine Vitalparameter gemessen, dazu gehören Temperatur, Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung. Bei Simic sind die Werte an diesem Abend stabil. Blutdruck 130/80, Herzfrequenz 118 Schläge pro Minute, die Sauerstoffsättigung ist mit 95 Prozent gut.
Simic gibt seine Schmerzen auf einer Skala von null bis zehn bei neun bis zehn an. Er verlangt nach einem starken Opioid und bekommt Tilidin, ein Schmerzmittel, das etwa ein Fünftel der Wirkstärke von Morphium hat. Für einen stationären Aufenthalt sieht man keinen Bedarf. Simic geht zu Fuß nach Hause.

Tag 9 – Mittwoch, 1. April

Das Robert Koch-Institut meldet 732 Verstorbene, das jüngste Opfer ist 28 Jahre alt.
Goran Simic hat nicht geschlafen, gegen die migräneartigen Kopfschmerzen kommt kein Opioid mehr an. Mal bohrt sich der Schmerz von der rechten, mal von der linken Seite in seinen Schädel. Im Laufe des Tages fällt ihm das Atmen immer schwerer.
Simic schreibt seiner Frau im Nebenzimmer am Abend eine WhatsApp. Bitte nicht erschrecken, wenn es läute, das sei der Rettungsdienst. Er müsse ins Krankenhaus, ihm gehe es nicht gut, Marta solle weiterschlafen. Er nimmt die Tasche, verabschiedet sich nicht, die Ansteckungsgefahr.
Simic aktualisiert sein Corona-Tagebuch bei Facebook zum letzten Mal: »Am 01.04. um 21 Uhr habe ich angefangen zu hyperventilieren, konnte nicht zurecht mit dem Atmen kommen und letztendlich, ich wurde ins Krankenhaus gebracht.«
2245 Personen gefällt der Eintrag.
»Nachdem der Goran ins Klinikum gebracht worden ist, konnte ich Marta nicht mehr stillen«, sagt Ana Simic.

Tag 10 – Donnerstag, 2. April

Simic hat mitbekommen, wie sich das kleine Klinikum Fürstenfeldbruck mit seiner Intensivstation und seinen 380 Betten auf den Ansturm an Covid-19-Patienten vorbereitet hat, von dem keiner wusste, ob er kommen und was er bedeuten würde. Eine Situation wie in Norditalien? Bestattungswagen, infiziertes Personal, Todesangst?
Wie allen Mitarbeitern wurde auch ihm die »Faktensammlung zu Covid-19« ausgehändigt, ein vier Seiten langes Word-Dokument, das den Gegner erklären soll. Der letzte Punkt heißt »Therapieoptionen«. »Aktuell steht keine spezifische Therapie zur Verfügung«, konnte man dort lesen. Und: »Keep calm and provide usual care.«
Der Kampf gegen Sars-CoV-2 hat etwas von Boxen im Dunkeln. Man sieht den Gegner nicht, man schlägt ins Nichts. Und wird ohne Vorwarnung selbst erwischt.
Dass junge Patienten schwer erkranken ist noch immer die Ausnahme. Dennoch werfen diese Fälle ein neues Licht auf den Gegner im Dunklen. Und wenn auch das Leben von jungen, gesunden Patienten durch Sars-CoV-2 bedroht ist, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Behandlung, sondern auf die Politik, die Gesellschaft, die Forschung.
Simic hat auf der Corona-Intensivstation erlebt, wie beeindruckt die Ärzte von der Geschwindigkeit waren, mit der Sars- CoV-2 zuschlug. Innerhalb weniger Stunden waren Patienten, die mit leichten Symptomen ins Klinikum gekommen waren, in Lebensgefahr. Jetzt wartet er in seinem Bett auf der für Covid-19-Patienten vorgesehenen Normalstation E2 im Erdgeschoss auf eine Diagnose, die ihm erklärt, was das Virus gerade mit ihm macht. Simic kennt den Ablauf, aber nicht den Ausgang der Untersuchungen.
Er betet, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Simic’ Blut wird im Labor untersucht. Bei der Blutanalyse von Covid-19-Patienten sind verschiedene Akutmarker wichtig, wie die Leukozyten, also die Zahl der weißen Blutkörperchen, das Interleukin 6, ein sogenanntes Zytokin, das Prohormon Procalcitonin und der CRP-Wert.
Um 0.32 Uhr liegt die erste Analyse vor. Der CRP-Wert beträgt 99 mg/l. CRP ist ein Eiweiß, das in der Leber gebildet wird und das schnell ansteigt, wenn eine Entzündung vorliegt. Bei einem gesunden Mensch sollte der CRP-Wert nicht höher als 5 mg/l sein.
Eine Stunde später, um 1.33 Uhr, wird in der Radiologie ein computertomografisches Bild von Simic’ Brustkorb erstellt. Die beiden Lungenflügel sehen aus wie schwarze Halbmonde, über denen feine weiße Wolken schweben. Die Trübungen sind ein Indiz für eine schwere Lungenerkrankung. Die Wolken entstehen, weil Flüssigkeit in die Alveolen, die Lungenbläschen, eindringt und den Gasaustausch behindert. Warum die Wolken bei Covid- 19 aufziehen, wieso sie auch bei jungen Patienten schnell zunehmen können, weiß man nicht. Aber je dichter die Wolkendecke, desto gravierender die Lungenentzündung.
Zur Morgenvisite um Viertel nach sieben kommt Florian Weis. Er ist Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin und leitet als Ärztlicher Direktor das Klinikum Fürstenfeldbruck. Weis erinnert der Kampf gegen das Virus an sein Studium. Er lerne jeden Tag etwas Neues, sagt er. Covid-19 sei so schwer einzuschätzen, weil es unglaublich heterogene Verläufe aufweise, die Verbreitung asymptomatisch verlaufe, man nicht wisse, wen es befalle und wen nicht. Warum gerade Goran Simic so schwer erkrankt ist, weiß auch er nicht.
Weis spricht über das Virus wie ein Bundesligatrainer vor einem schweren Auswärtsspiel. Er lobt die Wandelbarkeit des Gegners, der in der Lage sei, verschiedene Organsysteme gleichzeitig auszuschalten.
Weis hat wenig Zeit. Er muss die Entwicklung seiner Covid-19-Patienten im Blick haben und Strategien entwickeln, wie er das Klinikum auf den Ansturm an Infizierten vorbereitet. Zum ersten Mal liegt da jetzt einer seiner Leute.
Die Laboranalyse um 8.47 Uhr zeigt, dass sich die Situation bei Simic in den vergangenen acht Stunden verschlechtert hat. Das CRP ist auf 113 mg/l angestiegen.

Tag 11 – Freitag, 3. April

Abends, nach langen Tagen im Klinikum, telefoniert Florian Weis auf der Heimfahrt mit anderen Chefärzten aus bayerischen Krankenhäusern. Sie schicken sich Studien und Artikel, die er liest, nachdem er mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zu Abend gegessen hat. Weis hört Podcasts mit führenden amerikanischen Wissenschaftlern wie Anne Schuchat, der stellvertretenden Direktorin des CDC, oder Anthony Fauci, einem Experten der Corona-Taskforce im Weißen Haus. Er teilt ihre Meinung, dass man dieser Tage öfter den Mut haben sollte zu sagen: »Wir wissen es einfach noch nicht.«
Simic sieht nicht gut aus, als Weis ihn morgens besucht. Er schwitzt, ist grau im Gesicht. Er setzt sich auf, legt sich hin, aber egal wie er sich positioniert, er leidet unter einer Dyspnoe, auch Lufthunger genannt. So bezeichnen Mediziner eine unangenehm erschwerte Atemtätigkeit. Seine Sauerstoffsättigung ist abgefallen. Weis entscheidet, dass er beatmet werden muss.
Auf dem Weg zur Intensivstation wird Simic noch einmal in die Radiologie gefahren. Das computertomografische Bild seines Brustkorbs, erstellt um 10.21 Uhr, zeigt eine dichte Wolkendecke über beiden Lungenflügeln.
Die Medikamente schlagen nicht an. Simic werden die Antibiotika Ampicillin/ Sulbactam und Clarithromycin verabreicht, dazu hat er zwei 200-Milligramm-Tabletten des Malariamittels Hydroxychloroquin bekommen, das bei schweren Covid-19-Verläufen entzündungshemmend wirken soll. Eine andere Behandlungsmethode haben die Ärzte derzeit nicht. Donald Trump sagte in seiner Fernsehansprache am 19. März, Hydroxychloroquin könnte einer der Game-Changer in der Pandemie sein. Er gab an, das Medikament selbst zu nehmen. Nur wenige Wochen später wird in mehreren Studien berichtet werden, dass Hydroxychloroquin die Sterblichkeit bei Covid-19 erhöht.
Bei Simic löst das Hydroxychloroquin kurz nach der Gabe heftige Magenkrämpfe aus und muss abgesetzt werden.
Simic wird in Box 13 auf der Intensivstation geschoben, ein paar Meter weiter hatte er dem alten Mann den Zugang für die Infusion gelegt. Gegen Mittag ruft er seine Frau Ana an. Auf der Intensivstation könne man sich besser um ihn kümmern, sagt er, »mach dir keine Sorgen, ich schaffe das«.
Florian Weis bespricht sich mit Andreas Gärtner, dem Leiter der Intensivstation. Die Ärzte glauben, wenn sich Simic’ Zustand in den nächsten 24 Stunden nicht verbessere, lasse sich eine invasive Beatmung nicht vermeiden.
Weis und Gärtner beschließen, es zunächst mit einer nichtinvasiven Beatmung zu versuchen. Simic wird ein »StarMed CaStar R«-Helm aufgesetzt, der aussieht wie ein Taucherhelm aus Plastik. Ein geschlossenes System, aus dem keine Aerosole entweichen können.
Simic empfindet den Helm als bedrohlich und will ihn sich vom Kopf ziehen. Um ihn zu beruhigen, wird er leicht sediert. Über den zentralen Venenkatheter auf seiner linken Halsseite fließen nun das Narkotikum Propofol, das Beruhigungsmittel Dexmedetomidin, das Schmerzmittel Sufentanil und der Blutgerinnungshemmer Heparin in seinen Körper. Das Heparin soll Thrombosen und eine Lungenembolie verhindern.

Tag 12 – Samstag, 4. April

Die nicht-invasive Beatmung mit dem Helm führt zu keiner Verbesserung, im Gegenteil. Der Horowitz-Index, der angibt, wie gut die Lunge in der Lage ist, das Blut mit dem von außen zugeführten Sauerstoff anzureichern, sinkt von 130 auf 80 mmHg, normal wären 350 bis 500 mmHg, das ist die Abkürzung für Millimeter Quecksilbersäule, eine gebräuchliche Einheit in der Medizin für Druck. Ein Horowitz-Index unter 100 mmHg bedeutet: Die Lunge versagt.
Simic ist in Lebensgefahr. Das Virus attackiert seinen Körper an mehreren Fronten. Die Lunge funktioniert nicht mehr, wie sie soll. Die Leber- und Nierenwerte verschlechtern sich, die Blutgerinnung erreicht einen kritischen Wert, und der Kreislauf droht zu kollabieren. Um seinen Blutdruck stabil zu halten, wird ihm über eine Spritzenpumpe kontinuierlich Noradrenalin zugeführt.
Weis und Gärtner können nicht abschätzen, wie Simic’ Situation in sechs Stunden aussieht, wie die nächste Laboranalyse ausfallen wird. Sie haben Erfahrungswerte für die Beatmung, und sie können damit umgehen, wenn Organe versagen. Aber was den Kampf gegen Covid-19 so schwierig macht, ist, dass mehrere Organsysteme unvorhergesehen und gleichzeitig ausfallen können.
Andreas Gärtner und Goran Simic sind füreinander der Goran und der Andi. Dass der Andi dem Goran nun erklären muss, dass er unter Umständen zwei, drei Wochen lang invasiv beatmet werden muss, ist für Gärtner keine einfache Situation. Simic weiß, dass nicht jeder Patient wieder aufwacht. Er fragt nach seiner Familie, ob er sie infiziert haben könnte. »Du bist schwer krank, du musst dich jetzt um dich kümmern«, sagt Gärtner.
Die Sedierung wird erhöht, Simic in eine tiefe Narkose versetzt. Er ist jetzt im künstlichen Koma und bekommt nichts mehr mit. Er wird intubiert und in Bauchlage gebracht.
»Gogo, gib nie auf! Ich bitte dich! Bitteeee! Wir brauchen dich!«, schreibt Ana Simic auf Kroatisch und sendet per Whats-App ein Foto von Marta. Sie schickt ihrem Mann jetzt jeden Tag ein Bild von seiner Tochter.
Er antwortet nicht mehr.

Tag 13 – Sonntag, 5. April

Auf der Intensivstation des Klinikums Fürstenfeldbruck liegt ein regloser, zwei Meter langer, 33 Jahre alter Körper, der über eine Magensonde mit Fresubin ernährt wird, einer Flüssigkeit mit Eiweißen, Kohlehydraten und Fetten, und aus dessen Luftröhre über den Mund ein Schlauch in eine Maschine führt, die sechs Liter Luft pro Minute in seine Lungen pumpt und ihn so am Leben hält.
Der Körper wird rund um die Uhr überwacht. Atem- und Herzfrequenz, Temperatur, Sauerstoffsättigung. Über einen Katheter in der Arteria radialis oberhalb seines Handgelenks wird der Blutdruck gemessen und online auf einen Bildschirm hinter dem Bett übertragen. Ein Blasenkatheter sammelt Urin, um die Nierenfunktion zu überprüfen. Ein Fäkalkollektor klebt über dem After.
Die Medikation mit Hydroxychloroquin wird wieder aufgenommen, sie ist auf sieben Tage angelegt. Die Tabletten werden zermörsert und Simic über die Magensonde verabreicht. Gärtner lässt auf das Breitbandantibiotikum Piperacillin/Tazobactam umstellen, weil ihm Clarithromycin und Ampicillin/Sulbactam gegen die vermutete Superinfektion zu schwach erscheinen.
Die Geräte piepen in Box 13, auf den Bildschirmen zeigen Kurven, wie es Simic geht. Ab und an spricht ihm einer der Pfleger gut zu.
»Wir passen auf dich auf.« Oder: »Keine Sorge Goran, Marta geht es gut.«
Das CRP ist auf 276 mg/l angestiegen, das Fieber auf 39,1 Grad, obwohl sie seinen Körper mit Coolpacks und Wadenwickeln kühlen. Das Noradrenalin muss höher dosiert werden, weil sein Kreislauf immer wieder zusammenbricht.
Der Horowitz-Index hat sich auf 150 mmHg verbessert, liegt aber immer noch 200 mmHg unter Soll. Zu den wenigen Gewissheiten im Kampf gegen das Virus gehört, dass die Bauchlage die Lungenfunktion unterstützt. Die Lungenareale am hinteren und unteren Rücken gestatten in der Bauchlage einen besseren Gasaustausch.
Goran Simic ist da, aber auch nicht. Von den Menschen, die aus einem künstlichen Koma erwachen, haben die meisten wenig bis keine Erinnerung. Meist, sagen sie, sei alles schwarz gewesen.
Patienten in Bauchlage entwickeln schnell Druckstellen. Nach 20 Stunden dreht ein Team aus Ärzten und Pflegern Simic wieder vorsichtig auf den Rücken.

Tag 14 – Montag, 6. April

Goran Simic wird am Morgen ein Kühlkatheter in die Leistenvene gelegt, weil das Fieber nicht mehr zu kontrollieren ist. Sein Blut läuft jetzt an einem 20 Zentimeter langen Draht vorbei und wird dabei gekühlt.
Die Laboranalyse um 8.12 Uhr zeigt eine weitere Verschlechterung der Situation. Der CRP liegt bei 334 mg/l. Die sinkende Thrombozytenzahl, steigende Bilirubin- und Kreatininwerte, die Auskunft über Leber- und Nierenschädigung geben, deuten an, dass ein Multiorganversagen droht.
Weis und Gärtner beschließen, dass Simic verlegt werden muss. Das Klinikum Fürstenfeldbruck ist kein Maximalversorger. Es verfügt über keine Ecmo, eine komplexe Maschine, die die Herz-Lungen-Funktion ersetzen und Todkranken so Zeit verschaffen kann. Außerdem ist die emotionale Belastung durch die Pflege des Kollegen für das Personal sehr hoch. Sollte Simic das Virus besiegen können, ist davon auszugehen, dass er beim Aufwachen nach einer langen Beatmungstherapie ein schweres Delir entwickelt – als hätte sein Körper im künstlichen Koma vergessen, welcher Mensch er ist.
Gärtner möchte den Pflegern auf der Intensivstation ersparen, ihren Kollegen Goran in diesem Zustand zu erleben. Patienten im Delir erkennen die Umgebung nicht und gefährden sich und andere. Sie ziehen sich Katheter oder den Beatmungstubus, versuchen aufzustehen und fallen aus dem Bett. Sie spucken, kratzen, beißen.

Tag 15 – Dienstag, 7. April

Gruselig, denkt Oberarzt Georg Braun, als er in seinem Büro die Bilder von Simic’ Lunge sieht. Das Universitätsklinikum Augsburg, 40 Kilometer entfernt, hat sich bereit erklärt, Simic aufzunehmen. Braun leitet die Intensivstation 1.1., eine von drei Corona-Intensivstationen. Goran Simic ist der jüngste Patient in Augsburg.
Auf den zwei Monitoren in seinem Büro kann Braun die Daten der Erkrankten einsehen. Neben der Computertastatur steht eine kleine Karte, die Todesanzeige eines Covid-19-Patienten: »In lieber Erinnerung an E., gestorben am 1. April«. Auf dem Boden liegt eine Matratze mit Decke und Kissen, weil es sich für Braun zurzeit oft nicht lohnt, nach der Arbeit nach Hause zu fahren.
Georg Braun ist 41 Jahre alt und hat zwei kleine Kinder. Zu Beginn der Pandemie belastete ihn die Unsicherheit, die Sars-CoV-2 mit sich bringt. Was, wenn ihnen die Schutzkleidung ausgeht, er sich nicht mehr schützen und nach Hause kann? Es stört ihn, wenn er Angehörigen wegen der Ansteckungsgefahr den Besuch der lebensbedrohlich erkrankten Patienten verwehren muss. Vor Kurzem hat er einem älteren Patienten vor dem Intubieren geraten, noch einmal seine Frau anzurufen. Der Mann ist nicht mehr aufgewacht.
Der neue Patient aus Fürstenfeldbruck wird gegen Mittag auf die Intensivstation, Zimmer 26, gefahren und erneut untersucht. Haben die Kollegen aus Fürstenfeldbruck etwas übersehen?
Der Horowitz-Index hat sich etwas verbessert, die Bauchlage der letzten Nacht scheint wieder geholfen zu haben. Aber das Fieber ist auf 41 Grad gestiegen, ein gefährlicher Bereich. Simic wird in Augsburg ein neuer Kühlkatheter gelegt. Die Laborwerte sind nach wie vor schlecht. Wie bei vielen Covid-19-Patienten attackiert das Virus die Nieren. Das Kreatinin, der Nierenwert, ist bei Simic auf 1,86 mg/dl angestiegen, er sollte unter 1,2 mg/dl sein. Wenn Simic’ Nieren weiter abbauen, müssen die Ärzte eine Hämodialyse anordnen, die ihre Funktion ersetzt.
Georg Braun ruft am frühen Nachmittag Ana Simic an, weil er herausfinden möchte, ob bei ihrem Mann nicht doch eine Grunderkrankung vorliegt. Im Hintergrund schreit Marta. Ana Simic sagt, dass Goran sich die vergangenen Wochen etwas schlapp gefühlt habe, aber eigentlich gesund sei. Sie könne ihn immer anrufen, wenn ihr danach sei, sagt Braun. Er veranlasst ein Autoimmunscreening bei Simic, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen haben. Sie finden nichts.
Braun bleiben nicht viele Möglichkeiten. Das Hydroxychloroquin bringt nichts. Remdesivir, ein Wirkstoff gegen das Ebola-Virus, das als vielversprechendes Heilmittel gehandelt wird, ist nicht verfügbar. Braun beschließt in Absprache mit seinem Ärztlichen Direktor, zum ersten Mal einen Covid-19-Patienten am Universitätsklinikum Augsburg mit Rekonvaleszenzplasma zu behandeln.
Rekonvaleszenzplasma wird einem Patienten entnommen, der als genesen gilt, und soll wie eine passive Immunisierung wirken. Man gibt dem erkrankten Wirtsorganismus Antikörper zur Bekämpfung einer Infektion und hofft, dass die Antikörper die Reproduktion des Virus unterbinden.
Braun hat in einer Veröffentlichung aus China über den Einsatz von Rekonvaleszenzplasma bei Sars-CoV-2 gelesen. Es ist eine Therapie, die etwas bringen könnte und bei Sars und Mers erfolgreich angewandt wurde. Das Verfahren ist jedoch noch nicht ausreichend in kontrollierten klinischen Studien getestet und widerspricht Brauns Verständnis von evidenzbasierter Medizin. Es gilt als individueller Heilversuch und bedarf einer behördlichen Genehmigung. Bei vielen Patienten hat das Plasma nichts bewirkt.
Simic werden am Nachmittag über seinen zentralen Venenkatheter am Hals 200 Milliliter Rekonvaleszenzplasma verabreicht, eine gelbliche, klare Flüssigkeit.
Bevor Braun nach Hause fährt, bittet er seine Kollegen, ihn bei der kleinsten Komplikation anzurufen. Die Plasmagabe ist Neuland für ihn, ein Experiment. Er hat Angst, dass eine Nebenwirkung auftritt, die Goran Simic schaden könnte. »Diese Angst nimmt man mit heim«, sagt er.
Simic liegt auf dem Rücken und schläft. In seinem Blutkreislauf bekriegen sich jetzt die Antikörper eines vermeintlich Genesenen und das Virus. Sein Geist, seine Seele, seine Hoffnungen, all das, was man mit dem Menschsein verbindet, können nichts beitragen, um diesen Kampf zu gewinnen. Die Entscheidung, ob es eine Zukunft für Goran Simic gibt, wird in ihm, aber ohne ihn getroffen.

Tag 16 – Mittwoch, 8. April

Simic bekommt am Morgen noch einmal 200 Milliliter Rekonvaleszenzplasma. Wenn die Plasmatherapie nicht funktioniert, hat Braun nur noch eine letzte Option. Er würde Simic an die Ecmo anschließen lassen, die seine Herz-Lungen-Funktion für eine Weile übernehmen könnte.

Tag 17 – Donnerstag, 9. April

Um 6.30 Uhr sieht Georg Braun die ersten Laborwerte nach der zweiten Plasmagabe in seinem Büro. Simic’ Zustand hat sich verbessert. Das CRP ist auf 214 mg/l gesunken, die Bilirubin- und Kreatininwerte haben sich verbessert. Der Horowitz-Index ist auf 277 mmHg gestiegen. Auch klinisch macht Simic bei der Visite einen stabileren Eindruck.

Tag 18 – Freitag, 10. April

Das CRP ist auf 53,8 mg/l gesunken, das Kreatinin hat sich mit 0,93 mg/dl normalisiert. Simic braucht keine Dialyse. Die Kühlung mit dem Katheter wird beendet, das Fieber ist rückläufig.

 

Tag 19 – Samstag, 11. April

Ist das Immunsystem eines schwer kranken Menschen geschwächt, haben andere Krankheiten leichtes Spiel. Dann – oder wenn die Entzündungsreaktion des Körpers nicht mehr zu kontrollieren ist – sprechen Intensivmediziner von einem Second Hit, einem zweiten Schlag. Das kommt häufiger vor, zum Beispiel wenn bei einer Lungenentzündung ein Breitbandantibiotikum verabreicht wird, das die Darmflora zerstört und eine bakterielle Durchwanderung des Darms mit folgender Infektion auslöst.
Braun beunruhigt, dass sein Patient bei der Visite klinisch einen guten Eindruck macht, aber die Werte eine Entzündung anzeigen, die er nicht lokalisieren kann. Sein Ziel, Simic am Wochenende zu extubieren und ihn bald auf eine Normalstation verlegen zu lassen, gibt er auf.
Ana Simic geht zum ersten Mal wieder mit Marta spazieren. Sie hatte sich nach der Infektion ihres Mannes mit dem Kind 14 Tage in Quarantäne begeben. Zweimal brauchte sie eine Infusion, weil sie nicht essen konnte. Ihre Abstriche waren negativ. Goran hat sie seit elf Tagen nicht gesehen, seit acht Tagen nicht gesprochen.

Tag 20 – Sonntag, 12. April

Gegen 19 Uhr wird in Simic’ Zimmer Alarm ausgelöst. Der Pfleger, der für ihn zuständig ist, erkennt auf seinem Monitor, dass sich seine Vitalparameter rapide verschlechtern. Er rennt zum Zimmer 26, sieht durch das schmale Fenster in der Tür, dass der Patient sich im Bett bewegt, versucht aufzustehen. »Ich brauche hier einen scheiß Arzt, sofort«, schreit er, bevor er ins Zimmer stürzt.
Simic ist ungeplant aufgewacht. Man hatte über den Tag die Dosen der Vierfachsedierung, mit der er narkotisiert war, etwas vermindert, um den Aufwachprozess langsam einzuleiten. Das hat nicht funktioniert. Der Pfleger glaubt, dass sich der Charakter eines Patienten auch in der Narkotisierung nicht verbergen lässt. Simic kam ihm die ganze Zeit unruhig vor, wie ein Macher, der alles selbst erledigen will.
Simic hat seinen rechten Arm aus dem Gurt gerissen und den Schlauch vom Tubus entfernt. Die Beatmungsmaschine pustet Luft ins Zimmer. Simic könnte kritisch entsättigen, sich den zentralen Venenkatheter rausreißen, sich beim Aufstehen verletzen, weil er noch nicht wieder laufen kann.
Der Pfleger und der Arzt versuchen, ihn zu bändigen und zu beruhigen. Simic wird zusätzlich mit einem Bauchgurt fixiert und bekommt ein Beruhigungsmittel. Die Zeit des Komas ist vorbei.

Tag 21 – Montag, 13. April

Georg Braun in einer E-Mail am Morgen: »Hr. Simic ist auf einem sehr guten Weg, über den Berg ist er noch nicht.« Als Ana Simic nach zehn Tagen ihren Ehemann am Telefon spricht, siezt er sie.

Tag 24 – Donnerstag, 16. April

Goran Simic muss nicht mehr beatmet werden. Er hat kein Fieber mehr. Die Blutgerinnungs-, Leber- und Nierenwerte sind die eines gesunden Menschen.

Tag 27 – Sonntag, 19. April

Mit einer Computertomografie wird eine Lungenarterienembolie im rechten Unterlappen diagnostiziert. Es ist der Second Hit, den Braun lange nicht lokalisieren konnte.
Simic bekommt weiterhin Gerinnungshemmer und den Betablocker Bisoprolol, der seine Herzfrequenz verlangsamt, den Sauerstoffverbrauch mindert und ihn beruhigt.

Tag 33 – Samstag, 25. April

Goran Simic ist das erste Mal in seinem eigenen Bett aufgewacht. Gestern wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Mediziner bezeichnen Patienten, die den Aufenthalt auf einer Intensivstation überstehen, als Überlebende, nicht als Geheilte. In einem schweren Fall wie bei Simic könne es sein, dass der Patient das Geschehene monatelang verarbeiten muss, körperlich und psychisch, sagt Georg Braun. Die Muskeln, die Kondition müssten wieder aufgebaut werden; und wer könne garantieren, dass die Lungenfunktion nicht wieder abbaut? Viele litten unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Simic hat 13 Kilogramm verloren. Über den Augen und unter seinen Brustwarzen vernarben Wunden, Folgen der Lagerungsschäden der Bauchlage. Er wurde zweimal in 24 Stunden negativ getestet. Er ist erschöpft und unsicher, misstraut dem, was sich in seinem Körper abspielt, hat Angst, dass das Virus zurückschlägt.
Er habe im Delirium einmal geträumt, dass er entführt werde, sagt Simic, irgendwie fühle sich das jetzt auch so an.

Tag 53 – Freitag, 15. Mai

»Bloß nicht noch mal Covid!«, schreibt Simic per WhatsApp.
Vor ein paar Tagen bekam er starke Schmerzen, einen trockenen Husten und konnte nachts nicht mehr auf der Seite schlafen, weil es beim Atmen heftig in seinen Bauch und Rücken stach.
Um halb elf an diesem Morgen lässt sich Simic mit dem Taxi ins Klinikum Fürstenfeldbruck fahren. Er liegt nun auf Station 31. Sein CRP hat sich auf 106 mg/l erhöht. Er hat eine Rippenfellentzündung. Die Ärzte wissen nicht, ob das eine Folge von Covid-19 ist. Sie nehmen es aber an.
Am Tag des Redaktionsschlusses ist Goran Simic wieder zu Hause, immer noch erschöpft, immer noch ängstlich. Im August will er nach Kroatien, ans Meer.