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True Story Award 2021

Es begann mit einem Foto

Es begann mit einem Foto, hochgeladen am 19. Juli 2017 bei einem Messengerdienst. Als die Ermittler der Spur nachgingen, stießen sie auf weitere Bilder, auf immer mehr Männer, die Kindern sexuelle Gewalt antun. Sie stießen auf ein Geflecht, so lose wie riesig, für das heute der Name einer Stadt steht: Bergisch Gladbach.

Ganz am Anfang schien alles nur trauriger Alltag zu sein, Routine für Strafverfolger, die gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern kämpfen. Am 11. August 2017 erhielt das Bundeskriminalamt eine E-Mail. Sie stammte vom National Child Exploitation Coordination Centre, einer Koordinierungsstelle der kanadischen Polizei. Die Kanadier übermittelten ihren Kollegen eine Mailadresse, die ein deutscher Nutzer bei KIK hinterlegt hatte – einem Messengerdienst aus Kanada, den sich jeder umsonst auf seinem Handy installieren kann. Und sie hängten ein Bild an. Es zeigt ein etwa acht Jahre altes Mädchen, im Wasser kniend, das seinen Genitalbereich in Richtung des Betrachters streckt.

Beim BKA gehen pro Tag durchschnittlich fast 170 solcher Hinweise ein. Es dauerte einige Wochen, bis sich die Ermittler dem Bild widmeten. Im Januar 2018 standen Beamte des Polizeipräsidiums Nordhessen bei dem Mann vor der Tür, dem sich die Mailadresse zuordnen ließ. In seiner Wohnung fanden sie später etwa tausend Bilder, manche deutlich drastischer als das des Mädchens im Wasser. Der Mann, ein Lokführer Ende 30, war ein Sammler. Einer von denen, die Kinder nicht selbst missbrauchen, sondern Abbildungen horten, auf denen andere Männer es tun.

Juli 2020: Im Amtsgericht Kassel bittet der Angeklagte um eine milde Strafe. Es ist nicht das erste Mal, dass er wegen des Besitzes sogenannter Kinderpornografie belangt wird. Er gibt sich geläutert. »Hobbymäßig«, sagt er, »versuche ich in eine andere Richtung zu gehen.« Fitnessstudio, bessere Ernährung. Nach knapp fünf Stunden ist der Prozess in Saal E116 vorbei und der Sammler zu zwei Jahren Haft verurteilt. Weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, bleibt er vorerst auf freiem Fuß. Mit seiner Mutter verlässt er das Gericht.

Wie gesagt, trauriger Alltag eigentlich. Wäre da nicht »lila06789 Homer Simpson«.

So nannte sich ein anderer Nutzer auf dem Messengerdienst KIK. Die Ermittler kamen auf ihn, als sie das Handy des Lokführers aus Nordhessen auswerteten. Sie bemerkten: »lila06789 Homer Simpson« hatte ihm im Dezember 2017 ein Bild für seine Sammlung zugeschickt. Darauf ein anderes Mädchen, etwa sechs bis acht Jahre alt, in pornografischer Pose.

Die Ermittler finden heraus, wer »lila06789 Homer Simpson« ist und wo er wohnt: in Bergisch Gladbach, Nordrhein-Westfalen. Und dann blicken sie in einen Abgrund.

Der Online-Kontakt zwischen dem Lokführer und »lila06789 Homer Simpson« – er hat die größte Ermittlung wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik ausgelöst. Mit zeitweise 300 Polizeibeamten, neun Staatsanwälten und 40 zivilen Mitarbeitern allein in Nordrhein-Westfalen, die jeden Tag stundenlang grausames Bildmaterial sichten. Mit 116 bereits identifizierten Tatverdächtigen aus allen 16 Bundesländern. Mit 85 Terabyte sichergestellter Daten, das entspricht ungefähr 21 Millionen Fotos. Mit 48 befreiten Kindern.

»Wir stoßen auf so viele Fälle, dass wir sie kaum noch bewältigen können«, sagt der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul der ZEIT.

Die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime in Köln, bei der alle Fäden zusammenlaufen, spricht von 30.000 »digitalen Identitäten«, die man bislang ermittelt habe. Manche Täter legen sich mehrere solcher Online-Identitäten zu. Allerdings ist die Zahl nach Angabe der Behörde bereits um Dubletten bereinigt. Somit dürfte fast jede digitale Identität für einen einzelnen Täter stehen. 30.000. In ganz Deutschland sitzen aktuell knapp 60.000 Menschen wegen aller möglichen Delikte in Haft, Drogenbesitz, Betrug, Totschlag – und nur ein Bruchteil davon für Sexualstraftaten.

DIE TÄTER

Sommer 2017. Zu jener Zeit, als der Lokführer aus Nordhessen bei KIK das Bild hochlädt, trifft Thomas Matern* eine Entscheidung: Er findet, sein Kind ist nun alt genug für Oralverkehr. Das Kind liegt vor ihm auf dem Wickeltisch. Es ist noch kein halbes Jahr alt. (Den Kindern, um die es in diesem Artikel geht, ist von ihren Verwandten sexuelle Gewalt angetan worden. Um die minderjährigen Opfer zu schützen und ihre Wiedererkennbarkeit zu verhindern, sind die Namen aller Täter verändert worden: »Thomas Matern« ist ein Pseudonym. Außerdem werden die Kinder hier bewusst vage beschrieben.)

Laut Anklageschrift, die die ZEIT einsehen konnte, macht Thomas Matern Bilder von der Tat, wie er es in den kommenden zwei Jahren oft tun wird, wenn er sein Kind missbraucht. Wenn er auf dessen Körper ejakuliert. Wenn das Kind seine Hände um Materns Penis legen muss. Wenn Matern es auf seinem entblößten Unterleib auf und ab hüpfen lässt.

Thomas Matern ist der Mann, der sich auf KIK »lila06789 Homer Simpson« nennt.

Als er im Oktober 2019 in Bergisch Gladbach festgenommen wird, ist das ein großer Erfolg im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern. Es ist aber auch eine große Niederlage. Denn bei dem Lokführer in Hessen stand die Polizei ja schon mehr als anderthalb Jahre vorher vor der Tür. Es dauerte lange, bis die Staatsanwaltschaft Kassel im Handy des – vergleichsweise harmlosen – Lokführers Hinweise auf Thomas Matern gefunden und die Kollegen im anderen Bundesland alarmiert hatte. Von den Kasseler Ermittlern ist zu hören, der Fall des Lokführers sei im üblichen Tempo bearbeitet worden. Und so blieben Thomas Matern in Nordrhein-Westfalen anderthalb Jahre, um sein Kind zu missbrauchen. Der Bergisch-Gladbach-Komplex, er hätte früher ans Licht kommen können.

Was die Ermittler im Herbst 2019 auf Materns beiden Handys finden, eröffnet ihnen eine Welt, »die sich keiner von uns jemals hätte vorstellen können«, wie ein beteiligter Beamter der ZEIT sagt. Da sind, laut den Ermittlungen, mehr als 500 Zeugnisse der sexuellen Gewalt gegen das eigene Kind, 492 Fotos und 20 Videos. Und da sind Hinweise auf mindestens 20 weitere Täter. Mit ihnen hat Matern gechattet, hat mit ihnen Bilder getauscht und sich zu Verbrechen verabredet. Der Prozess gegen Matern soll am 10. August beginnen. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat ihn angeklagt, sein eigenes und weitere Kinder 67-mal sexuell missbraucht zu haben, in 48 Fällen schwer. Matern hat sich zu den Vorwürfen bisher nicht eingelassen, sein Anwalt ließ Anfragen der ZEIT unbeantwortet.

In Deutschland ist sexuelle Gewalt an Kindern lange als Randphänomen abgetan worden. Die Täter? Sadisten, Verrückte, Monster. Spätestens jetzt aber zeigt sich: Diese Art der Gewalt gehört zur Normalität in Deutschland, und die Täter kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Es sind eben nicht nur verwahrloste Männer, die in zugemüllten Campingwagen hausen. Es sind Familienväter, Onkel und Nachbarn. Köche, Soldaten, IT-Spezialisten. Männer mit geregeltem Einkommen, Freunden, Ehefrauen. Es sind Männer, die sich im Internet über ihre Gewaltfantasien unterhalten wie andere Menschen über Kochrezepte. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in Deutschland eine Million Mädchen und Jungen sexuelle Gewalt erlebt haben oder aktuell erleben. Das wären ein bis zwei Kinder pro Schulklasse.

Staufen. Lügde. Münster. Nun Bergisch Gladbach. Lauter Ortsnamen, lauter Chiffren für eine Welt, in der Erwachsene Kinder vergewaltigen, erniedrigen, sie zur eigenen Befriedigung ihrer Würde berauben. Eine Welt, in der die Kinder getauscht werden wie Waren und die Männer sich im Internet gegenseitig anfeuern, immer noch mehr zu liefern: mehr Bilder, mehr Videos, mehr Erfahrungsberichte. Man könnte denken, all das geschehe im Geheimen. Die großen Online-Tauschplattformen für Darstellungen brutaler Verbrechen an Kindern, die in der Vergangenheit ausgehoben wurden, operierten ja klandestin, in den Tiefen des Darknets. Elysium, Welcome to Video, Playpen: weltumspannend, schwer zugänglich, hochgradig verschlüsselt.

Und jetzt, beim Bergisch-Gladbach-Komplex?

Die Ermittler beschreiben die Struktur, die sie seit vergangenem Herbst ausleuchten, als »Geflecht«. Ohne Kopf, ohne Hierarchien, viel weniger organisiert als ein kriminelles Netzwerk. Auch Thomas Matern, dessen Wohnort diesem Geflecht in der Öffentlichkeit seinen Namen gegeben hat, ist darin nur ein Knotenpunkt unter vielen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, bleibt den Ermittlern nur ein Weg: Ausgehend von Matern, arbeiten sie sich derzeit von einem beschlagnahmten Mobiltelefon zum PC des nächsten Täters vor, der wiederum neue Spuren zu anderen Chatpartnern offenbart, und immer so weiter. Denn dies ist es, woraus das Geflecht überhaupt erst besteht: aus dem Austausch der Verdächtigen untereinander – auf legalen, für jeden nutzbaren digitalen Plattformen.

Manchmal sind da nur zwei, die direkt miteinander Kontakt haben. Manchmal sind da mehr als tausend Männer in einer Chatgruppe.

Ein Ermittler spricht von der »Banalität des Bösen«, Hannah Arendt zitierend. Die Täter sind auf Messengerdiensten unterwegs, die fast jeder kennt und viele selbst benutzen. Auf Skype, Facebook Messenger, Threema. Sie machen sich gar nicht erst die Mühe, ins Darknet zu verschwinden, um ihre Verbrechen an Kindern zu verschleiern.

Allein Facebook löscht weltweit nach eigenen Angaben pro Monat durchschnittlich rund drei Millionen Bilder und Videos von seinen Servern, auf denen »Nacktdarstellungen und sexueller Missbrauch von Kindern« zu sehen sind. Die meisten international agierenden Anbieter von sozialen Netzwerken, Mail- und Messengerdiensten verfügen über automatische Prüfsysteme. Schlagen die an, kann das Bild nicht weiterverbreitet werden.

Allerdings bieten die meisten Dienste inzwischen auch eine sogenannte Ende-zu-Ende- Verschlüsselung an. Der Vorteil: Die Privatsphäre und die Daten der Nutzer werden vor dem Zugriff der Unternehmen geschützt. Der Nachteil: das Gleiche. Bilder, die auf diesem Weg ausgetauscht werden, bleiben für die Betreiber unsichtbar. Das Angebot, ohne großen technischen Aufwand verschlüsselt online zu kommunizieren, macht es sexuellen Gewalttätern immer leichter.

Zwar gibt es keine Belege dafür, dass das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen hätte. Doch sinkt nach Ansicht von Experten mit den Möglichkeiten der Digitalisierung die Hemmschwelle für Täter, sich über Gewalt an Kindern auszutauschen. Es ist, als wäre das Netz für sie ein sicherer Raum, in dem ihre Taten legitimiert werden. Da sind ja schließlich Tausende, die genauso denken und handeln. Eine Community.

Thomas Matern war nicht nur »lila06789 Homer Simpson« bei KIK.

Er war auch »Bullseye« bei Threema.

Bei Telegram gab er einfach nur seinen Vornamen an.

Bei WhatsApp nannte er sich »Zauberjogi«.

31. Januar 2019. Ein Dreivierteljahr vor seiner Festnahme fährt Thomas Matern, Anfang 40, mit seinem Kleinkind zu einem Wellness-Bad in Essen. Dort trifft er einen Mann, der in der Nähe lebt und mit dem sich »Zauberjogi« nach Ansicht der Staatsanwaltschaft per WhatsApp verabredet hat. Auch Dennis Hohmann* bringt sein kleines Kind mit. Sie mieten eine Suite mit Whirlpool und Sauna, dort befriedigen sie sich zunächst gegenseitig mit der Hand, wobei es ihnen darauf angekommen sei, dass die beiden Kleinkinder »sie hierbei wahrnahmen«, wie es in der Anklageschrift gegen Matern heißt. Anschließend vollzieht Matern Oralverkehr an dem auf einer Liege weilenden Hohmann, während dieser Materns Kind im Genitalbereich angefasst haben soll.

Im April 2019 gibt es ein weiteres Treffen dieser Art. Für ein geplantes drittes Treffen hat Hohmann laut eigener Aussage ein Dildo-Set und Matern laut Anklage Reizwäsche für die Kinder besorgt. Dazu kommt es dann nicht mehr.

Das Haus der Familie Matern, Mutter, Vater, Kind, steht an einer kleinen Straße in Bergisch Gladbach. Es ist umgeben von Bäumen und reichlich Grün, im Vorgarten blühen Rosen. Drinnen soll Matern seine Taten vor allem in den Morgenstunden begangen haben. Im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Planschbecken im Garten. Zu dieser Zeit war seine Frau bei der Arbeit. Er selbst übernahm oft Nachtschichten als Pförtner. »Habe meist vorm Kindergarten Zeit zum schmusen«, schrieb er in einem Chat an drei User.

Seine Frau, davon sind die Ermittler überzeugt, habe nichts von den Taten gewusst. Bei der Polizei schildert sie ihren Ehemann als liebevoll, fürsorglich, hilfsbereit, »immer für die Familie da«. Ein sexueller Gewalttäter, getarnt als treusorgender Ehemann und Vater. Es ist ein Muster, das den Ermittlern ständig begegnet: der Mann aus scheinbar bürgerlichen Verhältnissen Der Mann, der morgens seinem Kind Gewalt antut, mittags im Internet Bilder davon verbreitet und abends mit seiner ahnungslosen Ehefrau schläft.

Jack Kreutz, langjähriger Chefarzt der Forensik in der LVR-Klinik Bedburg-Hau, hat in seiner Karriere mehrere Hundert Missbrauchstäter begutachtet und therapiert. Er sagt, oft seien die Täter die vermeintlich Netten, also die, von denen es niemand vermutet hätte. Hinter der Fassade der Unauffälligkeit und der sozialen Integration verbergen diese Männer nicht selten seelische Verletzungen, die Jahrzehnte zurückreichen. Sie haben einerseits ihr Leben im Griff, gleichzeitig reproduzieren sie die eigene Vergangenheit. Kreutz nimmt an, dass mindestens 50 Prozent der Täter als Kind selbst sexuellen Missbrauch erlebt haben. So gesehen, wäre die sexuelle Gewalt gegen Kinder ein System, das sich selbst am Leben erhält.

Thomas Matern zum Beispiel: In der Anklageschrift steht, zahlreiche Hinweise deuteten darauf hin, dass er im Alter von zehn Jahren missbraucht wurde. Von einem Nachbarsjungen.

Als Jugendlicher hat er dann offenbar anderen Kindern sexuelle Gewalt angetan – dieser Verdacht hat sich laut Anklage in den Ermittlungen verdichtet. So habe er im Internet stolz von einem Jungen berichtet, den er bereits vor 25 Jahren missbraucht habe – und an den er »gern zurückdenke«. Auch in der eigenen Familie habe er vor langer Zeit ein Kind vergewaltigt, wohl über Jahre hinweg, wie dieses den Behörden bestätigte. Diese Fälle sind verjährt. Dennoch droht Matern nach Informationen der ZEIT im Anschluss an die zu erwartende Haftstrafe die Sicherungsverwahrung, wegen seines perfiden und konspirativen Vorgehens in jüngster Zeit.

Bereits vor der Geburt seines eigenen Kindes, so die Überzeugung der Ankläger, habe er im Internet davon fantasiert, ihm Gewalt anzutun. Wenn es stimmt, was sie herausgefunden haben, dann hatte Matern einen Plan, er wollte sein Kind über Jahre hinweg »an ein aktives Ausleben erwachsener Sexualität« regelrecht gewöhnen. Er habe es so erziehen wollen, dass es die Initiative ergreife. In einem Chat schrieb er: Wenn das Kind »freiwillig ankommt (...) ist das für mich genau der richtige und sichere Weg«, dass es »nicht quatscht und alles auffliegt«.

Solche Sätze offenbaren: Tätern wie Matern ist bewusst, dass sie Verbrechen verüben. Liest man, was die Ermittler zusammengetragen haben, und spricht mit Experten wie dem Psychiater Jack Kreutz, dann stößt man auf einen Widerspruch. Es scheint, als wendeten die Männer aus dem Bergisch-Gladbach-Geflecht erhebliche psychische Energien auf, um sich selbst und anderen einzureden: Wir sind doch nur von unserem Nachwuchs verführt worden. Wir erfüllen doch nur die sexuellen Wünsche unserer Kinder. Sie wehren sich ja nicht, also wollen sie es auch. Thomas Matern schrieb seinen Chatpartnern, wie »kindgerecht« das sei, was er mache. »Du glaubst gar nicht wie versaut die kleinen teilweise sind.«

Freiwillig und einvernehmlich? Mit einem Kleinkind? Ein Tatverdächtiger schrieb in einem Chat, er dürfe dem Kind keine zu großen Schmerzen zufügen, solange es noch bei der Mutter lebe. Eine Zeugin sagte aus, sie habe durch die Wohnungswand eines inzwischen angeklagten Mannes tief in der Nacht ein wimmerndes und klagendes Mädchen gehört.

Jack Kreutz, der forensische Psychiater, ist überzeugt: Den Tätern kann nur durch langfristige Therapien geholfen werden. »Der Missbrauch beginnt im Kopf, in der Fantasie. Und genau dort muss man ansetzen.«

In den ersten Sitzungen versucht Kreutz, beim Täter Empathie für das Opfer herzustellen. Er will, dass der Täter tatsächlich begreift, was er den Kindern angetan hat. Dass er sie nicht nur körperlich verletzt, sondern ihre Seelen vernarbt und vielleicht sogar ihr ganzes Leben verpfuscht hat. »Die meisten Täter haben anfangs keinerlei Schuldbewusstsein«, sagt Kreutz, der auch Dennis Hohmann, die WhatsApp-Bekanntschaft von Thomas Matern, begutachtet hat. Hohmann wurde Ende Mai zu zehn Jahren Haft verurteilt und in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen.

Eine erfolgreiche Therapie brauche viel Zeit, sagt Kreutz. Es dauere durchschnittlich 20 Jahre, bis ein Täter behutsam an das Leben in Freiheit herangeführt werden könne. Nur etwa ein Prozent der in der Forensik erfolgreich behandelten Miss brauchstäter würden rückfällig. Bei Tätern ohne Therapie, mit reiner Gefängnisstrafe, liege die Quote bei bis zu 50 Prozent.

DIE ERMITTLER

Am 6. November 2018 trifft der Innenminister von Nordrhein-Westfalen zu einem Routinebesuch beim Landeskriminalamt ein. Zunächst ist alles wie immer. Herbert Reul schüttelt ein paar Hände, er bekommt Mitarbeiter vorgestellt, die neueste Einsatztechnik vorgeführt. Doch diesmal hat Reuls Abteilungsleiterin ihm empfohlen, auch die Ermittler zu besuchen, die gegen Pädokriminalität im Einsatz sind. Die zeigen dem Minister einen Film. Und noch einen. Und noch einen. Die Bilder, sagt er, verfolgen ihn bis heute.

Herbert Reul ist 67 Jahre alt und seit fast 50 Jahren CDU-Mitglied. Er hat viel erlebt in seinem politischen Leben. Er war im April 2018 in Münster, kurz nach der Amokfahrt mit vier Toten und mehr als 20 Verletzten. Doch diese Filme, Reul stockt, »wie Männer kleine Kinder vergewaltigt haben, angepackt haben, gequält haben: Es waren Sachen dabei, von denen ich dachte, das gibt es gar nicht«. Er zögert, weiterzusprechen. Dann sagt er: »Am schlimmsten waren die Szenen, wenn die Kinder sich wehrten und weinten oder schrien.«

Nach diesem Tag im November 2018, sagt Reul, habe er eine Entscheidung getroffen: »Jetzt ist Schluss!« Bald darauf wird der Missbrauchsskandal von Lügde bekannt, die jahrelange sexuelle Gewalt gegen Dutzende Mädchen und Jungen auf einem Campingplatz, das Wegsehen der Behörden, das Versagen auch von Reuls nordrhein-westfälischer Polizei. Der Innenminister ist deshalb bis heute unter Druck, seit Monaten läuft im Düsseldorfer Landtag ein Untersuchungsausschuss.

Reul sagt, er habe nach Lügde die Chance gesehen, »das Ganze auf den richtigen Weg zu bringen«. Die Polizei soll nicht mehr nur mit ein paar Taschenlampen in die dunklen Ecken leuchten. Sie soll Flutlichter aufstellen.

Reul nordet seine Polizeichefs ein. Er organisiert staatliche Gelder für mehr Personal und eine bessere technische Ausstattung. Er lädt den Innenausschuss des Landtags ins LKA ein, damit auch dessen Mitglieder die Filme anschauen können. Das habe der Sache sehr geholfen, sagt Reul. »Wenn du keine Maschine bist, dann lässt dich das nicht mehr los.«

Seither treiben Reuls Ermittler Pädokriminelle vor sich her. Hubschrauber landen in der ganzen Republik, Spezialeinsatzkräfte brechen Türen auf und fassen Verdächtige. Beweismittel werden durchs Land geflogen, um am nächsten Ort zugreifen zu können. »Schnelligkeit ist der Schlüssel«, sagt Reul, »denn permanent werden Kinder missbraucht. Wenn man sich wochenlang nur auf einen einzelnen Fall konzentriert, dann ist an anderer Stelle schon längst wieder etwas passiert.«

Alle Ermittler und Experten, mit denen die ZEIT über Herbert Reul gesprochen hat, äußern sich anerkennend: Dieser Mann meint es wirklich ernst. Reul selbst sagt: »Bergisch Gladbach hat unseren Blick dafür geschärft, wie enorm weit sich die Kreise der Täter verzweigen können.« Der Weg dahin, endlich so gründlich wie möglich gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern vorzugehen, sei aber noch weit. »Ich habe das auch lange nicht ernst genug genommen.«

Hat es damit zu tun, dass sich viele Menschen nicht vorstellen können oder wollen, was da täglich in Deutschland passiert? Der Innenminister sagt, er habe noch nie jemandem genau beschrieben, was er gesehen hat, damals, im November 2018. »Da scheue ich auch vor zurück, da habe ich Hemmungen. « Doch eigentlich müsse man es beschreiben. »Sonst werden die Menschen es nicht so richtig im Herzen verstehen.«

Auch Fachleute für Kinderschutz, mit denen die ZEIT gesprochen hat, finden es wichtig, die brutale und menschenverachtende Gewalt genau zu benennen – damit das Ekelhafte ihres Tuns nicht zum Schutz für die Täter wird. Deshalb sollen in der folgenden Passage einige wenige Taten aus dem riesigen Bergisch-Gladbach-Komplex aufgezählt werden. Sie sind von den Behörden ermittelt und – zum Teil deutlich drastischer und expliziter – in Anklageschriften dokumentiert worden. (Eine Warnung: Obwohl bereits abgemildert, können die folgenden fünf kurzen Absätze verstörend wirken – und bei Betroffenen ein erneutes Trauma auslösen.)

Die Grundschülerin habe Oralverkehr an dem Tatverdächtigen vornehmen müssen, der Mann habe dabei ihre Haare zurückgehalten, während das Kind selbst zwei Fotos der Tat aufnahm.

Das Kind habe selbst Vaseline auf seinen Anus auftragen müssen, der Tatverdächtige habe es daraufhin anal vergewaltigt.

Der Tatverdächtige ejakulierte mehrfach in den Frühstücksbrei der Geschädigten, bevor er ihr diesen zum Verzehr vorsetzte. Das dokumentierte er auf Fotos, die er an mehrere Chatpartner versandte.

Der Tatverdächtige schreibt einem Chatpartner über die eigene Tochter, mit »dem Spray« werde die Vergewaltigung einfacher. Ermittler finden in seiner Wohnung Entkrampfungsspray für Analverkehr. Der Mann bestreitet, es angewendet zu haben.

Das Kind habe mit der Playstation gespielt, der Tatverdächtige habe zwischen seinen Schenkeln gekniet und Oralverkehr vorgenommen, während das Kind weiter Playstation spielte.

Im Düsseldorfer Landeskriminalamt arbeiten Menschen, die sich seit Monaten Bilder und Videos solcher Taten ansehen, Montag bis Freitag, jeden Tag fünf Stunden. Manchmal sei es der Ton, der kaum zu ertragen sei, sagt Sven Schneider. Vor Schmerz weinende Kinder, vor Schmerz schreiende Kinder, vor Schmerz brüllende Säuglinge. Sven Schneider sitzt in einem Konferenzraum im ersten Stock. Der Kriminaloberrat, 45 Jahre alt, leitet seit 2018 die Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornografie.

Seit vergangenem Jahr gehören auch zivile Auswerter zu seinem Team, Menschen, die mit Polizeiarbeit nie etwas zu tun hatten. Weil die Beamten allein es einfach nicht mehr schaffen, die Datenmassen aus dem Bergisch-Gladbach-Komplex zu bewältigen. Drei Ermittler sind über der Auswertung der Bilder dauerhaft krank geworden. Einige andere konnten den Dienst nur nach psychologischer Betreuung wieder aufnehmen.

Auf die erste Ausschreibung im vergangenen Jahr bewarben sich 150 Interessenten, 20 überstanden das zweitägige Auswahlverfahren. Testen der Konzentrations-, Aufnahme- und Merkfähigkeit, einstündiges Interview mit Psychologen. »Natürlich müssen wir diese Menschen durchleuchten, ihre Lebensumstände kennen«, sagt Schneider. Gibt es eine »Coping-Strategie«, die ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten? Ein soziales Umfeld, das sie auffangen kann? Menschen, die allein und zurückgezogen leben, seien ungeeignet.

Übrig geblieben sind überwiegend Akademiker. Germanisten, Politikwissenschaftler, Juristen, Soziologen, aber auch Rechtsanwaltsfach- und Verwaltungsangestellte. Inzwischen 40 Frauen und Männer, die für Journalisten nicht zu sprechen sind. Laut Sven Schneider gibt es etwas, das sie eint: Sie alle haben sich gemeldet, weil sie mithelfen wollen, die Kinder von ihrem Leid zu befreien. So schauen sie sich nun jeden Tag Bilder an, die »über die Vorstellungskraft hinausgehen«, wie Schneider sagt. »Wenn man glaubt, dass das Eindringen in ein Kind schon das Schlimmste ist, was man sich denken kann, hat man sich getäuscht.«

Schneider sagt das, weil auch er überzeugt ist, dass zu lange verschwiegen wurde, worum es wirklich geht. Und das seien eben nicht Bilder von nackten Jungen und Mädchen am Urlaubsstrand.

Seine Leute überprüfen die Bilder und Videos nach markanten Punkten, die Ermittlungsansätze bieten könnten, um Taten aufzuklären, die vielleicht bis heute andauern – noch ist ja erst ein Bruchteil der Verdächtigen identifiziert. Ist da eine spezielle Tapete im Hintergrund zu sehen? Wenn ja, wann wurde sie produziert, wo wurde sie hauptsächlich verkauft? In welcher Region wachsen die Bäume, die im Video durch die Fensterscheiben zu sehen sind? Welche Kleidung tragen Täter und Opfer? Gibt es auffällige Tätowierungen oder Leberflecken? »Jede Einzelheit kann wichtig sein«, sagt Schneider.

Reuls Betroffenheit nach Ansicht der Videos, kurz darauf der Skandal von Lügde – vor dieser Zeitenwende gab es in ganz Nordrhein-Westfalen bei den Polizeidienststellen 105 Sachbearbeiter für Pädokriminalität. Auf zwei Beamte kamen zwei Millionen Missbrauchsbilder. Inzwischen sind es mehr als 250 Sachbearbeiter, allein Schneiders Auswerterstelle wuchs von elf auf 58 Mitarbeiter an, und das LKA Nordrhein-Westfalen ist bundesweites Vorbild. Die Bilderberge sind dennoch kaum zu bewältigen. Der Datenbestand mit verdächtigem Material aus allen Fällen der vergangenen Jahre ist auf drei Petabyte angewachsen. Das entspricht 3000 Festplatten mit einer handelsüblichen Speichermenge von jeweils einem Terabyte, oder 750 Millionen Bildern. »Durch all das müssen wir durch.«

Schneider erzählt von einer Bilderserie, die ihn besonders umtreibt. Anfangs sei das Kind fünf, am Ende 15 Jahre alt gewesen. Man könne sehen, wie es mit dem Missbrauch aufgewachsen ist. »Es ist kaum zu ermessen, was dieses Kind durchmachen musste, ohne dass ihm jemand helfen konnte«, sagt Schneider. »Die Handlungen wirkten über die Jahre immer eingespielter, wie nach einem Drehbuch. Fast so, als wäre das alles normal.«

DIE OPFER

Im holzgetäfelten Schwurgerichtssaal des Landgerichts Mönchengladbach sitzt an einem Freitagmittag im Juni Claudia Kless*, eine Frau Anfang 30, und weint hemmungslos. Ihr Kind sei immer lebensfroh gewesen. »Ein Herzensmensch, total liebevoll.« Ihre Stimme erstickt fast, als sie darüber sprechen soll, was dem Kind, das heute im Grundschulalter ist, angetan wurde.

Wenige Meter entfernt sitzt der Vater des Kindes, Stefan Bolz*, Ende 30. Er ist einer der Tatverdächtigen, auf die die Bergisch-Gladbach-Ermittler stießen, als sie sich im digitalen Geflecht vom ersten wichtigen Knotenpunkt aus weiterbewegten: von Thomas Matern. Stefan Bolz zählt zu den mindestens 20 Männern, mit denen Matern gechattet hat. Nur zwei Wochen nach der ersten Durchsuchung bei Matern wurde er festgenommen. Apathisch lässt er im Gericht seinen Kopf hängen.

Claudia Kless berichtet von einer schwierigen Beziehung. Eigentlich habe Stefan Bolz »immer nur am PC gesessen und gechattet«. Nach der Geburt des Kindes sei er dann wie ausgewechselt gewesen: Sie habe das Baby »gar nicht mehr gekriegt«, weil er es »immer auf dem Arm halten wollte«. Schon bald zerbricht die Ehe. Stefan Bolz, so sagt es Claudia Kless, habe das zuständige Jugendamt in Krefeld überzeugt, das Kleinkind bei sich behalten zu dürfen. Die Mutter, die gerade eine Ausbildung absolvierte, sah es zunächst nur an den Wochenenden.Schon damals seien da Anzeichen gewesen, dass das Kind in Gefahr sei. Es habe »viel Verstopfung« gehabt.

Als gleichaltrige Kinder längst sauber sind, kotet ihres weiter ein. Im Kindergartenalter klagt es über Brennen im Genitalbereich. Merkwürdige Symptome, gegen die weder Ärzte noch Therapeuten ein Mittel finden.

Etwas stimmt nicht, merkt die Mutter. Aber was? Ist es die Trennung? Der Streit der Eltern darüber, bei wem das Kind aufwachsen soll? Liegt es an Stefan Bolz? An jemand anderem?

Im Jahr 2013, so die Aussage von Claudia Kless vor Gericht, habe das Krefelder Jugendamt einen anonymen Brief erhalten: Das Kind werde sexuell missbraucht. Das Amt sei der Sache nachgegangen und habe herausgefunden, dass der Vater von Stefan Bolz einschlägig vorbestraft sei. Natürlich, sagt Claudia Kless, habe sie ihrem Kind den Kontakt zum Großvater verboten, nachdem sie davon erfahren hatte.

Aber ihr Kind habe weiter eingenässt und eingekotet. Sei in der Schule schlecht mitgekommen. Sei »extrem unkonzentriert, extrem hibbelig, sehr aufgedreht« gewesen.

Im März 2016 setzt Claudia Kless bei ihrem Ex-Mann durch, dass ihr Kind zu ihr zieht und nur jedes zweite Wochenende beim Vater verbringt. Vor Gericht schildert sie verstörende Erinnerungen an diese Zeit: wie das Kind ihr davon erzählte, dass der Vater sich an seinem Po zu schaffen mache. Wie sie das Kind einige Monate später nackt auf dem Fußboden ihrer Wohnung gefunden habe, auf seinem Bauch der Hund der Familie. Das macht der Papa auch mit mir, habe es erklärt. Und weiter: Es sei beim Vater in der Badewanne gewesen, später auf der Couch habe es auf dem nackten Vater gelegen. Er habe es auf sich hoch und runter geschoben.

»Das habe ich dem Jugendamt erzählt«, sagt Claudia Kless. »Aber die haben mir nicht geglaubt. Die haben mich gar nicht ernst genommen.«

Das Krefelder Jugendamt äußert sich auf Anfrage der ZEIT nicht zu diesem Fall.

Es sind Szenen wie aus einem bösen Traum: Eine Mutter ahnt, dass ihr Kind in Gefahr ist, doch sie kann es nicht retten. Im Gegenteil, je mehr sie um das Kind kämpfte, desto mehr habe es sich an den Ex-Mann geklammert. Habe ihn zuletzt »vergöttert«, sei ihr gegenüber »richtig kalt« gewesen. Vergangenes Jahr habe es gefordert: »Ich will zu Papa ziehen.« Ratlos habe sie eingewilligt, sagt Claudia Kless. Von Dezember 2019 an hätte das Kind wieder bei Stefan Bolz leben sollen. Im November nahm die Polizei ihn fest.

Warum verstanden Institutionen, die für den Schutz des Kindes zuständig waren, keines der Signale? Warum musste erst die Online-Spur zu Thomas Matern auftauchen? Warum verstrichen Jahre?

Experten warnen, oft würden Hinweise betroffener Kinder nicht wahrgenommen. Kindern fehlten die richtigen Worte für das, was sie durchlebten – von sich aus würden sie aber einen sexuellen Missbrauch nicht einfach erfinden. Im Verdachtsfall solle man niemals den potenziellen Täter konfrontieren. Er könnte sonst den Druck auf sein Opfer erhöhen.

»Es gibt keine Checklisten, die man abhaken und damit Missbrauch erkennen kann«, sagt Jörg Fegert, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Uni-Klinik Ulm. Je nach Alter reagieren die Opfer sehr unterschiedlich, erklärt Fegert. Kleinere Kinder bleiben häufig in der Entwicklung zurück. Schulkinder liefern manchmal schlechtere Leistungen ab – manchmal aber auch bessere, wenn die Schule für sie ein Ort der Geborgenheit ist. Am ehesten, sagt Fegert, kann man einen Missbrauch am sexualisierten Verhalten von Kleinkindern erkennen: wenn sie Worte gebrauchen oder Handlungen nachahmen, die sie eigentlich nicht kennen sollten. Aber selbst das ist Fegert zufolge nicht immer ein klarer Hinweis. »Der einzige biologisch eindeutige Beweis ist, wenn man unmittelbar nach einem Missbrauch Sperma am Kind oder an der Kleidung findet.«

Das ist das Perfide an der sexuellen Gewalt gegen Kinder. Dass die Opfer Kinder sind, die sich nicht richtig mitteilen können. Dass die Täter sich das So-Sein der Opfer zunutze machen, um ihre Taten zu verdecken. Manche Kinder würden »regelrecht in den Missbrauch hineinsozialisiert«, sagt Fegert. »Sie kennen gar nichts anderes, als regelmäßig missbraucht zu werden.« Für sie werde der Missbrauch zu einer »Scheinnormalität«. So wie es Thomas Matern für sein Kind geplant hatte.

Wo die Gewissheiten fehlen, wo es keine Chats und keine Bilder gibt, da öffnet sich der Raum für Vermutungen und Anschuldigungen. Wenn Mann und Frau bei einer Scheidung erbittert um ihr Kind kämpfen, kommt es vor, dass einer der Ex-Partner Missbrauchsvorwürfe gegen den anderen erfindet. Manchmal wird die Gewalttat also nur herbeifantasiert. Aber oft stimmt der Vorwurf eben auch.

Hielt das Krefelder Jugendamt Claudia Kless für eine dieser Problemmütter, die im Streit um das Kind zur schärfsten Waffe gegen den Ex greifen?

Knapp zwei Wochen nach ihrer Aussage vor Gericht ist sie in die Kanzlei ihrer Nebenklageanwältin gekommen. Sie hat sich entschlossen, der ZEIT von ihren Erfahrungen mit dem Amt zu berichten. Ihr Anliegen ist es, das bekannt zu machen, was sie als Behördenversagen wahrnimmt.

Die Fallakte des Krefelder Jugendamts umfasst nach Angaben der Anwältin 660 Seiten. Alle möglichen Stellen beschäftigten sich mit der Frage, wie dem Kind am besten geholfen werden könnte. Viele Fachleute bemühten sich ernsthaft. Nur wollte offenbar niemand daran glauben, dass Stefan Bolz ein sexueller Gewalttäter sein könnte.

Gemeinsam gehen die Frauen in der Kanzlei einzelne Schriftstücke durch, lesen Passagen vor. Claudia Kless wies demnach schon 2016, drei Jahre nach dem anonymen Brief und drei Jahre vor der Festnahme ihres Ex-Manns, wiederholt auf Indizien für einen Missbrauch durch Stefan Bolz hin.

Die Haltung der Jugendamtsmitarbeiterin sei gewesen: »Frau Kless, wie können Sie ihm so etwas unterstellen?«, so jedenfalls erinnert sich Claudia Kless. Ihr Ex-Mann habe immer schockiert getan, alles abgestritten, das Kind als Lügner hingestellt. Und die Sachbearbeiterin sei auf ihn hereingefallen, wieder und wieder.

In ihrer Hilflosigkeit stellt Claudia Kless ihr Kind bei einer Kinderpsychotherapeutin vor. Die befasst sich 25 Behandlungsstunden lang mit ihm – und sieht laut Kless keine Indizien für einen Missbrauch. Es leide vermutlich an der Aufmerksamkeitsstörung ADHS.

Dann wird das Kind stationär in einer Kinderpsychiatrie aufgenommen. Doch was es beim Vater durchleben muss, erkennt auch dort offenbar niemand. Claudia Kless wendet sich an das Jugendamt: Sie werde das Kind jetzt nicht mehr zu ihrem Ex-Mann lassen. Damit würde sie sich strafbar machen, habe das Jugendamt sie gewarnt. »Man hat mir als Mutter das Recht entzogen, mein Kind zu schützen«, sagt Claudia Kless.

Nach Bolz’ Festnahme am 5. November 2019 stellen die Ermittler mehr als 10.000 kinderpornografische Videos und 20.000 Bilddateien in seiner Wohnung sicher. Einige davon hat er selbst aufgenommen. Von sich und seinem Kind. Stefan Bolz hat umfassend gestanden.

Auf seinem Computer entdecken Ermittler auch Aufnahmen eines anderen Kindes, für das er einen Unterordner angelegt hat: »nice/nice/nice/« – und dann ein Vorname. Dieses Kind hat einen Onkel, er ist eine Online-Bekanntschaft von Stefan Bolz aus der Nachbarstadt Viersen. Bolz hat ihn 2017 über ein »Inzest«-Gesuch in einem Forum kennengelernt, nicht im Darknet, sondern im normalen, für alle zugänglichen Netz. In welchem Forum genau, weiß Bolz nicht mehr – er hat sich nach eigenen Angaben »über eine Gruppe in die nächste geklickt«.

Der Onkel und Stefan Bolz sollen sich laut Staatsanwaltschaft über WhatsApp, Skype und Telefon verabredet haben, um sich die beiden Kinder wechselseitig für sexuelle Gewalttaten zur Verfügung zu stellen.

Nur Stunden nach dem Zugriff bei Stefan Bolz in Krefeld schlägt die Polizei im November 2019 in Viersen zu. Die zwei Männer sind jetzt gemeinsam in Mönchengladbach angeklagt.

So geht es seit Monaten. Mit jeder Verhaftung, jedem beschlagnahmten Smartphone erkennen die Ermittler neue Verästelungen des gigantischen kriminellen Geflechts.

Nur drei Tage nach der Festnahme des Onkels steht die Polizei in einem Ort bei Aachen vor der Haustür eines Bekannten der Familie. Auch er ein sexueller Gewalttäter.

Die Chats von Stefan Bolz bringen die Ermittler auch auf die Spur eines Familienvaters aus Berlin, der über Skype mit ihm beratschlagt hat, ob man die Kinder für Sexualstraftaten tauschen könnte. Der Berliner ist nach ZEIT- Informationen schon 2019 wegen sexueller Gewalt an seinem eigenen Kind verurteilt worden und sitzt bereits in Haft. Nun ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft aufs Neue gegen ihn.

Im Mai 2020 greifen Spezialkräfte bei einem mutmaßlichen Chat-Administrator im Schwarzwald zu. Im Juni durchsucht die Polizei die Wohnung eines Mannes auf der ostfriesischen Insel Norderney.

Neun Monate nach der Festnahme von Thomas Matern in Bergisch Gladbach werden nahezu im Wochentakt irgendwo in Deutschland Razzien angeordnet und Männer festgenommen.

Keine 200 sind gefasst. Von 30.000. Und das ist nur ein Geflecht. Wie viele gibt es noch?

* Name geändert